Efeu - Die Kulturrundschau

Lockend leise Höchsttöne

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02.11.2020. Die Feuilletons trauern um Sean Connery und bekommen noch einmal weiche Knie vor dieser Stimme, dieser Agenteneleganz und lässigen Männlichkeit  mit proletarischer Note. Auf ZeitOnline berichtet Can Dündar, wie Fernsehserien in der Türkei nationalistische Dschihad-Stimmung verbreiten. Das Kino braucht nicht nur Coronahilfen, sondern eine Zukunftsperspektive, ruft Lars Henrik Gass im DlfKultur. Die SZ lässt sich im Wolkenkuckucksheim von Caroline Wettergreens Koloraturen betören. Und Marlene Streeruwitz würde mal gern im Operettenreperoire aufräumen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.11.2020 finden Sie hier

Film

Reine Agenteneleganz: Sean Connery James Bond in "Goldfinger"

Die Feuilletons trauern um Sean Connery. Dass sich der Gentleman des Kinos, der mit einem angedeuteten Lächeln ganze Eisberge zum Schmelzen brachte, aus erbärmlichen Lebensverhältnissen in Edinburgh bis ins Zentrum der Unterhaltungsindustrie vorgearbeitet hatte, erwähnen alle Nachrufe so selbstverständlich wie die Tatsache, dass er einmal zu Protokoll gegeben hat, es sei unter bestimmten Bedingungen in Ordnung, Frauen zu schlagen. 1962 verlieh er James Bond sein Gesicht, das bis heute über der Popfigur als Referenzpunkt schwebt, und brachte damit "eine neue lässige Männlichkeit, frei von gockelhaftem Gehabe" ins Kino, schreibt Birgit Roschy auf ZeitOnline. "Connery war das Bindeglied zwischen Spencer Tracy und Clark Gable, den Helden von altem Schrot und Korn, zu den Unbeschädigbaren à la Arnold Schwarzenegger und Sylvester Stallone", erklärt Hanns-Georg Rodek in der Welt. André Malberg nähert sich im Perlentaucher-Nachruf Connery von seiner Stimme her und schließt: "Der James Bond der Herzen war mehr als ein augenfreundlicher Schönling, dem mit seiner berühmtesten Rolle der Durchbruch zum Weltstar über Jahrzehnte hinweg gelang. Er war auf der Leinwand wie in ihrem Schatten die anmutigste Repräsentation der Risse, die im Mann des letzten Jahrhunderts aufkeimten und den heutigen prägen."



Und sein Bond war eben doch noch mehr als Jet-Set, Flirts und Stilbewusstsein, schreibt David Steinitz auf der Seite Drei der SZ: Connery "gab 007 mit seinem rauen Charme immer auch einen leichten Straßenkötertouch, der den Zuschauern signalisierte, dass er von ganz unten kam und dass folglich auch sie in dieses Paradies eintreten könnten. Mit dieser proletarischen Note löste Sean Connery auch elegant das Problem, dass James Bond mit seinem Interesse für gute Kleidung und gutes Essen nach dem Moralverständnis der Nachkriegszeit eigentlich kein Weiberheld, sondern ein weibischer Held war." So ist Connerys Bond "die perfekte Werbefigur des Nachkriegskapitalismus".

Ideologiekritische Anwürfe, wie sie in den 60ern immer wieder gegen Bond laut wurden, zielten mangels Widerstand einigermaßen ins Leere, hält Andreas Kilb in der FAZ fest: "Die Superschurken à la Blofeld und Goldfinger, gegen die er antreten musste, waren ihm auch deshalb unterlegen, weil sie gleich die ganze Welt beherrschen wollten, während er nur auf den Urlaub mit seiner nächsten blonden oder brünetten Flamme hinarbeitete. In seiner Effizienz war Bond das riesenhaft vergrößerte Inbild der kleinen Angestellten im Publikum: ein Rädchen im Getriebe wie sie, aber ausgestattet mit einer Kraft und Cleverness, die selbst dem Teufel ein Schnippchen schlug."

Daniel Kothenschulte würdigt Connery in der FR als "letzten Ritter unserer Zeit". Andreas Conrad (Tagesspiegel) und Marion Löhndorf (NZZ) erinnern daran, dass man Connery keineswegs auf Bond reduzieren könne. Dem schließt sich Dominik Kamalzadeh im Standard an und erinnert dabei insbesondere auch an John Boormans psychedelischen Science-Fiction-Knaller "Zardoz", in dem Connery es im roten Männerbikini an britischer Agenteneleganz beträchtlich mangeln ließ: "So verwegen wie als primitivistischer Rebell mit Pferdeschwanz, Schnauzer und Overknee-Stiefel sah Connery nie wieder aus." Diesen Film muss man wirklich gesehen haben, um ihn glauben zu können. Einen kleinen Eindruck vermittelt der Trailer:



Dass die Kinos Unterstützung im Kultur-Lockdown bekommen, hält Lars Henrik Gass, Leiter der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen, im Dlfkultur-Gespräch für völlig richtig, unterstreicht aber auch: "Es wurde versäumt, dem Kino eine Zukunftsperspektive zu geben, und zwar von beiden Seiten - von der Kulturpolitik, aber auch von den Kinobetreibern und den Verbänden selbst, die im Grunde an veralteten Geschäftsmodellen festhalten und eigentlich einer nicht mehr zeitgemäßen Kinovorstellung anhängen. Den Kampf gegen die Mediatheken, gegen die Streamingdienste halte ich wirklich für den absolut falschen Weg. Man kann nicht anderen vorwerfen, dass sie erkennbar etwas Richtiges machen und auf eine Nachfrage treffen." Vielmehr sollte man "dieses Moment der natürlichen Musealisierung, des Historisch Werdens von Kino eigentlich nutzen, um diesen Prozess zu strukturieren und in vernünftige Bahnen zu bringen."

In der Türkei haben historische Serien erhebliche Konjunktur, berichtet Can Dündar auf ZeitOnline. Die historischen Stoffe dienten dabei vor allem der nationalen Selbsterbauung und Feindbildpflege. Deshalb meldet sich auch Staatschef Erdogan dazu gern zu Wort: 2015 etwa lief "die Serie 'Hauptstadt' (Originaltitel: Payitaht) über den osmanischen Sultan Abdulhamid an. Das Drama vermittelte dem Publikum Eroberungs- und Dschihad-Euphorie und war gespickt mit inneren und äußeren Feinden, Verschwörungstheorien, antisemitischen Botschaften und Hassdiskursen. Der Sultan in der Serie sprach quasi Erdoğans Sprache. Erklärte Erdoğan, es gehe um den 'Fortbestand' des Landes, sah Sultan Abdulhamid in der Serie im Zusammenhang mit dem 'Fortbestand' 'die Zukunft des Landes' in Gefahr. In der Serie ohrfeigte der Sultan den englischen Gesandten, parallel dazu erklärte Erdoğan einen ausländischen Botschafter zur Persona non grata."

Weiteres: Im CrimeMag schreibt Robert Zion einen Nachruf auf die Schauspielerin Rhonda Fleming, die einstige "Queen of Technicolor". Besprochen werden Julia von Heinz' autobiografisch gefärbter Antifa-Film "Und morgen die ganze Welt" (Jungle World) und neue DVD-Veröffentlichungen, darunter Michael Pfleghars James-Bond-Parodie "Serenade für zwei Spione" aus dem Jahr 1965 (SZ).
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Kunst

Besprochen werden die die Howard-Hodgkin-Schau "Memories" in der Galerie Hazlitt Holland-Hibbert in London (Hyperallergic) und die Ausstellung "The Crazy World of Kevin Coyne" über den Künstler und Rockpoeten im Nürnberger Kunsthaus (taz).
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Bühne

Caroline Wettergreen als Nachtigall in "Die Vögel" © Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper

In München fand am Wochenende die letzte Premiere mit fünfzig Zuschauern statt, "bedingt durch Seuche und Markus Söder", wie Reinhard Brembeck in der SZ ätzt: Aufgeführt wurde Walter Braunfels' Oper "Die Vögel" nach Aristophanes, dem Erfinder des Wolkenkuckucksheim. Über Frank Castorfs Regiearbeit möchte Brembeck kaum ein Wort verlieren, so erwartbar und einfallslos fand er sie. Aber: "Auf der Bühne triumphiert Caroline Wettergreen. Sie singt als Nachtigall von einem Gefühl, das die Menschen plump einengend Liebe nennen, für das der Vogel aber kein Wort hat, dafür endlose Koloraturen, lockend leise Höchsttöne, Schwerelosigkeit, Sehnsuchtsfarben, Wärme. Wettergreen kann das alles, sie verbindet Eleganz mit Understatement, Leichtigkeit mit Utopie, und erinnert daran, dass Kunst primär auf Fantasie, Imagination und Evokation basiert."

Auch Welt-Kritiker Manuel Brug verließ die Staatsoper missgestimmt, Lob hat er allenfalls für Dirigent Ingo Metzmacher übrig, "der auf dem überbauten wie hygienevergrößerten Graben mit dem verkleinerten Staatsorchester trotzdem ein traumschön schillerndes, sanft lullendes, schließlich dreinhauendes Braunfels-Klangpanorama entfesselt".

Im Standard würde Marlene Streeruwitz gern mal im Opernrepertoire aufräumen, und wie die Schriftstellerin dem entsetzten Stefan Weiss im Standard-Interview erklärt, würde auch der Zigeunerbaron vom Spielplan verschwinden: "Ich glaube nicht, dass die positive Behandlung im Zigeunerbaron den Roma und Sinti auch nur irgendwie gegen die Problematik hilft, dass sie auf der Straße rassistisch belästigt werden, wie das berichtet wird. Die Operette ist ein Archiv des Sexismus, Rassismus und Antisemitismus, und ich bin dafür, dass sie einmal für zwanzig Jahre in die Lade sollte, und dann schauen wir, was davon übrigbleibt. Übrigens könnte ich auch 'Die lustige Witwe' dazulegen und die männerfantastischen Frauenbilder darin. Unterhaltung ist immer falsch, wenn sie dem Publikum chauvinistische Entlastung bietet."

Im taz-Interview mit Sabine Leucht lässt sich Christian Stückl, Regisseur des Münchner Volkstheaters, bei aller Rat- und Hilflosigkeit über den neuen Lockdown light nicht aus der Fassung bringen: "Wenn Virologen Alarm schlagen, will man nicht verantwortlich sein, wenn die Krankenhäuser voll sind. Auch wir Künstler sehen ja, dass die Zahlen raufgehen. Angela Merkel hat irgendwann gesagt, bis Weihnachten sind wir bei 20.000 Infizierten pro Tag, und da sind wir jetzt schon fast. Wir könnten mit dem Lockdown umgehen und sagen: 'Okay, wir müssen alle Verantwortung übernehmen und einen Monat zumachen.' Aber für die Zeit danach bräuchten wir Klarheit: Geht es ab Dezember mit 50 Zuschauern weiter, mit maximal 200 wie zuvor oder gar nicht? Da ist einfach wahnsinnig viel ungeklärt."

Besprochen werden Barbara Freys Inszeneirung von Anna Gmeyners "Automatenbuffet" an der Wiener Burg (Nachtkritik, Standard), Barrie Koskys queer-drollige Inszenierung von Jacques Offenbachs "Großherzogin von Gerolstein" an der Komischen Oper (Tsp, Berliner Zeitung), Anne Lenks Inszenierung von Schillers Trauerspiel "Maria Stuart" am Deutschen Theater (Nachtkritik), Tanz-Festival Rhein-Main mit Richard Siegals Ballet of Difference (FR) sowie das Operndoppel "Cavalleria rusticana" und "Pagliacci" an der nun ebenfalls schließenden Wiener Staatsoper (Standard)
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Literatur

Welche Krimis und Thriller auch immer jetzt im Moment gerade auf den Markt kommen und für sich das "Corona-Thriller"-Emblem beanspruchen, ernsthaft und von langer Halbwertszeit können sie kaum sein, schreibt Thomas Wörtche im Kommentar fürs CrimeMag: "Literatur braucht Zeit, aktualistische Schnellschüsse taugen nur selten etwas. Natürlich wird CORONA auch in Kriminalromane jeder Couleur eingehen. Die Pandemie ist ein Kontext, der unsere globalen Lebenswelten bestimmt und noch sehr lange bestimmen wird. Ein Roman aus dem Hier und Heute wird nicht mehr ohne sie auskommen, ein extrem weitreichender Paradigmenwechsel. Wirklich interessant wird also werden, wie Autor*innen mit diesem neuen, überraschenden Kontext umgehen, ohne daraus gleich 'CORONA-Thriller' zu machen."

Weitere Artikel: In einem online nachgereichten NZZ-Text schwärmt Roman Bucheli von der Bibliothek Werner Oechslins: "Es gibt keinen zweiten Ort auf der Welt, der in vergleichbarer Vollständigkeit die Quellenschriften aus Renaissance und Barock vereinigt." Ein Gespräch mit Oechslin flankiert den Bericht. Judith von Sternburg (FR), Tobias Lehmkuhl (SZ) und Andreas Platthaus (FAZ) berichten von der Verleihung des Büchnerpreises an die Lyrikerin Elke Erb. Eveline Passet und Raimund Petschner befassen sich im Feature von Dlf Kultur mit dem Niederschlag des Erdbebens von Lissabons in der Literatur. Christian Schröder spricht im Tagesspiegel mit Robert Harris über dessen neuen, in der Presse besprochenen Roman "Vergeltung". Der Schriftsteller Arnon Grünberg berichtet im Standard von einer Reise in die USA. Berit Glanz arbeitet sich für ZeitOnline durch die Welt der Corona-Erotikthriller, die im Segment des Selfpublishing offenbar gerade richtig brummen. Wolfgang Brylla befasst sich für das CrimeMag mit tschechischen Krimis. In der NZZ spricht Mario Vargos Llosa unter anderem über seine Skepsis gegenüber den neuerlichen Corona-Verschärfungen. Außerdem verkünden Dlf Kultur und die FAS die besten Krimis des Monats. An der Spitze: Denise Minas "Götter und Tiere".

Besprochen werden unter anderem Volker Kutschers neuer Rath-Krimi "Olympia" (Dlf Kultur), Hans Ulrich Gumbrechts Neuübersetzung von Baltasar Graciáns "Handorakel und Kunst der Weltklugheit" (NZZ), William Gibsons Science-Fiction-Roman "Agency" (Freitag), die Wiederveröffentlichung von Ernst Lothars' "Das Wunder des Überlebens" (Tagesspiegel), Meg Wolitzers "Das ist dein Leben" (Standard) und neue Krimis, darunter Jill Ciments "Anatomie eines Prozesses" (FAZ). Außerdem ist eine neue Ausgabe des CrimeMag erschienen - hier das Editorial mit den Hinweisen auf alle Rezensionen und Essays.

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Charles Simic über Walt Whitmans "Wahltag, November 1884":

"Wenn ich, o westliche Welt, deine stärkste Szene
und Aufführung benennen müsste,
..."
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Musik

Anders als viele seiner zu ansehnlichem Reichtum gekommenen Kollegen, hält der Rapper Nas es für keine gute Idee, als Schwarzer Trump zu unterstützen, sagt er im NZZ-Gespräch: "Es ist okay, nach Reichtum zu streben. Dafür schäme ich mich nicht. Aber deswegen einen aus einer reichen Familie stammenden weißen Unternehmer bewundern? Das zeigt doch nur, dass wir nicht wissen, dass die Latte für uns viel höher liegt. Dass wir nicht einmal wissen, warum so viele Schwarze im Elend stecken."

Besprochen werden"Swirling", das neue Album des Sun Ra Arkestras (The Quietus), und das neue Album von Busta Rhymes (Berliner Zeitung).
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Stichwörter: Us-Wahlen 2020, Nas, Rap, Hiphop