Efeu - Die Kulturrundschau

Konto, Konto, Kontostand

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.11.2019. Die NZZ und Nachtkritik begeistern sich für Nicolas Stemanns postdramatisch verschärfte Märchenfassung "Schneewitchen Beauty Queen" in Zürich. Die taz berichtet von Protesten in Tirana gegen den Abriss des Nationaltheaters und erkundet bei der Duisburger Filmwoche das Leben in einer Eisenbahner-Siedlung. Die SZ will sich und anderen Feministinnen auch weiterhin die Bilder Paul Gauguins zumuten. Und im TLS verrät Mick Herron, woran man bei John Le Carré den Verräter erkennt
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.11.2019 finden Sie hier

Film

Schrullen und Rückzugsräume: Matthias Lintners "Träume von Räumen" (Bild: dffb)

"Der Duisburger Anachronismus ist wegweisend", schreibt Fabian Tietke nach der Duisburger Filmwoche, wo auch im 43. Jahrgang, diesmal erstmals unter der Leitung von Gudrun Sommer und Christian Koch, das Zeigen von Dokumentarfilmen ohne den teils erhitzten Diskurs darum nicht denkbar war. Als besonderes Highlight bleibt Tietke Matthias Lintners "Träume von Räumen" in Erinnerung: Darin verdichtet der Filmemacher "das Zusammenleben der wenigen verbliebenen Bewohner der 'Kleinen Bremer Höhe', einer ehemaligen Wohnsiedlung für Eisenbahner in Berlin-Mitte. Bevor das Zusammenleben durch eine Sanierung ihr Ende fand, bildete sich in der Wohnanlage eine Insel der Zeitlosigkeit heraus. In einer Art Dokument der Sehnsucht gibt Lintner einen Einblick in das Leben der Bewohner voller Zärtlichkeit für ihre Schrullen und Respekt für ihre Rückzugsräume." Und Dominik Kamalzadeh vom Standard ist aufgefallen, dass "einen schleichenden Wandel zu dokumentieren, der nur mit der nötigen Insistenz festgehalten werden kann, heuer eines der wiederkehrenden Themen in Duisburg war."

Weiteres: Für die Spex ist Laura Lichtblau mit Jan-Ole Gerster spazierengegangen. Marius Nobach verneigt sich im Filmdienst vor dem französischen Schauspieler François Périer, der dieser Tage 100 Jahre alt geworden wäre. Im epdFilm-Blog begibt sich Gerhard Midding auf die Suche nach den letzten Kinos Andalusiens.

Besprochen werden die Tragikomödie "Das Wunder von Marseille" mit Gérard Depardieu (SZ) und Eckhardt Schmidts kontroverser 80s-Thriller "Der Fan" mit Désirée Nosbusch (critic.de).
Archiv: Film

Bühne

Die Zwerge in "Schneewittchen Beauty Queen". Foto: Zoé Aubry


Eigentlich hat Nicolas Stemann mit seinem Märchen-Patchwork "Schneewitchen Beauty Queen" am Schauspielhaus Zürich die Weihnachtssaison einläuten wollen, aber das Stück hat nicht nur die Achtjährigen vom Hocker gerissen, sondern auch sämtliche Kritiker. In der SZ begeistert sich Egbert Tholl, wie Stemann, der auch die Musik machte, Grimms Märchen zu einem Mordsspaß "postdramatisch verschärft", mit einem furchtlosen Rotkäppchen und einem emanzipierten Schneewittchen. Nur: "Der König ist selten da, weil er daran arbeitet, wie er 'die armen Menschen noch ärmer und die Umwelt noch dreckiger machen kann', damit er der reichste Mensch der Welt wird. In der Pause gibt es 'vegane Äpfel', und am Ende rettet Tabita Johannes als Königin den Märchenwald vor des Königs Neubauprojekt mit all dem für Schönheitsoperationen angesparten Geld." In der Nachtkritik schwärmt Valeria Heintges vom liebevollen Anarchismus. In der NZZ versichert Daniele Muscionico, dass das Stück auch bei Kindern funktioniert, und findet nicht mal die Karikatur eines geschniegelten Bankers störend, der zwanghaft seine Finanzen beobachtet: "Konto, Konto, Kontostand - wer ist der reichste im ganzen Land?" 

In der taz berichtet Tom Mustroph von den anhaltenden Protesten in Tirana gegen das Vorhaben der albanischen Regierung, das Nationaltheater von 1938 abzureißen. Ausgerechnet nach den Plänen des hippen Architekten Bjarke Ingels soll dort ein riesiges Immobilienprojekt mit Shopping Center entstehen: "Größere Wellen schlägt das Vorhaben vor allem aber deshalb, weil zusammen mit dem Theater größere Flächen öffentlichen Landes privatisiert werden sollen. 'Es geht im Grunde genommen um einen großen Teil des historischen Zentrums Tiranas. Um die Privatisierung durchzusetzen, wurde sogar ein eigenes Gesetz geschaffen', empört sich Lindita Komani. Die Schriftstellerin aus Tirana gehört zu den Organisator*innen des Protests. 'Seit Februar 2018 leisten wir Widerstand. Zunächst veranstalteten wir jeden Montag Meetings vor dem Theater. Es kamen so viele Menschen, dass wir drei Monate später jeden Abend Veranstaltungen machten. Und als am 24. Juli 2019 die Polizei das Theater stürmen wollte, haben wir es besetzt, um es zu retten', erzählt sie."

Besprochen wird außerdem ein "furioser" Abend mit Lisbeth Gruwez und Danza Contemporánea de Cuba beim Tanzfestival Rhein-Main (FR).
Archiv: Bühne

Kunst

Paul Gauguin: Stillleben mit Hoffnung, 1901. Bild: National Gallery

Durchaus unangenehm waren SZ-Kritikerin Sinja Zekri Gauguins Bilder in der großen Londononer Herbstschau in der National Gallery, die falschen Südsee-Idyllen, die jungen, stets verfügbaren, nackten Frauen. Aber dass Feministinnen sich das nicht ansehen wollen, findet Zekri albern: "Eine Besucherin habe im Gästebuch notiert, ihrer Tochter würde sie diese Bilder niemals zumuten. Darf man Gauguin also zeigen, darf man ihn anschauen? Man muss sogar.  'Warum kommen Feministinnen immer zurück zu Gauguin? Weil die Ausbeutung der Frauen, die man bei ihm sieht, bis heute anhält', sagt die Co-Kuratorin Cornelia Homburg. 'Gauguin Portraits' ist keine makellose Schau. Dort, wo Gauguins Bilder auf künstlerisch unerreichte Weise die Makel der Gegenwart vorwegnehmen, ist sie zwingend."

Auf eindeutigen Selbstbetrug erkennt Nikolaus Bernau in der Berliner Zeitung beim Centre Pompidou, das sich zur Eröffnung seiner neuen Dependance in Shanghai gleich den Zensurwünschen aus Peking beugte: "Der Direktor des Centre Pompidou Serge Lasvignes hat offiziell zugegeben, dass fünf Kunstwerke auf Ansinnen der chinesischen Behörden zurückgezogen wurden. Er sieht das leger, kenne ja die 'Gesetze des Landes': 'Aber ich hatte hier die Freiheit zu tun, was ich wollte und was ich in Frankreich auch gemacht hätte.'" Aber auch die japanische Regierung zeigt Nerven, ergänzt Michael Wurmitzer im Standard, sie entzog der kritischen Schau "Japan Unlimited" im Wiener Museumsquartier die Unterstützung.

Weiteres: In der Welt macht Tilman Krause den sächsischen Maler Ludwig Richter, der wie kein anderer "das Glück im Winkel und die Wonnen der Idylle " darstellen wollte, für die anhaltende Liebe der Deutschen zum Kuscheligen verantwortlich. Oliver Kase zeigt in der FAZ den indischen Literaturnobelpreisträger Rabindranath Tagore auch als Maler, dessen wohlwollender Rezeption in den dreißiger Jahren von den Nazis ein Ende gemacht wurde.

Besprochen werden die Ausstellung des kolumbianisch-britischen und gerade für den Turner Prize nominierten Künstlers Oscar Murillo im Hamburger Kunstverein (toll findet Falk Schreiber in der taz, wie Murillo sein eigenes Unterfangen stetig sabotiert), die Schau des Künstlers Künstlers A.R. Penck im Dresdner Albertinum (FAZ) und die Schau "24/7" im Somerset House in London (Guardian).
Archiv: Kunst

Literatur

In Italien ist vor wenigen Tagen nach einer, wie Maike Albath in der SZ schreibt, sensationell konzertierten Werbeaktion der neue Roman von Elena Ferrante in die Buchhandlungen gekommen. "La vita bugiarda degli adulti", wörtlich übersetzt: "Das verlogene Leben der Erwachsenen", handelt neuerlich vom Aufwachsen einer jungen Frau in Neapel, diesmal aber in den achtziger- und neunziger-Jahren. Albath ist nach der Lektüre sehr zufrieden: Ferrante schreibe hier über einen "Emanzipationsprozess, der viel mit der Entdeckung der Sexualität zu tun hat. ... Wie in den anderen Ferrante-Romanen entsteht eine klaustrophobisch-bedrängende Atmosphäre, die in der vielschichtigen Psyche der Figuren ihren Ursprung hat und einen Teil der Faszination ausmacht." Zwar ist im Vergleich zur Neapel-Tetralogie "das Personal überschaubarer, der Rhythmus ruhiger. Die Dialoge sind gewohnt prägnant, und die zweite Hälfte von 'Das verlogene Leben der Erwachsenen' gewinnt dann eine interessante Dynamik, was mit der Ambivalenz Giovannas und dem Sujet der Gewalt zusammenhängt. Dieses Wilde, das in der Ursprungsfamilie des Vaters offener zutage tritt und eben auch in der Sexualität eine Rolle spielt, ist unheimlich und überwältigend zugleich."

Im TLS huldigt der britische Thrillerautor Mick Herron dem Titanen John Le Carré, aber auch seinem Vater. Herron erzählt, wie er mit seinen Eltern 1979 die BBC-Serie "Tinker Tailor Soldier Spy" im Fernsehen sah: "Ich erinnere mich, dass sich in der Eröffnungsszene die Beteiligten zu einem Treffen versammeln. Einer - Bill Haydon, wie sich herausstellte -, betrat den Raum mit einer Tasse Tee in der Hand, und darüber die Untertasse, um nichts zu verschütten. 'Was für eine seltsame Art, seinen Tee zu tragen', sagte mein Vater. 'ich wette, das ist der Verräter.'"

An einem großen Gespräch mit Ocean Vuong, dem allseits gefeierten Wunderkind der US-Literatur, kam in den letzten Monaten kein Feuilleton vorbei. Die NZZ liefert heute. Vuong spricht darin unter anderem über die sein Schreiben grundierende Erfahrung, ein Einwandererkind zu sein: Dies habe ihn "vieles gelehrt. So verwirrend es war, in einem fremden Land aufzuwachsen, so voller Wunder war es doch zugleich. ... Als Erstes wird einem klar, dass Amerika eine Bühne ist, und eines der Schlüsselelemente, um auf dieser Bühne zu überleben, ist Performance. Du musst dich wie ein Amerikaner aufführen, du musst ihn spielen. Aus dem queeren Blickwinkel hatte ich immer das Gefühl, in Amerika zu leben, heißt, in Drag zu leben. Du musst Erwartungen erfüllen, den Fortschrittsglauben teilen, was aufreibend ist. Die Fetischisierung der Produktivität hat dazu geführt, dass sich Amerikaner, insbesondere Menschen, die in dieses Land eingewandert sind, in der Arbeit zerstören."

Weiteres: Jan Küveler berichtet in der Welt von Salman Rushdies Auszeichnung mit dem Welt-Literaturpreis. Besprochen werden unter anderem Nadine Schneiders "Drei Kilometer" (ZeitOnline), Bianca Kos' "Das Mundstück" (Tagesspiegel), Lisa McInerneys Krimi "Blutwunder" (Freitag), Thomas Brezinas "Liebesbrief an Unbekannt" (Standard) und G.H.H.s "Der eine Sohn" (FAZ).
Archiv: Literatur

Musik

In der SZ-Klassikkolumne feiert Helmut Mauró den 18-jährigen georgischen Pianisten Sandro Nebieridze, der auf seiner ersten Solo-CD Rachmaninow und Prokofiew spielt: "Der Ernst und die Leichtigkeit, mit denen er die schwierigen Werke angeht, ist staunenswert und ganz offensichtlich nicht nur seiner Jugend geschuldet. Insbesondere bei Rachmaninow entdeckt er Facetten und Ausdrucksbereiche, die man zumindest, bevor Daniil Trifonov auf den Plan trat, kaum vermutete. Dieser Pianist ist eine Bereicherung." Eindrücke davon bietet dieses Werbevideo:



Christiane Peitz wirft im Tagesspiegel einen Blick in die Welt des Klassik-Streamings und stellt an dieser Stelle die wichtigsten Dienste kursorisch vor. Klassik-Streaming ist ein Wachstumsmarkt, hat aber noch seine  Probleme, etwa "die Sache mit den Metadaten. Wer Klassik beim Kochen oder Joggen oder im Auto hört, wer sich am Wochenende auch schon mal eine komplette Symphonie reinzieht und Interpretationsvergleiche anstellen will - ein Traum: Mahlers Erste gibt es bei Idagio wie bei Primephonic in mehr als 100 Aufnahmen -, will intelligent kuratierte Playlists und eine große Bibliothek. ... Zweitens muss die Suche verlässlich zum Ziel führen, ob man nun nach 'Mahlers 1. Sinfonie' sucht oder nach 'Mahler Symphony No. 1', ob man 'Schostakowitsch' oder 'Shostakovich' eingibt."

Weiteres: Kerstin Holm hat für die FAZ in Moskau Pjotr Aidu besucht, der im Dezember sein Museum für alte Klaviere eröffnen wird: Zu sehen sein wird "ein versunkener Schatz deutsch-russischer Kulturgeschichte", da ein beträchtlicher Teil der restaurierten Exponate aus deutscher Herstellung stammt. Jan Brachmann berichtet in der FAZ von den Badenweiler Musiktagen. Dagmar Leischow spricht in der taz mit dem Soulmusiker Michael Kiwanuka über dessen neues, schlicht nach sich selbst betiteltes Album. Daraus diese großartige Nummer:



Besprochen werden das neue Album von Floating Points (SZ) und die Compilation "Down in Jamaica - 40 Years of VP Records" (Pitchfork).
Archiv: Musik