Efeu - Die Kulturrundschau

Lauter Jubel im Container

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03.02.2020. Nicht nur Alfred Bauer, auch der Documenta-Gründer Werner Haftmann hatte seine NS-Vita. In der SZ spricht der Kunsthistoriker Christian Fuhrmeister über die ungeheure Kontinuität bundesdeutscher Eliten. Cargo jubelt über Christian Weises "Berliner "Hamlet"-Inszenierung mit Svenja Liesau, Marx und Schwertkampf. Wie Jedermann erleben FAZ und FR im Frankfurter Schauspiel, wie ein Ende besiegelt wird. Auf 54books wünscht sich Simon Sahner die Öffnung der literarische Räume.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.02.2020 finden Sie hier

Kunst

Aufgestöbert durch die peinlichen NS-Enthüllungen zum Berlinale-Gründer Alfred Bauer befragt Ingo Ahrend in der SZ den Kunsthistoriker Christian Fuhrmeister zum Sachstand bei der Documenta. Im Oktober 2019 hatte die Forscherin Julia Friedrich auf einer Tagung zu den Anfängen der Documenta die NSDAP-Mitgliedschaft ihres Mitbegründers Werner Haftmann enthüllt, wovon sich nichts in den aktuellen Ausstellung über die Documenta findet, wie Ahrend schon Anfang Januar beklagte. Ob Haftmann aus Überzeugung oder Opportunismus Parteimitglied war, kann Fuhrmeister nicht sagen, aber die Muster nach 1945 sind vertraut, meint er: "Die Documenta ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Wir haben eine ungeheure Elitenkontinuität in allen Berufen. Auch Arnold Bode hat eine Vita, die nicht so sozialdemokratisch ist, wie man sie bisher kennt. Er hat etwa Glasfenster für Luftwaffenkasinos entworfen, die in der Zeitschrift die neue linie besprochen wurden. Nach 1945 wird die Rede von der 'inneren Emigration' zum zentralen Topos der Entschuldung."

Das Warschauer Museum im Zamek Ujazdowski zeigt mit Karol Radziszewskis Ausstellung "Die Macht der Geheimnisse" gerade Kunst zu Polens schwulem Underground. Es dürfte die letzte dieser Art sein, berichtet Florian Hassel in der SZ, denn die Regierung hat dem Museum einen neuen Leiter verpasst. Piotr Bernatowicz hat sich den Regierungen durch seine Arbeit in Poznan empfohlen: "Als Direktor der städtischen Kunstgalerie Arsenal machte Bernatowicz mit der Ausstellung 'Strategie des Aufstandes' Schlagzeilen. Der Künstler Wojciech Korkuc schuf dafür Plakate mit Slogans wie 'Du bist abstoßend, hässlich und faul - werde Feministin oder geh zum Psychologen!' oder 'Du bist schwul? Okay - aber verdirb die Minderjährigen nicht'. Im Februar 2017 protestierten 76 Posener Künstler gegen Bernatowicz als Museumsdirektor - er wurde abgelöst."

Weiteres: Als Jahrhundertausstellung preist Stefan Trinks in der FAZ die Jan-van-Eyck-Schau "Eine optische Revolution" in Gent, in deren Rahmen auch der Altar in der Kathedrale der Stadt gezeigt wird.
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Bühne

Svenja Liesau als Hamlet mit Übervater. Foto: Ute Langkafel / Maxin-Gorki-Theater

Was für ein reicher Abend, jubelt Ekkehard Knörer auf Cargo nach Christian Weises "Hamlet" im Maxim-Gorki-Theater in Berlin. Zugleich Film und Theater, hinreißende Schwertkampfchoreografie und Meta-Reflexion mit Marx, Luxemburg und Brecht: "Hamlet ist Svenja Liesau. Und Svenja Liesau ist der Hit. Komisch wie ernst. Vielleicht am Großartigsten sogar als Umschalterin. Im komischen Genre wie im tragischen (zwischen tragedy, comedy, history, pastoral, pastoral-comical, historical-pastoral, tragical-historical, tragical-comical-historical-pastoral wendig, naja, pastoral kommt eher weniger vor), sie spricht die Monologe als Könnerin, schaltet alle Ironie, die der Inszenierung nicht fremd ist, szenenlang weg." Begeistert ist auch Irene Bazinger in der FAZ von dieser intelligent-amüsanten Fassung: "So hauptstädtisch und modern wie historisch informiert und bedacht. Lauter Jubel im Container." Nur Nachtkritikerin Simone Kaempf leuchtet nicht ganz ein, wofür der ganze Aufwand gut sein soll, den diese Inszenierung betreibt.

Sehr apart findet Sandra Kegel, dass Regisseur Jan Bosse am Freitag in Frankfurt ausgerechnet den "Jedermann" auf die Bühne brachte, in der Version von Ferdinand Schmalz, denn nur wenige Stunden zuvor hatten die Stadtverordneten den Abriss des Schauspiels besiegelt: "Weil die Sanierung der maroden Doppelanlage am Willy-Brandt-Platz zu teuer ist, teurer noch als selbst ein Neubau für Theater und Oper zusammen, tut die Stadt aufs Neue, was ihr in die DNA eingeschrieben scheint: wegreißen und neu bauen statt erhalten und pflegen, was ist. In diesem Fall trifft es einen Bau der Nachkriegsmoderne, dessen kühle Eleganz und selbstbewusste Transparenz im Stil Mies van der Rohes so etwas wie das Spiegelbild der Programmatik des Hauses war. Jedermanns Sache wäre der Bau gewiss nicht, dafür die der jungen Bundesrepublik umso mehr: schlicht und schmucklos, jeden Gedanken an Hierarchie und Repräsentation unterlaufend." In der FR macht der Beschluss Judith von Sternburg nicht nur melancholisch: "Er macht auch pessimistisch, denn wozu wird sich die Stadt nun aufraffen?"

Weiteres: Moritz Rinke hat für die Wiener Staatsoper ein neues Libretto zu Beethovens "Fidelio" geschrieben. Im Welt-Interview mit Manuel Brug erzählt er, wie er die Oper als Ort der Tradition zu schätzen lernte.

Besprochen werden Katie Mitchells Inszenierung von Bela Bartoks "Herzog Blaubarts" mit Dirigentin Oksana Lyniv an der Münchner Staatsoper (SZ, FAZ), Sophie Rois' Bühnenfassung des ökofeministischen Klassiker "Die Wand" im Deutschen Theater in Berlin (SZ, taz, FR), Antú Romero Nunes' Mozart-Inszenierung "Flauta Màgica" beim Adelante!-Festival in Heidelberg (Nachtkritik), Jan Neumanns Inszneriung von "Romeo und Julia" in Weimar (Nachtkritik) und Paula Rosolens Choreografie "Flags" im Frankfurter Mousonturm (FR).
Archiv: Bühne

Literatur

Was das Internet betrifft, halten sich weite Teile der Literatur immer noch vornehm zurück - als ob Internet und "echtes Leben" nach wie vor getrennte Sphären seien, ärgert sich Simon Sahner in einem bereits vor einigen Tagen auf 54books.de veröffentlichten Longread: Dabei "bieten diese digitalen Räume in Wahrheit Impulse für literarische und ästhetische Innovationen, deren Möglichkeiten die Literatur gerade erst zu erkennen beginnt. Wie nie zuvor nehmen wir uns selbst und den Raum, in dem wir uns bewegen und leben, in Bezug zu Menschen und Orten wahr, denen wir physisch nicht nahe sind. Diese Art der Wahrnehmung, die manche Medienkritiker*innen als so verheerend für unseren Zugang zur Welt ansehen, beschreibt der Mediensoziologe Joshua Meyrowitz in 'The Rise of Glocality' aus neutraler Perspektive, indem er den Begriff glokal um eine Ebene erweitert." Als positives Beispiel erwähnt Sahner im übrigen Berit Glanz' Roman "Pixeltänzer".

Marc Neumann greift in der NZZ die in den USA tobende Kontroverse um Jeanine Cummins' "American Dirt" auf (hier bereits mehr dazu) und kommt zu dem Schluss, dass die Schriftstellerin, die hier unter anderem vom Elend mexikanischer Flüchtlinge schreibt, mitunter aus gutem Grund im Fokus der empörten Kritik steht - vor allem, weil sie klischeehaft schreibe, sich mit Mexiko herzlich wenig auskenne und bei den spanischen Sprachfetzen immer wieder daneben haue. "Plausibel ist das alles nicht, wie kritische Kommentatorinnen und Kommentatoren mit lateinamerikanischem oder mexikanischem Hintergrund betonten: Als realistische literarische Verarbeitung des Migrantenschicksals fällt Cummins' Darstellung durch."

Bei einer Veranstaltung des Deutschen Literaturfonds in Leipzig diskutierten die Kritikerin Mara Delius, die Autorin Tina Uebel und der Buchhändler Michael Lemling für einige im Publikum etwas zu süffisant darüber, wie sich die neuen gesellschaftlichen Sensibilitäten auf die Freiheit der Literatur auswirkten, berichtet Jan Wiele in der FAZ. Vor allem Jüngere rutschten unruhig auf den Stühlen herum, "vielleicht auch weil der Oberbegriff der politischen Korrektheit zu ungenau und außerdem inzwischen stigmatisiert ist. Die Situation wirkt unversöhnlich. Man spürt für Momente wieder die 'Trau keinem über dreißig'-Attitüde der Achtundsechziger - mit dem Unterschied, dass diesmal die Älteren für mehr Freiheit sind."

Weiteres: Mladen Gladic spricht im Freitag mit dem Schriftsteller Jonathan Coe unter anderem über den Brexit. Für die NZZ wirft Martin Zähringer einen Blick in die klimawandelbewegten Sachbücher belletristischer Schriftsteller. In der SZ schreibt Fritz Göttler einen kurzen Nachruf auf die Bestseller-Autorin Mary Higgins Clark. Außerdem präsentieren Dlf Kultur und die FAS die besten Krimis des Monats - mit Sarah Schulmans "Trüb" auf Platz Eins.

Besprochen werden Marion Messinas "Fehlstart" (Jungle World), John M. Coetzees "Der Tod Jesu" (NZZ, SZ), Monika Helfers "Die Bagage" (Tagesspiegel), eine Ausstellung in der Galerie Pankow in Berlin mit den Zeichnungen des Dichters Adonis (Tagesspiegel) und neue Krimis, darunter Liz Moores "Long Bright River" (FAZ).
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Film

Für den Tagesspiegel spricht Andreas Busche in der Causa Alfred Bauer (unsere Resümees hier, dort und hier) mit dem Filmhistoriker Wolfgang Jacobsen, der vor dreißig Jahren über die Geschichte der Berlinale ein großes Buch geschrieben hat, in dem Bauers Nazi-Vergangenheit kaum beleuchtet wurde: Diese sei für die Festivalgeschichte von nicht näherem Interesse gewesen, zudem habe sich die Aktenlage seitdem dank der Wiedervereinigung nochmal geändert. Zu der für Ende Februar geplante, nun in Überarbeitung befindliche Schrift über Bauer eiert Jacobsen ein bisschen herum: "Ich kenne meinen Kollegen Rolf Aurich, der für die Publikation verantwortlich ist, als seriösen, akribischen Historiker, der schwierige Sachverhalte sehr begabt zu veranschaulichen versteht. Da ich die Darstellung selbst aber nicht kenne, möchte ich über diese Arbeit nicht urteilen. Ich unterstelle jedoch dem Direktor der Kinemathek Rainer Rother, dass er die Entstehung des Manuskripts eng begleitet hat."

Gestresst in New York: "Uncut Gems" mit Adam Sandler (Bild: Netflix)

Der Komiker Adam Sandler hat sich nach Ansicht zahlreicher Kritiker längst komplett ins Aus gespielt. Aber ab und an springt er ins ernste Fach und brilliert dann ganz besonders - so auch jetzt im auf Netflix veröffentlichten Thriller "Uncut Gems" der Safdie Brothers, in dem er einen in Wettschulden zu ersaufen drohenden Juwelier "im Nonstop-Survival-Modus" spielt, wie Tobias Kniebe in der SZ schreibt. Sandlers Comedy-Phlegma ist hier "wie weggeblasen", zumal ihn die beiden Regisseure "mit größter Lust quälen." Josh und Benny Safdie "träumen von dem hochnervösen, schmutzigen, hart daherlabernden New York ihrer Kindheit, von einem durch und durch fehlerhaften, aber bezahlbaren Manhattan, wie es vor dem großen Saubermachen unter Rudy Giuliani noch existierte." Schade findet es allerdings Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche nach dieser Hetzjagd durch ein New York von unten, für das sich das US-Kino nur selten interessiert, dass "Uncut Gems" hierzulande nur auf die privaten Bildschirme kommt, auf denen "seine manische immersive Wucht verpuffen muss. Physischer kann Kino kaum sein." Von einem "großartigen Film" spricht auch Dominik Kamalzadeh im Standard, bittet aber um Exaktheit, wenn es um das Verteilen von Orden geht: Nicht Netflix gebühre hier das Lob, sondern "wohl eher A24, der Produktionsfirma, die gerade anspruchsvolles Autorenkino so gewieft zu vermarkten versteht, dass das Publikum danach giert." Übrigens lockt der Film auch mit "einer der besten Anfangssequenzen der letzten Kinojahre", verspricht Markus Keuschnigg in der Presse.

Weiteres: Anke Leweke berichtet für die taz vom Filmfestival in Rotterdam, wo es unter anderem Dokumentarfilme über die Proteste in Hongkong zu sehen gab. Wie die Serie "Big Bang Theory" mit Sexismus umging, war sehr problematisch, findet Sonja Thomaser in der FR.

Besprochen werden Ken Loachs "Sorry We Missed You" (FAZ, Freitag), die zweite Staffel von "Bad Banks" (Welt) und der Horrorfilm "Countdown" (Presse).
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Musik

Dem auf Klassik spezialisierten Streamingdienst Idagio ist ein Coup geglückt, schreibt Michael Stallknecht in der SZ: Der Geiger Maxim Vengerov veröffentlicht seine neuen Aufnahmen fortan exklusiv dort - ohne flankierende CD-Veröffentlichung. Bislang waren solche Stunts nur bei den großen Klassiklabels üblich, dass ein Streamingdienst exklusiv als Publisher fungiert, ist in diesem Segment neu. Stallknecht diagnostiziert eine neue Unabhängigkeit der Musiker: "Die sinkende Zahl an CD-Verkäufen schwächt die Bedeutung des aufs Cover gedruckten Labelnamens, Studioaufnahmen mit Orchestern können sich auch die großen Firmen nur noch in sehr ausgewählten Fällen leisten. ... Die Vielzahl der mittlerweile im Netz zur Verfügung stehenden Aufnahmen sorgt allerdings auch für eine neue Unübersichtlichkeit bei Hörern, die sich nicht täglich mit klassischer Musik beschäftigen. Streamingdienste können hier über die gängigen Playlists hinaus eine Kuratorenfunktion einnehmen."

Weitere Artikel: Für die FAS porträtiert Florentin Schumacher die Rapperin 070 Shake, die nach einem Feature auf Kanye Wests Album "Ye" nun mit ihrem Solodebüt große Erfolge feiert. In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Cornelius Dieckmann über Simon and Garfunkels "America". Klaus Walter (taz), Jenni Zylka (Tagesspiegel), Karl Fluch (Standard) und Thomas Kramar (Presse) schreiben Nachrufe auf Andy Gill, den Gitarristen der Postpunk-Pioniere Gang of Four.

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