Efeu - Die Kulturrundschau

Auf Romanverführer reagiert mein Körper allergisch

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26.10.2019. Die Literarische Welt beobachtet unbehaglich, wie sich die westdeutsche Kulturbourgeoisie Hubert Fichte einverleibt. Die SZ trifft einen heiteren Woody Allen, der immer noch "Pictures" macht. Hyperallergic bewundert die kühnen marokkanischen Frauen in den Fotos von Hassan Hajjaj. Die FAZ reist durch die Theaterlandschaft Thüringens. Zeit online wird von Kanye West in Grund und Boden hallelujat.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.10.2019 finden Sie hier

Film

Elle Fanning  und Timothée Chalamet in Woody Allens "A Rainy Day in New York"

Für Woody Allen vor der Kamera zu stehen, galt bis 2017 noch als Adelung des eigenen schauspielerischen Werks - obwohl die Vorwürfe, die im Zuge der MeToo-Debatte gegen ihn wieder laut wurden, seit 1992 bekannt waren und vielleicht auch, weil es, anders als bei Weinstein, durchaus plausible Gründe für den Zweifel daran gibt. Jetzt aber scheint es für viele opportun, zu Allen auf Distanz zu gehen - weshalb Amazon ihn trotz eines Vertrags über mehrere Spielfilme hat fallen lassen. Für die Seite Drei der SZ hat David Steinitz den Filmemacher in Paris getroffen, der nach einigem juristischem Hin und Her die Rechte an seinem von Amazon zunächst in den Giftschrank gestellten Film "A Rainy Day in New York" zurückerhalten hat und ihn nun in die Kinos bringen kann. In den neo-prüden Teilen der US-Filmkritik ist der Film bereits durchgefallen, weil er vor allem davon handelt, dass junge Menschen gerne knutschen. "Im Gespräch macht Allen nun ausgiebig von seinem Recht Gebrauch, sich nicht wieder und wieder zu verteidigen, ersichtlich, um nicht aus der Position der potenziellen Täterschaft argumentieren zu müssen. Er spricht gerne über die Filme, die früher besser waren, die Restaurants, die früher besser waren, und die Mieten, die früher billiger waren. ... Sogar seine Wortwahl ist altmodisch. Er nennt einen Film nicht 'film' oder 'movie', sondern 'picture'; er sagt nicht 'vielfältig', sondern 'kaleidoskopisch'. Wenn er über seine Olympia-Schreibmaschine spricht, auf der er bis heute Drehbücher schreibt, verwandelt sich der alte Mann wieder in den 16-Jährigen, der sie damals für ein paar Dollar in einem Secondhandladen erworben hat. Die Augen leuchten, er reißt die Hände hoch, weil das Ding nun mal, Digitalzeitalter hin oder her, bis heute hält: 'Faszinierend.'"

Weiteres: Emeli Glaser denkt in der Welt darüber nach, wie sich Erfolgsserien zu einem würdigen Abschluss bringen lassen. Besprochen werden Justin Pembertons Dokumentarfilm-Adaption von Thomas Pikettys Sachbuch "Das Kapital im 21. Jahrhundert" (Zeit) und die Amazon-Serie "Pennyworth" (FAZ).
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Literatur

Schwierig findet Michaela Schäuble in der Literarischen Welt die Berliner Ausstellung "Hubert Fichte - Liebe und Ethnologie", die Fichte wegen seiner Reisen in den Trikont und dessen Reportagen und Romane darüber zu einem Vordenker des queeren Postkolonialismus erklären will. Das Projekt, die einstmals in seinen Werken Beschriebenen selbst zu Akteuren erheben, die ihrerseits über Fichte schreiben, scheint nicht recht aufzugehen - die Ausstellung zerfasere und gleite dann wieder ins zu Didaktische: "Unklar bleibt, wie groß das Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fichte an den jeweiligen Stationen wirklich war. Denn anders als intendiert, sind nicht die, die Fichte beschrieben hat, diejenigen, die antworten, sondern die Eliten. Zu Lebzeiten der westdeutschen Kulturbourgeoisie knapp entkommen, findet sich Fichte in 'Liebe und Ethnologie' posthum mitten in die global agierende akademische Kulturindustriebourgeoisie katapultiert, die mit ihm nicht wirklich etwas anfangen kann." Die Ausstellung wird im übrigen von einem umfangreichen Webjournal begleitet.

Mit zwar regem Interesse, literarisch aber auch leicht unterwältigt liest NZZ-Kritiker Stefan Zweifel die Textfragmente Marcel Prousts, die gerade in Frankreich veröffentlicht wurden und vom Autor seinerzeit wohl auch deshalb zurückgehalten wurden, weil sie homoerotische Fantasien enthalten: "Es ist, als würden hier die verborgenen Wünsche und Triebe des künftigen Weltautors bereits gegen die Stäbe jenes Käfigs pochen, der auf einer ebenfalls in Fallois' Nachlass entdeckten und an Marcel Proust adressierten Postkarte abgebildet war. Er ist zugleich das Sinnbild der nervösen Notizen und Stilübungen, die indessen noch keine Ausflucht aus der Konvention kennen."

"Meine Kindheit war ein Wirrwarr von Geschrei und Geflüster, ein Wispern, Brummen und Summen, ein einziges Bühnenchor-Rhabarber-Rhabarber-Rhabarber, ein Füllhorn an Stimmen mit dialektalen Einfärbungen und Klängen", erinnert sich Denis Scheck in seiner von der NZZ dokumentierten Eröffnungsrede zum Festival "Zürich liest". Heute hat sich das im Radio und in der Belletristik erledigt: "In einem Großteil der deutschen Gegenwartsliteratur wird ein flaches Einheitsdeutsch gesprochen, die vom Dialekt geprägte deutschsprachige Sprachwirklichkeit wird hingegen systematisch ausgeblendet zugunsten eines saft- und kraftlosen Plastikdeutsch."

Weiteres: Für die FAZ-Seite "Literarisches Leben" hat sich Anna Vollmer nach Amsterdam auf die Spuren von Theo Thijssens 1923 erschienenen, jetzt von Rolf Erdorf übersetzten Klassiker "Ein Junge wie Kees" begeben. Der Standard druckt einen Essay aus Sabine Scholls Band "Erfundene Heimaten" ab, in dem es um das "u" in Wörtern wie Blut, Jude und Tabu geht. "In Chile grassiert eine wild wuchernde Ungleichheit", sagt Isabel Allende im (vor den aktuellen Protesten in Chile geführten) Gespräch mit der Literarischen Welt über ihren neuen Roman "Dieser weite Weg", der von den Pinochet-Jahren handelt. In der Literarischen Welt nimmt Philipp Haibach Reißaus vor der Welle von Büchern, die mit Lieblingsbuchlisten zum Lesen verführen wollen: "Auf Romanverführer reagiert mein Körper allergisch". Der neue Band "VfB Lübeck, hundert Jahre Fußball in der Hansestadt" versetzt Freitag-Kritiker Klaus Ungerer zurück in seine Jugend. Im Literaturfeature des Dlf Kultur befasst sich Sieglinde Geisel mit dem Schriftsteller Lukas Bärfuss, der im November mit dem Büchnerpreis ausgezeichnet wird (mehr dazu hier)- als solcher ist keinesfalls "geschniegelt": "Es gibt bei ihm ein Element des Undomestizierten. Er vertraut seinem Eigensinn, und er scheut vor keinem Konflikt zurück."

Besprochen werden unter anderem Karl Heinz Bohrers "Mit Dolchen sprechen. Der literarische Hasseffekt" (FR), Kathrin Aehnlichs "Wie Frau Krause die DDR erfand" (taz), Sam Byers' vom Brexit handelnder Roman "Schönes Neues England" (taz), Max Annas' in der DDR spielender Kriminalroman "Morduntersuchungskommission" (taz), die Neuausgabe von Hans Falladas "Der eiserne Gustav" (SZ), neue dystopische Romane von Maja Lunde, Sandra Newman und Julian Gough (Presse), ein ganzer Schwung neuer Debütromane (Standard), Rachel Cusks "Lebenswerk. Über das Mutterwerden" (Literarische Welt), Paulus Hochgatterers Kriminalroman "Fliege fort, fliege fort" (NZZ) und Miljenko Jergovićs "Ruth Tannenbaum" (FAZ).

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Kunst

Hassan Hajjaj, "Time Out" from the series Vogue : The Arab Issue (© Hassan Hajjaj, 2007/1428)


Anahita Toodehfallah hat für Hyperallergic eine Ausstellung des in London lebenden Designers und Fotografen Hassan Hajjaj im Maison Marocaine de la Photographie in Paris besucht. Ihr imponiert die Chuzpe, mit der Hajjaj gegen Stereotype von Marokko aninszeniert: "'Maison Marocaine de la Photographie, Carte Blanche a Hassan Hajjaj' ist wirklich immersiv. Taschen mit Couscous bedecken die Bänke am Eingang wie Kissen, Straßenschilder werden als Tische benutzt und Dosen als Beleuchtungskörper. Der Schwerpunkt liegt jedoch auf Hajjaj als Fotograf, ein Medium, dem er sich nach Jahren der kreativen Arbeit als DJ und Designer zuwandte. Die erste von acht Fotoserien, die in der Ausstellung gezeigt werden, ist die Serie 'Vogue: Die arabische Ausgabe' aus den 90er Jahren. Wobei sich 'Ausgabe' sowohl auf Zeitschriftenausgabe wie auf Diskussionsthema bezieht. In den 90er Jahren war Hajjaj Assistent des Stylisten Andy Blake für ein Fotoshooting in Marrakesch. Er war frustriert, dass Marokko von der europäischen Mannschaft und den Models nur als Kulisse für die Aufnahmen behandelt wurde. Er beschloss, ein imaginäres Modeshooting zu planen, um Marokko und seine Bewohner zu feiern. Verschleierte Frauen sind mit Djellabias und Kaftanen mit Tiermotiven bekleidet, gefälschte Markenlogos wurden so stilisiert, dass sie an traditionelle Motive erinnern. Diese kühnen Frauen nehmen Posen ein, die typisch für die in Modemagazinen sind, und bieten eine skurrile Reflexion über das Bild der muslimischen Frauen in anglo-europäischen Gesellschaften sowie eurozentrische Schönheitskodizes."

Weitere Artikel: Borzuyeh Tabib unterhält sich für den Guardian mit dem franko-iranischen Künstler Sassan Behnam-Bakhtiar, der als junger Mann im Iran gefoltert worden war, erzählt, wie es ihm gelang im Gefängnis seine Ängste zu überwinden. In Monopol unterhält sich Elke Buhr mit der Videokünstlerin Rachel Rose. Andrian Kreye besucht für die SZ im Pariser Atelier des Lumières ein Festival für "Immersive Kunst", die beim breiten Publikum gut ankommt. Im Standard erklärt Olga Kronsteiner, wie Da Vincis "Mona Lisa" zu einer Ikone wurde. Der Dlf Kultur annonciert eine lange Nacht über Aby Warburg.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Stilleben von van Gogh im Museum Barberini in Potsdam (Tagesspiegel), die Ausstellung "Ikonen. Was wir Menschen anbeten" in der Bremer Kunsthalle (taz), eine van-Dyck-Ausstellung in der Alten Pinakothek in München (SZ), die Ausstellung "Gladiator. Die wahre Geschichte" im Antikenmuseum Basel (FAZ), eine Ausstellung der amerikanischen Künstlerin Senga Nengudi im Münchner Lenbachhaus (FAZ).
Archiv: Kunst

Bühne

Simon Strauß reist für die FAZ durch Thüringen, dessen Theaterförderung im nationalen Vergleich einfach "phänomenal" sei. Noch, denn wo gespart werden muss, sind die Theater oft als erste dran. "Was die zwei Millionen Thüringer da besitzen, ist unvergleichlich. Es ist ein Identitätswert, der nicht leichtfertig verspielt werden darf. ... Ein Theater ist mehr als ein Luxus, den man sich leistet. Es ist Ankerpunkt und Schöpfungsstätte städtischen Empfindens. Wer die Theater schließt und die Orchester zum Schweigen bringt, der schafft das Selbstwertgefühl der Bürger und Bürgerinnen ab. Und bringt damit das ganze Land in Gefahr."

Weiteres: Katja Schwemmers unterhält sich für die Berliner Zeitung mit Tim Fischer über Berlin und seine neue CD. Der Tagesspiegel druckt den Eröffnungsvortrag der Politologin Bilgin Ayata zum Herbstsalon des Gorki-Theaters: Wer von Rassismus nicht reden will, soll auch von Heimat schweigen, meint sie. Barbara Noack unterhält sich für die NZZ mit der Schauspielerin Sandra Hüller über ihre Rolle als Hamlet in Bochum. Besprochen wird der queere Volksliederabend "Nirvanas Last" in der Inszenierung von Damian Rebgetz an den Münchner Kammerspielen (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Musik

Ziemlich verwirrt berichtet Daniel Gerhardt auf ZeitOnline von seinem ersten Höreindruck des neuen Kanye-West-Albums, dessen Titel "Jesus is King" schon nichts Gutes vermuten lässt: "Mit einem aufgescheuchten Gospelchor beginnt das Album, Musik und Gemüter sind gleich auf 180. Dann gleich der Track 'Selah' hinterher, Kirchenorgel, Bibelzitatbingo, alttestamentarische Schlagzeugwucht und wieder ein Chor, der alles in Grund und Boden hallelujat. Jesus Christ! An dritter Stelle endlich ein Stück, das nach Kanye West klingt: mit spirituellem Soul-Sample aus den Siebzigern und bewährter Saulus-Paulus-Transformationsrhetorik. Danach ist der Drops gelutscht. Die Songs werden ruhiger und übersichtlicher, das Lobpreislevel steigt weiter. Nach 27 Minuten endet 'Jesus is King' mit 'Jesus is Lord' und einer abgewürgten Blaskapelle. Wo zur Hölle sind wir hier eigentlich gelandet?"

Joachim Hentschel spricht in der SZ mit Debbie Harry, die gerade ihre Autobiografie veröffentlicht hat. Dass sie seinerzeit mit Blondie zur weiblichen Ikone der Popmusik werden konnte, hat wenig damit zu tun, dass sie als Frau auf der Bühne eine Ausnahmeerscheinung gewesen sei, erzählt sie. Vielmehr sind einfach viele Musikerinnen im heutigen kollektiven Gedächtnis auf der Strecke geblieben: "Mitte der Siebziger gab es im New Yorker Underground derart viele fantastische Musikerinnen, dass ich mir nie wie etwas Besonderes vorkam. Cherry Vanilla, Ruby Lynn Reyner, Helen Wheels - leider ist aus den meisten nicht viel geworden. Damals kam eine Evolution in Gang, und ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort, mit dem nötigen Durchhaltevermögen. Der Kampf bestand darin, Geduld aufzubringen. Mit Feminismus hatte das wenig zu tun."

Weiteres: In der NMZ gratuliert Ralf Dombrowski dem Komponisten Nikolaus Brass zum Siebzigsten. Besprochen werden Marin Alsops Antrittskonzert beim RSO Wien (Standard), das neue, wieder zusammen mit Crazy Horse eingespielte Album von Neil Young (FR, Tagesspiegel), Sudan Archives' Album "Athena" (taz),ein Schostakowitsch-Abend mit den BR-Symphonikern unter Mariss Jansons (SZ) und ein von François-Xavier Roth geleitetes Konzert der Berliner Philharmoniker (Tagesspiegel).

Außerdem präsentieren und kommentieren die Pitchfork-Kritiker ihre Lieblingsvideos der 10er-Jahre - darunter verdientermaßen auch das großartige Video zu Billie Eilishs "Bad Guy":

Archiv: Musik