Efeu - Die Kulturrundschau

Weil er liebte

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19.05.2020. Michel Piccoli ist tot. Die Feuilletons trauern um einen Giganten des französischen Kinos, der Bürger und Aristokrat zugleich war, Stimme und Schweigen, aber immer ein großer Liebender. Geht mit ihm die Geschichte des europäischen Kinos zu Ende?  Der Frankfurter Stadtplaner Roland Burgard erinnert in der FR daran, wie er den Architekten das Museumsufer abtrotzte. Die Welt feiert das Berliner Grau des Malers Hans Baluschek. In The Quietus erzählt der britisch-indische Musiker Paul Purgas vom Aufbruch der indischen Elektro-Musik in den sechziger Jahren.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.05.2020 finden Sie hier

Film

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Eine Epoche des Kinos ist an ihr Ende gekommen: Der große, einzigartige Michel Piccoli ist tot. Im Grunde war er das Gesicht der französischen Filmkunst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie Claudia Lenssens beeindruckende Auflistung auf ZeitOnline unter Beweis stellt: Er "arbeitete mit Louis Malle, Jacques Rivette, Francis Girod, Michel Deville, Jacques Rouffio und Alain Resnais. Gleich mehrere Kultfilme drehte er mit Luis Buñuel, Jean-Luc Godard, Claude Sautet und Manoel de Oliveira. ... Piccoli verkörperte Bürger und Aristokraten, Unternehmer, Staatsmänner, Künstler und Filmleute, bizarre komödiantische Kunstfiguren, zynische Gefühlsextremisten und nicht zuletzt in sich gekehrte, zaudernd melancholische Männer - an der Seite von Brigitte Bardot, Catherine Deneuve, Jeanne Moreau und eben Romy Schneider."



Auch Andreas Kilb in der FAZ ist schwer getroffen angesichts dieses Verlusts für den Kino-Kontinent: Hier "verglüht ein ganzes Arsenal von Erinnerungen, Bildern, Momenten, Abenden im Kino, Nächten vorm Fernseher, Begegnungen, Träumen. Eine Zeit wird versiegelt, ins Museale entrückt, die eben noch greifbar war, lebendige Vergangenheit, mit uns verbunden durch die Gegenwart seines Spiels. Trauernde neigen zu Übertreibungen, aber wenn wir irgendwann, wieder mit kühlem Kopf, gefragt werden, ob es den einen großen europäischen Filmschauspieler je wirklich gegeben hat, dann wird die Antwort lauten: Ja, es gab ihn. Sein Name war Piccoli, Michel Piccoli."

Camille Nevers schreibt einen wunderschönen Nachruf in Libération: "Piccoli war nicht liebenswert, aber doch geliebt: Warum? Weil er liebte. Es gab immer die Kraft des Liebenden in Piccoli, um den das Universum zu kreisen schien... Was er ins Kino gebracht hat, ist die Stille, eine Möglichkeit, dort still zu sein. Zuerst sein Schweigen und dann die Stimme, die ihn eben noch störte." Ebenfalls sehr lesenswert ist Clément Ghys Porträt von 2013 in Libération: "Es gibt das Rätsel Piccoli, die über das Feingefühl dieses Mannes hinausgeht. Sein einzigartiger Platz im europäischen Kino, seine Männlichkeit, die stets jeden Machismo vermied, der Eindruck, schon immer erwachsen gewesen zu sein, das alles macht ihn faszinierend."



Piccoli suchte die "zerrissenen, verzweifelten Figuren, die versuchen, sich selbst zu verstehen", schreibt Susan Vahabzadeh in der SZ. Wer Piccoli durch die Filmgeschichte folgt, beobachtet ein Werk der intimen Präsenz, erklärt Gerhard Midding in der Welt: Piccoli "hat sich auf der Leinwand mannigfach entblößt, auch im Wortsinne einer beeindruckenden, uneitlen Fleischlichkeit. Vor allem aber ließ er zu, dass die Regisseure verstörende, nachgerade monströse Facetten an ihm offenbarten. Er tat es mit der Furchtlosigkeit des Interpreten, der bereit ist, sich großzügig auf mancherlei moralischen Zwiespalt einzulassen, der aber vielleicht insgeheim doch darauf spekuliert, dass man in seinen Rollen eher ein Alter Ego des Filmemachers erahnen wird."

Einen "Sinn fürs Unkontrollierbare und Fließende" bescheinigt ihm Patrick Straumann in der NZZ. Dieses "Faible für das Ungezügelte konnte zur Anarchie auswachsen", schreibt Dominik Kamalzadeh im Standard und erinnert an Piccolis vielleicht kontroverseste Rolle: "In Claude Faraldos 'Themroc' bricht er als frustrierter Arbeiter mit seinem Dasein, mauert sich in der Wohnung ein und lässt auch die Sprache hinter sich - fortan wird gegrölt und gegrunzt." Eine Rolle, die "niemand im Jahr 1973 so überzeugend verkörpern konnte wie Michel Piccoli", meint Daniel Kothenschulte in der FR.



Weitere Artikel: Carolin Ströbele beobachtet für ZeitOnline, wie manche Film- und Fernsehproduktionen - allen voran: die Daily Soaps - unter erschwerten Coronabedingungen langsam wieder den Betrieb aufnehmen. Besprochen werden die Netflix-Serie "The Last Dance" über Michael Jordan (Welt) und Barbara Beuys' Biografie über Asta Nielsen (FAZ).

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Architektur

Im Interview mit der FR vermisst der Architekt und Stadtplaner Roland Burgard im Streit um die Frankfurter Bühnen vor allem politische Führung. Burgard selbst hatte den Bau der Museumsmeile koordiniert: "Das Filmmuseum zum Beispiel kostete 14,7 Millionen Mark, das Architekturmuseum 12 Millionen, das Kunsthandwerkmuseum 43 Millionen, das Museum für Vor-und Frühgeschichte 32 Millionen. Ich habe mich bei den Architekten sehr unbeliebt gemacht, weil ich sehr aufs Geld geschaut habe."

Weiteres: In der FAZ erzählt Paul Ingendaay noch einmal die Geschichte von Aufstieg und Fall des spanischen Immobilien-Tycoons Francisco Hernando, dessen Geisterstädte im Nirgendwo zur Metapher für Gier und maßlose Übertreibung wurden. Laura Weißmüller berichtet in der SZ von Ansätzen, mehr praktisches Wissen in das Architekturstudium einzugliedern, etwa über Design-Build-Projekte, bei denen vom Entwurf bis zur Ausfertigung ein ganzes Bauprojekt verfolgt wird, oft unter sozialen Gesichtspunkten.
Archiv: Architektur

Kunst

Hans Baluschek: "Eisenbahner-Feierabend", 1895. Bröhan-Museum

Tilman Krause ruft in der Welt dazu auf, eine echte Lücke zu füllen und im Bröhan-Museum den Maler Hans Baluschek zu entdecken, den er gegenüber Käthe Kollwitz, Heinrich Zille oder Georg Grosz als den Sozialdemokraten unter den Berliner Künstlern einordnet: "Doch wie delikat ist das gestaltet! Schon der Verzicht auf Ölfarbe, statt dessen die Benutzung von Ölkreidestiften und Deckfarbe erzeugt, um Baluschek selbst zu zitieren, 'einen sehr farbigen, wenn auch etwas stumpfen Gesamtausdruck, der die Berliner Atmosphäre geben soll, wie ich sie in ihrem grauen Charakter empfinde'. Unzählige Male hat Baluschek auf dieses Verfahren zurückgegriffen und in Werken wie 'Feierabend' oder noch spezifischer 'Eisenbahner-Feierabend', mit 'Arme Liebe', 'Obdachlose', 'Fabrikarbeiterinnen', 'Wartesaal, 4. Klasse' und dergleichen voll Empathie und mit großer Aufmerksamkeit für Mienen wie auch Körpersprache der Mühseligen und Beladenen die Welt der Armen zum Thema gemacht."

Weiteres: Claus Leggewie blättert zumindest durch den Katalog der New Yorker Schau "Marking Time: Art in the Age of Mass Incarceration", mit der Nicole Fleetwood eigentlich im MoMA PS 1 Werke von Strafgefangenen zeigen wollte. Sandra Danicke testet für die FR den neuen Parcours durch die Gegenwartskunst im Frankfurter Städel. In der NZZ ist sich Philipp Meier sicher, dass auf dem Kunstmarkt eigentlich nie Geldanlagen oder Investionsobjekte gehandelt wurden, sondern Objekte einer schwärmerischen Liebe, und die Sammler werden sich das endlich eingestehen können, wenn sie ihre irrationale Schwärmerei nicht länger zweckrationalisieren müssen. Besprochen wird die große Schau zum Bildhauer Max Klinger im Museum der bildenden Künste in Leipzig (FAZ).
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Bühne

Peter Münch liefert in der SZ Hintergründe zum Abriss des Nationaltheaters in Tirana, mit dem gestern allen Protesten zum Trotz begonnen wurde, um in der zentralen Innenstadt eine Shoppingmall zu errichten (mehr hier und hier). Der Tagesspiegel meldet, dass die Kulturminister eine Öffnung der Bühnen ab dem 28. Mai ins Auge gefasst haben. In der Welt schöpft Manuel Brug Hoffnung, doch noch das ein oder andere Sommerfestival in Salzburg oder Verona besuchen zu können. Der Standard meldet, dass neue österreichische Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer wird, die bisher die Staatskanzlei von Präsident Alexander van der Bellen leitete.
Archiv: Bühne

Design

In der NZZ bespricht Marion Löhndorf Katja Eichingers Essayband "Mode und andere Neurosen", die darin eine "Phase der Ernüchterung" für die Modewelt nach den Extremen Billig- und Luxusmode kommen sieht: "'Die bisherigen Formen von Exzess sind vorbei.' Was jetzt komme, könnte dem Wunsch nach Reinigung, Läuterung und Reform entsprechen, der sich schon in Lifestyle-Geschäftsmodellen wie Gwyneth Paltrows Goop angedeutet habe, in denen es permanent um die Tiefenreinigung des Körpers und des Gesichts - und am Ende auch des eigenen Innenlebens - gehe, meint Eichinger, 'diese Detox-Religion'."
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Literatur

Mit historischen Romanen, die von "starken Frauen" handeln, braucht ihr der deutsche Buchmarkt nicht mehr zu kommen, ärgert sich Nadine Paque-Wolkow auf 54books. Der Grund: Um stark zu werden, müssen die Frauen zunächst einmal jede Menge - und oft genüsslich ausgeschmücktes - Leid bis hin zur Vergewaltigung durchstehen. Sie wünscht sich in diesem Segment der Literatur "mehr Mut Geschichten zu erzählen, die sich nicht in die bequeme, biedere Hängematte der Familiensaga legen. Geschichten, die einem roten Faden folgen, Geschichten die wirklich etwas zu erzählen haben und nicht ihre Grundidee in aufgebauschtem Drama und Essensszenen zu ersticken. Ich will nicht immer nur Heldinnen sehen, die normschön in den Augen der Leser*innen von heute sind. Gertenschlank, mit wallendem lockigen Haar bis zum Hintern und üppigen Busen und natürlich sind alle weiß, cis und heterosexuell."

Weitere Artikel: Gerade jetzt lohnt sich der Griff zu Joachim Lottmanns Romanen, meint Frank Jöricke im Freitag. Die Frankfurter Buchmesse gibt sich weiterhin zuversichtlich, was ihr Stattfinden im Herbst betrifft, schreibt Gerrit Bartels im Tagesspiegel. Tobias Schwartz durchforstet für den Tagesspiegel Romane von Thomas Mann und Romain Rolland nach Spuren Beethovens. Roswitha Budeus-Budde schreibt in der SZ einen Nachruf auf Hans-Joachim Gelberg, der sich in den 70ern einen Namen als Verleger von Kinderliteratur machte. Dlf Kultur hat ein Gespräch mit ihm aus dem Jahr 2016 wieder online gestellt.

Besprochen werden unter anderem Nina Bunjevacs Comic "Bezimena" (SZ, an dieser Stelle resümierten wir bereits ein Gespräch mit der Autorin), der Band "Pippi Langstrumpf - Heldin, Ikone, Freundin" (taz), Anna Katharina Hahns "Aus und davon" (NZZ) und Amir Hassan Cheheltans "Der Zirkel der Literaturliebhaber" (FAZ).
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Musik

Für eine BBC-Radiodoku (hier zum Nachhören) hat der britisch-indische Musiker Paul Purgas die bislang kaum erforschte Geschichte der indischen elektronischen Musik, wie sie in den Sechzigern und Siebzigern am National Institute of Design betrieben wurde, erkundet. Als Quellenmaterial diente ihm der Zufallsfund einer Kiste mit alten Tonbändern. Für The Quietus hat er darüber gesprochen. Zuweilen erinnerte ihn die Aufbruchstimmung der indischen Musiker und Designer an die ihrer Zeitgenossen in Studios in Köln und London. "In den Jahren nach 1947 gab es dieses Moment von Jawaharlal Nehrus Vision, sich das Land nach seiner Unabhängigkeitserklärung vorzustellen. In den Gesprächen, die wir für diese Dokumentation geführt haben, gab es diese wirklich wunderschöne Szene, diese Idee, dass Indien damals noch träumte, dass man die Möglichkeiten der Vorstellungskraft erahnte, ein utopisches Set an Ideen und Ideologien, das daraus hervorging, Indiens Zeit nach dem Schritt in die Unabhängigkeit zu formen."

In einem Gespräch für The Wire geht Purgas genauer auf die Musik ein, die es auf den Bändern zu hören gibt (ein paar Klangbeispiele bietet der Artikel obendrein). Als Grundlage diente ein Moog-Synthesizer: "Viele der Aufnahmen weisen Klangmanipulationen indischer Rhythmen auf. Die Studenten oder Komponisten brachten im Studio diese Referenzpunkte mit an den Tisch, weil sie sich mit westlicher Musik nicht gut auskannten. Sie hatten indische Musik dabei, das war ihre Art der Schnittstelle mit dem Moog. Aber ein weiterer Aspekt wird deutlich, der weniger mit musikalischen Traditionen zu hat, als vielmehr mit der Umgebung selbst. Viele der Komponisten kamen vom Land, vom Dorf. Es ist daher sehr interessant zu beobachten, dass viele der Aufnahmen zum Beispiel Vögelklänge rekonstruieren - die Idee, die eigene Umwelt durch dieses Instrument zu re-imaginieren. Auf gewisse Weise fühlt sich das für mich sehr indisch an." Auch der Guardian hat mit Purgas gesprochen.

Sehr zufrieden zeigt sich Igor Levit im Tagesspiegel-Gespräch, wenn er auf seinen Zyklus an Corona-Onlinekonzerten zurückblickt: "Ich habe Beethoven und Bach gespielt, aber auch Morton Feldman, Ronald Stevens Monsterwerk 'Passacaglia on DSCH' oder Billy Joel. Mein Traum von einer Musik ohne Hierarchie ist wahr geworden. Die ungeheure Offenheit dafür hat mich sehr bewegt."

Weitere Artikel: Für die Berliner Zeitung unterhält sich Katja Schwemmers mit der finnischen Sängerin Alma. Reiner Wandler stellt in der taz die WG-Band Stay Homas aus Barcelona vor, deren Corona-Songs in Spanien viral gegangen ist. Im Logbuch Suhrkamp reicht der Düsseldorfer Musikologe Rüdiger Esch einen Nachruf auf den (bereits am 21. April gestorbenen) Kraftwerk-Musiker Florian Schneider nach (vorangegangene Nachrufe hier und dort).

Besprochen werden Perfume Genius' neues Album "Set My Heart on Fire Immediately" (Jungle World, Pitchfork), eine Compilation mit Aufnahmen, die Moondog in den Jahren von 1953 bis 1962 aufgenommen hat und den New Yorker Avantgarde-Straßenmusiker "als großen Perkussionisten" zeigen, wie Jens Uthoff in der taz schreibt, das neue Album der Einstürzenden Neubauten (Tagesspiegel, mehr dazu hier und dort), Jon Savages Buch "Sengendes Licht, die Sonne und alles andere" über die Geschichte von Joy Division (Standard), Moses Sumneys Album "Grae" (Berliner Zeitung, Pitchfork) und neue Afropop-Veröffentlichungen, darunter das Debütalbum "Alewa" von Santrofi, das so klingt, als hätte die Band schon zu besten Zeiten Stars wie Fela Kuti und Orlando Julius eingeheizt, wie Jonathan Fischer in der SZ schreibt. Da hören wir gerne rein:

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