Efeu - Die Kulturrundschau

Semantisches Dynamit

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06.02.2020. Die Zeit ermuntert die Museen, sich endlich mit den Brüchen des 20. Jahrhunderts auch in den eigenen Sammlungen auseinanderzusetzen. Im Standard setzt der Künstler Claudius Schulze angesichts des Artensterbens auf kluge Maschinen. Die SZ protestiert gegen den geplanten Abriss der Frankfurter Bühnen: Muss es wirklich immer der höchste Komfort, die beste Ausstattung, das neueste Equipment sein? 103 ist er geworden, jetzt hat er sich doch davon gemacht: Die Filmkritiker trauern um Kirk Douglas.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.02.2020 finden Sie hier

Film

Man hatte ihn schon fast für unsterblich gehalten: Hollywoodlegende Kirk Douglas, 1916 als Issur Danielowitsch Demsky in Amsterdam, New York, geboren als Sohn jüdischer Emigranten aus dem heutigen Weißrussland, ist im Alter von 103 Jahren gestorben, meldet letzte Nacht sein Sohn Michael auf Instagram:

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It is with tremendous sadness that my brothers and I announce that Kirk Douglas left us today at the age of 103. To the world he was a legend, an actor from the golden age of movies who lived well into his golden years, a humanitarian whose commitment to justice and the causes he believed in set a standard for all of us to aspire to. But to me and my brothers Joel and Peter he was simply Dad, to Catherine, a wonderful father-in-law, to his grandchildren and great grandchild their loving grandfather, and to his wife Anne, a wonderful husband. Kirk's life was well lived, and he leaves a legacy in film that will endure for generations to come, and a history as a renowned philanthropist who worked to aid the public and bring peace to the planet. Let me end with the words I told him on his last birthday and which will always remain true. Dad- I love you so much and I am so proud to be your son. #KirkDouglas

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Der Hollywood Reporter erinnert im Nachruf an Douglas' rebellischen Geist: "Zu seinen wichtigsten Leistungen zählt vielleicht, dass er gegen das Establishment der McCarthy-Ära aufbegehrte, indem er 1960 'Spartacus' produzierte und darin als Sklave auftrat. Damit wurde der Schauspieler zum Helden für alle jene, die in Hollywood auf die Schwarze Liste geraten waren. ... Douglas brüskierte das Establishment immer wieder mit seinen Ansichten und hatte die Courage, sie auch zu begründen. 'Ich war schon immer ein Draufgänger', sagte er einmal."

Klar und elegant: der Horrorfilm "The Lodge"

Schade findet es Perlentaucherin Olga Baruk, dass das österreichische Regieduo Veronika Franz und Severin Fiala nach ihrem meisterlichen "Ich seh, ich seh" für ihr englischsprachiges Debüt "The Lodge" zwar immer noch einen effektiven, aber eben auch eher konventionellen, aus gängigen Zutaten zubereiteten Horrorfilm vorgelegt haben: Der Film "beschwört gefühlt das volle Horrorprogramm, alles hier ist notorisch verschachtelt und bedeutsam. Die Kamera von Thimios Bakatakis (der regelmäßig mit Yorgos Lanthimos arbeitet) schwebt langsam umher, durchstreift die Räume, kommt näher, registriert in Großaufnahmen der Figuren den sich zunehmend abzeichnenden Wahn. Das schaut gut aus, wirkt aber lediglich wie eine weitere Genretrope." Das in einer verschneiten Hütte die Psycho-Dynamiken einer Schicksalsgemeinschaft auslotende Kammerspiel hat Presse-Kritiker Andrey Arnold hingegen überzeugt: "Die hantige Handschrift des Regiegespanns ist intakt. ... Unbehagen rinnt aus allen Ritzen des geräumigen, aber trotzdem beengenden Schauplatzes. Die Ausstattung (dunkle Holztäfelung, schwerer Steinkamin, Luster aus Hirschgeweih) trägt ebenso dazu bei wie feinnerviges Sounddesign, kriechende Zooms und eine subtil verfremdete Bildsprache." Dieser Film ist "visuell von größter Eleganz und Klarheit", freut sich Tobias Kniebe in der SZ.

In Russland wurde Ilya Khrzhanovskys Film "DAU.Natasha" de facto verboten, meldet Frank Herold im Tagesspiegel. Dabei handelt es sich um einen der viele Filme aus Khrzhanovsky DAU-Zyklus und um just jenen, der im Berlinale-Wettbewerb laufen wird. "Dem Künstler wird die 'Propagierung von Pornografie' vorgeworfen - ein Straftatbestand, auf den bis zu zwei Jahre Haft stehen. In dem Film gibt es eine Szene, in der eine Frau mit einer Flasche vergewaltigt wird."

Weitere Artikel: Patrick Heidmann spricht in der taz mit dem Schauspieler Chadwick Boseman über dessen Engagement gegen Polizeigewalt, wobei er in seinem neuem Film "21 Bridges" doch einen Polizisten spielt - allerdings einen "aufrichtigen". Sara Piazza schreibt in der taz über die Pläne, das Fischerhaus des 1994 gestorbenen Filmemachers Derek Jarman zu retten. Die FAS hat ihr Gespräch mit Bastian Pastewka über die neue Staffel seiner Comedyserie online nachgereicht. Für The Quietus wirft Mat Colegat einen Blick zurück auf Clive Barkers vor 30 Jahren erschienenen Horrorklassiker "Nightbreed". In der taz empfiehlt Carolin Weidner das queer-feministische Horrorfilmfestival "Final Girls Berlin". Deren Macherinnen sprechen im Bahnhofskino-Podcast und auf Dlf Kultur darüber, warum Horrorfilme und Feminismus keineswegs einen Widerspruch bilden.

Besprochen werden Roman Polanskis "Intrige" ("Man sollte sparsam mit Superlativen hantieren, aber dieser Film ist ein Meisterwerk", lobt Adam Soboczynski in der Zeit, weitere Kritiken in FR, Presse und Welt sowie bereits hier), Agnès Vardas Vermächtnis "Varda par Agnès" (taz, FR, unsere Berlinale-Kritik hier), Ulrich Köhlers und Henner Wincklers "Das freiwillige Jahr" (taz, SZ), der auf Netflix veröffentlichte New-York-Thriller "Uncut Gems" mit Adam Sandler (NZZ, unsere Kritik hier), die auf DVD veröffentlichte Horror-Anthologie "The Field Guide to Evil" mit Kurzfilmen von unter anderem Veronika Franz und Severin Fiala sowie Peter Strickland (taz), die zweite Staffel der ZDF-Serie "Bad Banks" (FR, FAZ) und mit "Birds of Prey" ein neuer Film aus dem DC-Superheldenuniversum, diesmal mit Margot Robbie als Schurkin Harley Quinn (Standard).
Archiv: Film

Bühne

In der SZ protestiert Laura Weissmüller gegen den geplanten Abriss der Frankfurter Bühnen - nicht nur, weil ein Neubau kein Zeichen für den Klimaschutz setzt, sondern vor allem, weil die städtischen Bühnen "wie einer der letzten offenen Orte im durchkapitalisierten Zentrum der Bankenstadt" wirken. Dass die Renovierung teurer sein muss als ein Neubau, leuchtet ihr auch nicht ein: "Muss es wirklich immer die aufwendigste Technik sein? Brauchen all unsere Gebäude überall und zu jeder Tages- und Nachtzeit den höchsten Komfort, die beste Ausstattung, das neueste Equipment? Gerade Oper und Schauspiel Frankfurt haben mit der Spielstätte Bockenheimer Depot, einem ehemaligen Straßenbahndepot, gezeigt, zu was sie auf einer Low-Tech-Bühne fähig sind. Vielleicht würde es dem deutschen Kulturleben guttun, mehr solcher rauen, unpolierten, unperfekten Spielorte zu haben."

Außerdem: In der Welt denkt Manuel Brug anlässlich von Katie Mitchells Blaubart-Projekt am Nationaltheater München (mehr in der FR) über den Mythos Blaubart nach.

Besprochen werden Jan Bosses Inszenierung der deutschen Erstaufführung von Ferdinand Schmalz' Hofmannsthal-Paraphrase "Jedermann (stirbt)"  am Schauspiel Frankfurt (SZ), Leoš Janáčeks Oper "Die Sache Makropulos" in Dessau (nmz), "Boris Godunow" und "Secondhand-Zeit" von Sergej Newski in Stuttgart (nmz) und die Urfassung von Beethovens "Fidelio", mit neuen Texten von Moritz Rinke und inszeniert von Amélie Niermeyer an der Wiener Staatsoper (FAZ).
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Kunst

"Wieder ein großer kunstdurchdrungener Mann, und wieder stellt sich heraus: ein Nazi", seufzt Hanno Rauterberg in der Zeit und blickt auf die Akte, die NSDAP- und SA-Mitgliedschaft von Werner Haftmann bezeugt, einem der bedeutendsten Kunsthistoriker der Nachkriegszeit, der nicht nur die Documenta mitbegründete, sondern auch Gründungsdirektor der Neuen Nationalgalerie in Berlin war. Wie bei Alfred Bauer hat sich auch bei ihm jahrzehntelang niemand aus der Kulturszene für seine Vergangenheit interessiert. Das mag auch daran liegen, dass Museen die "Uneindeutigkeit" der Nazi- und Nachkriegsjahre fürchten, die eine simple Trennung von Tätern und Opfern oft unmöglich macht, kritisiert Rauterberg: "Fast alle Kunsthäuser tun so, als seien zwischen 1933 und 1945 keine nennenswerten Bilder und Skulpturen entstanden. Sie unterschlagen, aus welchen Traditionen die vielen Hundert Künstler kamen, die Hitlers Regime zu Diensten waren. Vor allem aber ersparen sie sich die Frage, wie die Brüche des 20. Jahrhunderts auch die eigene Sammlung durchziehen und wie sich diese wechselvolle und manchmal auch abgründige Museumsgeschichte in den Ausstellungssälen aufarbeiten ließe." Ähnliche Verhaltensmuster zeigen sich für Rauterberg beim Umgang mit Raubkunst und kolonialistischer Beutekunst. Von den Museen gingen da wenig Impulse aus, "ganz so, als wären sie vor allem die Bewahrer des Status quo: die Hüter eines falschen Friedens".

Einen Fall von fehlgeleiteter Bilderstürmerei prangert der Theologe Jan-Heiner Tück in der NZZ an: Im Oktober letzten Jahres hatte der 26-jährige Wiener Aktivist, Student, Konvertit und Lebensschützer Alexander Tschuguell mehrere indigene Holzfiguren, sogenannte Pachamamas, aus der Kirche Santa Maria in Traspontina entfernt und im Tiber versenkt. Seine Begründung: Die Figuren seien erstens nicht wirklich alt und verstießen zweitens als Fruchtbarkeitssymbole gegen das erste Gebot: Du sollst keine anderen Götter neben mir haben. Tschuguell hatte seine Aktion und Erklärung gefilmt und auf Youtube gepostet, wo sie millionenfach gesehen wurde. Auch Kirchenobere haben seine Aktion begrüßt. Tück dagegen findet Tschuguells Aktion "historisch blind. Er sieht nicht, dass er genau die Tradition fortschreibt, die die Missionsgeschichte der Kirche bis heute belastet. Die Verachtung 'heidnischer' Kulturen im Namen der christlichen Wahrheit hat immer wieder ikonoklastische Praktiken freigesetzt. Das semantische Dynamit, das im Eifern für den wahren Gott gegen die falschen Götzen liegt, kann nur durch eine reflexive Haltung zum eigenen Erbe entschärft werden."


Claudius Schulze, Historische Hummelsammlung, zeitgenössische Hummelsammlung. Beide entomologischer Verein Krefeld, 2018. © Claudius Schulze

Katharina Rustler unterhält sich im Standard mit dem Künstler Claudius Schulze über dessen Ausstellung "Biosphäre X" im Kunsthaus Wien, die Artensterben und Künstliche Intelligenz thematisiert. Schulze erklärt seine Arbeit so: "Ich dokumentiere mit Fotografien das Artensterben und visualisiere mittels neuer Technologie neue Arten. Würde man zum Beispiel als Außerirdischer auf die Erde blicken, würde man unzählige Veränderungen beobachten: Das Klima wandelt sich, viele Lebewesen verschwinden, und neue Arten entstehen als kluge Maschinen. Und dafür ist genau eine Spezies verantwortlich: der Homo sapiens. ... Das ist die Frage, die ich aufwerfen möchte. Was ist einfacher: Das Artensterben aufzuhalten oder neue Arten zu entwickeln?

Weiteres: Nicola Kuhn unterhält sich für den Tagesspiegel mit dem nigerianischen Fotografen Akinbode Akinbiyi, dessen Ausstellung im Martin-Gropius-Bau heute Abend eröffnet. In der FAZ berichtet Stefan Trinks von heftigen Diskussionen über den Standort Karlsplatz für ein künftiges Documenta-Institut in Kassel. Besprochen wird eine Ausstellung von Richard Jackson in der Frankfurter Schirn (FR).
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Literatur

Verständnislos blickt Presse-Autor Karl Gaulhofer auf die in den USA tobende wütende Debatte um den Roman "American Dirt", dessen Autorin Jeanine Cummins vorgeworfen wird, als Weiße das Elend von mexikanischen Flüchtlingen literarisch auszubeuten: "Es ist das Wunderbare am Lesen von Romanen, dass wir uns dabei mit fremden Charakteren in fremden Milieus identifizieren. ... Dieses Wunder wollen wir uns nehmen lassen? Wenn sich die 'Progressiven' in Amerika an solch absurden Fronten zerfleischen, darf Trump triumphieren."

In der Zeit meint Sarah Pines: "Den Kern der Debatte um kulturelle Aneignung hat ... schon die britische Autorin Zadie Smith, Tochter einer Jamaikanerin und eines weißen Engländers, in einem Essay 2017 präzise benannt: Die Frage sei doch, schreibt Smith angesichts tausenderlei menschlicher Hautfarbenschattierungen, ob der Schaffende seinem Sujet gerecht wird. Die Person des Künstlers dürfe bei der Schaffung von Kunst oder Literatur keine Rolle spielen, denn 'wenn das Argument der Aneignung mit einem essentialistischen Rassenbild einhergeht', dann werde es bald völlig absurd: 'Sind meine Kinder zu weiß, um sich mit dem Leid der Schwarzen zu beschäftigen? Wie schwarz ist schwarz genug?'" Mehr zur "American Dirt"-Kontroverse hier.

Besprochen werden unter anderem Clarice Lispectors "Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau" (SZ), Kathrin Weßlings "Nix passiert" (Zeit) und Thomas Brussigs "Die Verwandelten" (FR, FAZ).
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Musik

Auf Pitchfork würdigt Simon Reynolds Andy Gill, den vor einigen Tagen verstorbenen Gitarristen der Postpunk-Band Gang of Four: Wenn er ihn mit nur einem Wort beschreiben müsste, "dann wäre es wohl 'stählern'. Es umfasst alles - von seinem innovativen, immens einflussreichen Gitarrenstil, der klang,als würde Metal splittern, bis zu seiner ernsten Bühnenpersona und seiner brüsken No-Nonsense-Haltung in Interviews. Als Gitarrenheld für eine Ära, die 'keine Helden mehr' rief, betrachtete Gill Rockmusik als einen Antriebsmotor für den Wandel, als einen Hammer, um die Wirklichkeit nicht nur zu reflektieren, sondern neu zu formen. ... Gills Vorbild war Wilko Johnson, der Gitarrist der maßgeblichen Pubrock-Band Dr. Feelgood. Johnson hatte einen einzigartig spitzen Stil für die Rhythumsgitarre in der Funktion einer Leadgitarre entwickelt, indem er die Saiten mit seinen verhärteten Fingernägeln anschlug statt mit einem Pick. Gill verstärkte diese stakkatoartige Überspanntheit, unterstrich die Reduktionen und Furchen im Spiel mit großen Zwischenräumen: eine Ästhetik der Leere, die er zum Teil aus seiner Liebe zum Reggae heraus bezog." Zur Hölle mit der Armut, rief die Band einst:



Weiteres: Kai Eckold (taz) und Tilmann Otto (Tagesspiegel) erinnern an Bob Marley, der heute 75 Jahre alt geworden wäre. Mit dessen Sohn Ziggy Marley hat sich Hannes Soltau für den Tagesspiegel unterhalten. In der FAZ schreibt Achim Heidenreich einen Nachruf auf den Komponisten Volker David Kirchner.
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