Efeu - Die Kulturrundschau

Coolness, die auch Schutz sucht

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.11.2019. Lensculture wirft mit der Fotografin Letícia Lampert einen Blick in die Wohnungen der Nachbarn. The Intercept nimmt den Brief des Nobelpreiskomitees an Handke-kritische Autoren-Organisationen im Kosovo und in Bosnien auseinander. Zeit online freut sich über die selbstbewusste erotische Präsenz von Jennifer Lopez in "Hustlers". Die NZZ staunt über Kanban, das japanische Prinzip des Perfektionismus. Die SZ hört wehmütig Schubert-Aufnahmen der kürzlich verstorbenen Pianistin Dina Ugorskaja.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.11.2019 finden Sie hier

Kunst

Letícia Lampert: Aus der Serie "Conhecidos de Vista" © Letícia Lampert


Die brasilianische Fotografin Letícia Lampert stellt im Gespräch mit lensculture ihr Buch "Conhecidos de Vista" ("Known by Sight") vor. Es zeigt den Blick aus Wohnungsfenstern auf die oft sehr dicht gegenüberliegenden Gebäude in Porto Alegre. Als Betrachter schaut man aus Fenstern raus und in andere Fenster rein. Es ist anonym und gleichzeitig intim: "'Conhecidos de Vista' entstand kurz nachdem ich begriffen hatte, wie sehr Landschaften meine Arbeit beeinflusst haben. Ich wollte untersuchen, wie dieselbe Stadt als ein anderer Ort wahrgenommen werden kann, wenn man sie aus den Augen anderer Menschen betrachtet. Fenster sind eine gute Metapher für das Sehen, also habe ich mich entschieden, die Ansichten aus den Fenstern verschiedener Bewohner zu vergleichen. Aber ich interessierte mich besonders für die Ansichten, die keinen vollständigen Überblick über die Stadt geben; die Gebäude, die von anderen Gebäuden umgeben sind und einen Großteil der Landschaft verdecken. Allmählich begann mich die menschliche Beziehung zwischen den Nachbarn, die sich nicht wirklich kennen, aber über viele der täglichen Gewohnheiten des anderen Bescheid wissen, mehr zu interessieren als der Blick auf die Stadt selbst. Zu diesem Zeitpunkt änderte sich der Schwerpunkt der Arbeit komplett."

Weiteres: Margot Boyer-Dry zieht für die NYT in das Hopper-Hotelzimmer, das anlässlich der Ausstellung "Edward Hopper and the American Hotel" vom Virginia Museum of Fine Art bereitgestellt wird. Im Guardian stellt Melissa Clocker die Wissenschaftlerin Jill Tarter und den Künstler Charles Lindsay vor, die ein Kunstprogramm für das SETI-Institut ("search for extraterrestrial intelligence") entwickelt haben. Vorgestellt wird außerdem Anastasia Samoylovas Buch "FloodZone" mit Fotos die zeigen, wie der steigende Meeresspiegel sich in Miami bemerkbar macht (lensculture). Und Oliver Wainwright besucht für den Guardian eine Ausstellung von Öko-Visionären in der Royal Academy in London.
Archiv: Kunst

Literatur

Erstaunlich, dass kein Journalist in Deutschland diese Arbeit macht. Der amerikanische Jouralist Peter Maass nimmt bei The Intercept den Brief des Nobelpreiskomitees an Autoren-Organisationen im Kosovo und in Bosnien (unser Resümee) auseinander. Der Brief sagt ja, dass "wir nach einem respektvollen Austausch streben, auch bei scharf abweichenden Standpunkten in wichtigen Themen". Das wichtige Thema, so Maass, ist in diesem Fall ein Genozid und die abweichende Meinung ist, "dass er nicht stattgefunden hat". Maass merkt auch an, dass Leugnen nicht einfach abstreiten heißt: "Das Nobelpreiskomitee scheint zu ignorieren, dass offenes Lügen nur die offensichtlichste Methode der Leugnung ist. Experten für Genozide (nicht nur in Bosnien) merken immer wieder an, dass das Säen von Zweifel eine andere Form der Leugnung ist.... Zu Genozidleugnung gehören nach Israel Charny vom  Institute on the Holocaust and Genocide in Jerusalem Behauptungen, dass Todesfälle unbeabsichtigt oder nicht von Führern befohlen seien, dass es nicht so viele Tote gab wie berichtet oder dass Opfer als Vergeltung für Morde umgebracht wurden, die sie selbst begangen hätten. Genau diese Art Behauptungen werden in Handkes Büchern aufgestellt."

Peter Handke mache "nach wie vor, was man von ihm kennt", kommentiert Wiebke Porombka im Dlf Kultur das Interview mit dem Schriftsteller, das die Zeit gestern veröffentlicht hat (unser Resümee): "Er versetzt all das, was man ihm an konkreter politischer Fragwürdigkeit vorwirft, in einen poetisch überhöhten Vorstellungsraum, ruft immerzu seinen idealen Ort, den kindlichen Sehnsuchtsort Jugoslawien auf und schmettert damit alles ab."

Weiteres: Simon Sales Prado unterhält sich in der taz mit der amerikanischen Essayistin und Literaturwissenschaftlerin Morgan Jerkins, die gerade als Gastdozentin in Deutschland lehrt und sich für mehr schwarze Schriftstellerinnen im Curriculum stark macht: "Wenn wir an 'große' Weltliteratur denken, denken wir an weiße Männer. Das ist zwar ein Nebeneffekt von White Supremacy und nicht die Schuld meiner Studierenden, aber es ist unsere Verantwortung, das zu hinterfragen." Im Dlf Kultur diskutierten Elisa Diallo und Andreas Nohl darüber, wie man etwa Mark Twain im Hinblick auf rassistische Begriffe heute zeitgenössisch übersetzen kann. Der britische Comicautor und Anarchist Alan Moore hat auf Facebook verkündet, im Dezember mit knirschenden Zähnen Labour zu wählen, berichtet Alexander Menden in der SZ. Der Bayerische Rundfunk hat die Hörspielbearbeitung von Thomas Meineckes "Der Tod kommt auf einem bleichen Pferd" online gestellt. Rüdiger Görner erinnert in der FR an die Schriftstellerin George Eliot, die vor 200 Jahren geboren wurde.

Besprochen werden Valeria Luisellis "Archiv der verlorenen Kinder" (NZZ), Clarice Lispectors "Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau" (Dlf Kultur), Scholem J. Abramowitschs "Die Reisen Benjamins des Dritten" (SZ) und John Lanchesters "Die Mauer" (online nachgereicht von der FAZ).

Diese und viele weitere Bücher erhalten Sie in unserem neuen Online-Bücherladen Eichendorff21.
Archiv: Literatur

Film

Vom Runterdimmen keine Spur: Jennifer Lopez in "Hustlers"

In der "10 nach 8"-Reihe auf ZeitOnline freut sich Sabine Horst darüber, dass Jennifer Lopez im Film "Hustlers" einerseits sehr sexy als "pures Spektakel" inszeniert wird, aber andererseits auch "konsequent durch eine weibliche Perspektive" - und überhaupt war Sexiness im Kino ja schon immer eine deutlich komplexere Angelegenheit als manche Kritik dies glauben lassen mag. Damit sticht Lopez ziemlich heraus im Gegenwartsfilm, findet Horst: "Stars, die als sehr sexy gelten, die der alten bombshell-Norm nahekommen, dimmen ihre erotische Präsenz gern herunter - auf der Leinwand oder im Privatleben. ... Scarlett Johansson und Jennifer Lawrence haben ihre Kurven weggehungert und prügeln sich durchs Actionkino, um dem Fluch des bloßen Angeschautwerdens zu entgehen." Zwar "muss nicht immer Sex im popkulturellen Spiel sein - interessiert ja nicht jeden -, aber man darf schon fragen, in welchem Moment die Dekonstruktion problematischer Frauenbilder in einen Gegenreflex umschlägt und die im kurvigen Körper der bombshell ikonisierte Norm bloß wieder mit anderen Weiblichkeitsformeln überschrieben wird."

Weiteres: In der NZZ unterhält sich Daniele Muscionico mit dem Schweizer Filmemacher Samir Jamal Aldin.

Besprochen werden Richard Linklaters "Bernadette" mit Cate Blanchett (Tagesspiegel, unsere Kritik hier), eine Berliner Ausstellung mit den Zeichnungen des unter anderem für die Entwürfe für "Blade Runner" verantwortlichen Filmarchitekten Syd Mead (Filmdienst), Noah Baumbachs "Marriage Story" mit Scarlett Johannson (Welt), Hans Petter Molands "Pferde stehlen" (Tagesspiegel), der Dokumentarfilm "Land des Honigs" (ZeitOnline), die dritte Staffel von "The Crown" (Presse), und der Disney-Animationsfilm "Die Eiskönigin 2", vor dem Lukas Foerster im Filmbulletin - anders als Dietmar Dath in Drag - ziemlich ratlos steht: "Jetzt haben sie, denke ich mir, und auch das mag natürlich nur meiner Entfremdung vom dominanten Zeitgeist geschuldet sein, sogar den depressiven Barbie-Puppen ihre romantischen Träume geklaut."
Archiv: Film

Design

Tokio hat sich für die Paralympischen Spiele im Sommer 2020 im für das Stadtdesign viel vorgenommen, berichtet Oliver Herwig in der NZZ: Die Metropole will möglichst barrierefrei mit ihren Gästen kommunizieren und setzt dafür auf möglichst glasklare Kommunikationsstrategien, die auch für möglichst viele Menschen mit Einschränkungen funktionieren soll. "Japanischer Perfektionismus hat zwei Silben: Kanban. Das Prinzip der steten Verbesserung führten erst Automobilunternehmen ein, nun kehrt es als Gestaltungsprinzip wieder. Wenn Japaner etwas machen, machen sie es eben richtig. Sie arbeiten sogar schon an der nächsten Generation von Orientierungssystemen: Apps, die Blinden und Rollstuhlnutzern vor Ort die jeweils besten Routen anzeigen. Junko Ushiyma, Senior Engineer bei Hitachi, zeigte, wie Handys vor Hindernissen vibrieren oder kontextbezogene Sprachhinweise geben. Das setzt enorme Datenmengen und aktualisierte Karten voraus - ein gewaltiges Investment in eine 'augmented reality', die ihren Namen tatsächlich verdient - als Verbesserung für alle."

Besprochen wird die Ausstellung "Cars" im V&A Museum in London (FAZ).
Archiv: Design

Bühne

In der FAZ schildert Lili Hering die Diskussionen in den Stadttheatern über den Umgang mit dem Klimawandel. Auf Zeit online hat der irische Korrespondent Derek Scally dagegen die Nase voll von deutschem Erziehungstheater. In einem Brief an Rene Pollesch schreibt er nach dem Besuch von Polleschs "Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt": "Was ich zu sehen bekam, war dieselbe unausgegorene Kapitalismuskritik, die mir seit 20 Jahren von deutschen Bühnen entgegenschallt. Nichts Gefährliches. Nichts Scharfes. Bloß die willkürlichen Behauptungen eines weiteren privilegierten Staatstheaterangestellten, der an der Hand knabbert, die ihn füttert, und dem der Mut fehlt, zuzubeißen." In der nachtkritik macht sich Esther Slevogt Gedanken über "offene Fragen der Theaterüberlieferung".

Besprochen werden Erich Wolfgang Korngolds Oper "Die tote Stadt" in München (nmz, Standard) und Nikolaus Habjans Puppentheater "The Hills Are Alive" - eine Persiflage auf "The Sound of Music" - in Graz (SZ).
Archiv: Bühne

Musik

Wehmütig hört sich SZ-Kritiker Wolfgang Schreiber durch die Schubert-Aufnahmen aus dem Nachlass der Pianistin Dina Ugorskaja, die im September im Alter von 46 Jahren überraschend gestorben ist. Ihr glückt es, "den verwirrend herben und zugleich in Schönheit ausufernden Kopfsatz der B-Dur-Sonate mit einer verinnerlichten Leuchtkraft aufzuladen, die, wenn der Vergleich erlaubt ist, höchstens Swjatoslaw Richters bohrendem Nachdruck zu Gebote stand. Ugorskajas Schubert freilich bleibt allem lyrischen Ingrimm fern, Bewegungsstarre aus analytischer Dringlichkeit war nie ihre Sache. ... Der Finalsatz lässt den Perpetuum-mobile-Humor nicht brachial oder bloß ungestüm ablaufen, wie oft der Brauch, gibt ihm vielmehr feingliedrig, tänzerisch, gedankenvoll Kontur. Am verquer heiteren Ende kann Schuberts existenzielle Auflehnung in Tönen triumphieren. Der frühe Tod der Musikerin Dina Ugorskaja macht traurig."

Für die taz porträtiert Julian Weber den Produzenten Galcher Lustwerk, der House und Rap kombiniert: Dessen "Stimme klingt angestrengt cool. Oder gespenstisch cool, eine Coolness, die auch Schutz sucht. Ängstlich cool, ärgerlich cool. Alle Krankenkassen sind cool." Wir hören rein:



Weiteres: Online nachgereicht aus der Literarischen Welt, erklärt der Pianist Igor Levit, welche Bücher ihn prägten. Auf seiner Nummer 1: "Nach der Flut das Feuer" von James Baldwin.

Besprochen werden ein Leonard-Cohen-Album mit Aufnahmen aus dem Nachlass (Pitchfork, FR), FKA Twigs' neues Album "Magdalena" (NZZ), Abdullah Ibrahims Auftritt in Berlin (Tagesspiegel), das im Horror-Trash fröhlich Samples plündernde Para-Rap-Album "There Existed an Addiction to Blood" von Clipping ("krasses Album", meint Johann Voigt in der taz), ein neues Coldplay-Album (ZeitOnline) und das neue Kreidler-Album "Flood", bei dem Standard-Kritiker Ronald Pohl " die esoterisch anmutende Duftnote der deutschen Krautmusik" in die Nase steigt: "Man möchte in 'Flood' förmlich versinken." Das Album steht auf Youtube:

Archiv: Musik