Efeu - Die Kulturrundschau

Im Bett liest er "Monsieur Bovary"

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.07.2020. Die taz feiert die verfluchten Soundwunder der Clubkultur, die weiterleben muss. Die SZ fragt anlässlich von Burhan Qurbanis Döblin-Verfilmung "Berlin Alexanderplatz", ob ein schwarzer Flüchtling nicht genug Gepäck mit sich trägt, als dass man ihm auch noch eine deutsche Moralerzählung überstülpen muss. Die FAZ bestaunt die neue Deichmann-Bibliothek in Oslo.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.07.2020 finden Sie hier

Musik

Lars Fleischmann weist in der taz die zahlreichen Abgesänge auf die Clubkultur im Zuge von Corona- und Klimakrise weit von sich: Nicht nur ist die Clubkultur bewahrenswert, weil sie immer auch ein Zufluchtsort für Diskriminierte war, sondern auch, weil die dort gespielte Musik sich immer wieder neu erfindet: "Japanischer Pop und Filter-House werden zu Future Funk, Hardcore- und Gabber-Dance wurden von Nekromanten als verfluchte Soundwunder wiederbelebt; und der Synkretismus, mit dem kolumbianische KünstlerInnen wie Dengue Dengue Dengue Cumbia-Tradtionen in langsam-wankende, klebrige House-Musik verwandelten, ist das Kennzeichen dieser Tage geworden. ... Wo sich früher europäische KünstlerInnen der Sounds der globalen(-kulturellen) Peripherie schlicht bedient hätten, spielen die AkteurInnen aus Jakarta und Kampala nun gleich selbst auf Partys und Festivals; die Kettenreaktion der globalisierten Präsenz und Sichtbarkeit wird kaum aufhaltbar sein."

Durchaus zweischneidig ist das Debüt von Dinner Party, meint Daniel Gerhardt auf ZeitOnline: Die Supergroup aus dem Kendrick-Lamar-Umfeld - bestehend aus Terrace Martin, Robert Glasper, Patrick Denard Douthit und dem Jazzer Kamasi Washington, der in den letzten Jahren zu einigem popkulturellem Ruhm gekommen ist - bedient einen eher süßlich-entspannten Wohlfühlsound. Einerseits stehe dies in der Tradition von Marvin Gaye, der seinen Protest in schmelzend schöne Soulsongs goss, andererseits "bleiben die Songs der Jazz- und Rapmusiker so vornehm, dass sie zwischen Protest und Gegenprotest, den Scheindebatten des amerikanischen Nachrichtenfernsehens und den ironischen Aufarbeitungen dieser Scheindebatten durch das amerikanische Late-Night-Fernsehen einfach zu verpuffen drohen." Wir hören rein:



Weitere Artikel: In der FAZ spricht Jan Brachmann mit Jørgen I. Jensen über den dänischen Komponisten Carl Nielsen. Ueli Bernays wünscht sich in der NZZ für die Popkultur wieder mehr Mut zum Schund-Urteil. Der SPD-Politiker Ulrich Bartels erinnert sich in der FAZ mit Wonne an die Zeit zurück, als Joachim Kaiser im Radio Beethovens Klaviersonaten vermittelte.

Besprochen werden L. A. Salamis "The Cause of Doubt & a Reason to Have Faith" (taz), Arvo Pärts neu gemasterte CD "Works For Choir" (taz), Frank Zappas Box "Mothers 1970" mit Archivmaterialien (Standard), Sofia Portanets Debütalbum "Freier Geist" (Tagesspiegel) und neue Popveröffentlichungen, darunter "Ultimate Success Today", mit der die Detroiter Post-Punk-Band Protomartyr laut SZ-Popkolumnistin Ann-Kathrin Mittelstrass "formidablen Krach" und somit "die perfekte Sommerverweigerungsplatte" vorlegt. Wir riskieren ein Ohr:

Archiv: Musik

Kunst

Daniela Comani, "Eine glückliche Ehe (A Happy Marriage)" fortlaufende Serie seit 2003 Sonderedition Museum für Photographie Braunschweig, 2020


"Illusionen der Beobachtung", so der Titel einer Ausstellung mit Arbeiten von Daniela Comani, Sanna Kannisto und Kata Geibl im Fotomuseum Braunschweig, sitzt taz-Kritikerin Bettina Maria Brosowsky natürlich nicht auf. Trotzdem gefallen ihr die neuen Perspektiven auf traditionelle Aufgaben der Fotografie: Comani zum Beispiel zeigt ihre Langzeitserie "Glückliche Ehen", für die sie selbst in die Rolle von Ehemann und -frau schlüpfte. "So setzt sie dem in konservativen Kreisen ja gern beschworenen 'Gender-Wahnsinn' subtil beobachtete Alltäglichkeiten entgegen, die humorvoll mit Rollenbildern und geschlechtsspezifischen Erwartungshaltungen spielen. Im Supermarkt etwa prüft der Mann schon mal das Spirituosenangebot, während die Frau sich hinter ihm noch mit dem sperrigen Einkaufswagen abmüht. Im Büro sitzt sie am Telefon, er konzentriert sich am Computer. Und im Bett liest er 'Monsieur Bovary' von Gustave Flaubert, sie Hemingways 'The old Woman and the Sea'."

Weiteres: In der FR berichtet Ingeborg Ruthe vom Sommerkunstfestival "Rohkunstbau" im brandenburgischen Spreewaldschloss Lieberose.

Besprochen werden eine Werkschau der nigerianisch-belgischen Künstlerin Otobong Nkanga im Martin Gropiusbau in Berlin (tsp), eine Ausstellung des Berliner Straßen-Fotografen Holger Biermann über Berlins Corona-Zeit im Supalife Kiosk in Berlin (Berliner Zeitung), Halina Dyrschkas Film "Jenseits des Sichtbaren - Hilma af Klint" (monopol), Sabine Kampmanns Fotoband "Bilder des Alterns - Greise Körper in Kunst und visueller Kultur" (Berliner Zeitung) und die Ausstellung über "Wald ohne Bäume in Kunst und Wissenschaft" in der ERES-Stiftung in München (FAZ).
Archiv: Kunst

Bühne

Im Freitag porträtiert Thomas Irmer den Schauspieler Burghart Klaußner, der ab September in Karin Beiers Hamburger Inszenierung von Rainald Goetz' "Reich des Todes. Politische Theorie" mitspielt.

Besprochen werden die Performance "Aktion: Aktion!" des Kollektivs Pièrre.Vers beim Düsseldorfer Asphaltfestival (nachtkritik) und das von Alexander Wewerka und Jonas Tinius herausgegebene Buch "Der fremde Blick - Roberto Ciulli und das Theater an der Ruhr" (freitag).
Archiv: Bühne

Film

Schimmerndes Neonlicht: "Berlin Alexanderplatz" von Burhan Qurbani

Große Probleme hat SZ-Kritiker David Steinitz mit Burhan Qurbanis loser Döblin-Verfilmung "Berlin Alexanderplatz" (unsere Kritik), die das große literarische Vorbild aus Perspektive eines Schwarzen Geflüchteten perspektiviert: "Eine Geschichte wird nicht automatisch modern oder moralisch wertvoller, weil der Protagonist schwarz ist. Vielmehr könnte man umgekehrt die Frage stellen, ob man einer Figur, deren Schicksal wirklich gar nichts mit den Problemen eines Franz Biberkopf zu tun hat, zur Begrüßung in Berlin auch noch diese deutsche Moralerzählung überstülpen muss." Völlig anders sieht es Gunda Bartels im Tagesspiegel: Die "kühne Idee", die dem Film zugrunde liegt, "ist sofort stimmig. ... Qurbanis Berlin-von-unten-Saga besticht neben der Relevanz der Themen Migration, Rassismus und moderne Sklaverei, seinem atmosphärischen Sounddesign und der in großzügigem Cinemascope retardierenden Slowmotion durch die von einem expressiven Farbkonzept geprägte visuelle Gestaltung. Rot, Gelb, Blau, Türkis, Lila - die Berliner Nacht der Clubs, Tabledancebars und Bordelle steckt voller Leuchtstoffröhren."

Besprochen werden außerdem Patricio Guzmáns "Die Kordillere der Träume" (ZeitOnline), Christian Klandts Kneipenfilm "Leif in Concert - Vol.2" (Berliner Zeitung) und die auf Starzplay gezeigte Serie "Normal People" (taz).
Archiv: Film

Literatur

Früher war nicht nur mehr Lametta, sondern auch mehr Sprengstoff in der amerikanischen Literaturkritik: Dass das auch mit der Soziologie eines Berufsbildes zusammenhängt, in dem es heute kaum noch volle Festanstellungen gibt und entsprechend die Abhängigkeiten und Risiken wachsen, entnimmt SZ-Autor Carlos Spoerhase einer Studie von Phillipa Chong. Anders als etwa im Feld der Gastronomiekritik "gehören Kritiker und Kritisierte meist der gleichen sozialen Gruppe an; früher oder später laufen sie sich wieder über den Weg. ... Die grundsätzliche Verhaltensmaxime lautet dann play nice. Von diesem institutionalisierten Wohlwollen gibt es nur eine Ausnahme. Chong hat herausgefunden, dass die Kritiker die Maxime 'You can punch up, but never down' beherzigen. Nach unten buckeln, nach oben treten. Wer sich gerade erst im Literaturbetrieb etabliert hat, darf allenfalls sachte kritisiert werden; Debüts sind immer zu begrüßen."

Weitere Artikel: Alexander Menden spricht in der SZ mit dem Literaturwissenschaftler Christoph König, der in Osnabrück derzeit an einer Rilke-Gesamtausgabe arbeitet. In der SZ wundert sich Susan Vahabzadeh sehr darüber, dass dem Comiczeichner Warren Ellis vorgeworfen wird, mit mehreren Frauen gleichzeitig ein Verhältnis gehabt zu haben: "Juristisch ist nichts davon von Belang."

Besprochen werden unter anderem die ersten zwei Bände der Gesamtausgabe des Entencomic-Zeichners Don Rosa (Tagesspiegel), Mario Vargas Llosas "Harte Jahre" (Freitag), Eliot Weinbergers Essayband "Neulich in Amerika" (Tagesspiegel), Ludwig Fels' "Mondbeben" (FR) und Juri Andruchowytschs Episodenroman "Die Lieblinge der Justiz" (FAZ).
Archiv: Literatur

Architektur

Lernen mit Blick aufs Meer: die Deichmann-Bibliothek von Lund Hagem Arkitekter. Foto von den Architekten


Nach der Eröffnung ihrer vielbestaunten neuen Oper 2008 dürfen sich die Osloer jetzt auf drei weitere Prachtbauten freuen, berichtet in der FAZ Ulf Meyer: Munch- und Nationalmuseum sowie die neue Deichman-Bibliothek von Lund Hagem Arkitekter, die gleich neben der Oper liegt. Von außen versucht sie gar nicht, der Oper von Snohetta Konkurrenz zu machen, so Meyer, dem die Mischung aus Klarheit und Vielfalt im Innern um so besser gefällt. Als Volksbibliothek "möchte sie alle Benutzergruppen erreichen, auch Kinder und Jugendliche. Die Kinderetage bietet deshalb Spielzonen, Musik-, Film- und Comic-Abteilungen, ein Mini-Kino und eine Bühne. Neue Technologien wie Aufnahmestudios und Medienwerkstätten sollen nach dem Willen von Knut Skansen, dem Direktor der Bibliothek, 'aktiven Kultur- und Wissensaustausch' für alle Generationen fördern. Er sieht sein neues Haus als 'niedrigschwelligen Treffpunkt für Kultur'." Dazu gehört auch, dass die Nutzung unentgeltlich ist.

Der Westen sollte nicht gegen die Umwidmung der Hagia Sophia protestieren, sondern lieber mit gutem Beispiel vorangehen, meint Bazon Brock in der Welt: "Wie großartig wäre es, wenn wir jetzt den Islamisten in Istanbul Atatürks geniale Strategie demonstrieren würden, indem wir alle gotischen Kathedralen in Frankreich, England und Deutschland musealisierten, von den ebenso grandiosen Kultbauten anderer Epochen nicht zu schweigen! Faktisch ist das längst geschehen, denn durch die Kathedralen toben Touristenhorden als Delegierte des Kapitals, und die wenigen Sinnsucher beten in den Museen."

Weitere Artikel: In der NZZ wünschen sich die Architektin Anne Pfeil und der Stadtentwickler Jürg Sulzer für die Zukunft weniger "gesichtslose" Moderne und mehr am Vorbild der Renaissance orientierte "schöne" Städte.
Archiv: Architektur