Efeu - Die Kulturrundschau

Kurzer Triumph der Form

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.11.2020. Die Welt blickt auf die leeren Straßen Berlins - erst bei Michael Schmidt, dann vor der eigenen Tür. Die FAZ erlebt Augenblicke der höchsten Sichtbarkeit in einer Berliner Ausstellung zum Thema Tod. Das Van Magazin fordert einen New Deal für die Musik- und Kulturszene, die dafür ihren Elfenbeinturm verlassen soll. Der Tagesspiegel blättert durch einen Fotoband zum Ende der Weimarer Porzellanmanufaktur und verliebt sich in die Vase "Tini".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.11.2020 finden Sie hier

Kunst

Catrin Wechler, Wachstum, 2019


Museen sind ja derzeit geschlossen, Galerien dürfen allerdings öffnen, so auch der Verein Berliner Künstler, der eine Ausstellung zum Thema Tod zeigt. Naheliegend, aber passt schon für Andreas Kilb (FAZ): "Der Tod, suggerieren diese Bilder, ist der kurze Triumph der Form vor ihrer Auflösung, der Augenblick ihrer höchsten Sichtbarkeit. Bei Catrin Wechler ist der Auflösungsprozess schon im Gang, ihre verfremdeten Aufnahmen von Körpern auf einer Wasserrutsche rasen auf langen Stoffbahnen in die Unschärfe des Nichtseins. In Ute Fabers Installation ist aus der Bewegung ein Häuflein schwarzer Asche geworden. 'Will I be missed', steht darüber in blauer Neonschrift. Ein Fragezeichen fehlt; der Satz wirkt dadurch noch stärker, bohrender, wie ein Appell."

Michael Schmidts Fotografien, aktuell im - derzeit geschlossenen - Hamburger Bahnhof in Berlin ausgestellt, zeigen viel leere Straßen im Berlin der Siebziger und Achtziger. Genauso siehts jetzt auch aus, denkt sich Welt-Kritiker Boris Pofalla. "Schaut man diese Aufnahmen heute an, im Corona-Winter 2020, dann denkt man nicht nur an das Berlin von früher, sondern auch an das von morgen. In den sonst schnellen und lebendigen Stadtteilen Kreuzberg und Wedding hat sich während des Lockdowns eine Langsamkeit und Weite breitgemacht, die einen sprachlos macht. ... Wird Berlin sich durch Corona ähnlich stark verändern wie nach dem Mauerfall? Auf diese Fragen können einem Michael Schmidts Bilder natürlich keine Antwort geben. Sie können nur den Blick schärfen. Auf die Vergangenheit und die Gegenwart. Erstaunlich viele Themen, die uns in diesem Herbst und Winter umtreiben, finden sich auch in seinem Werk wieder."

Weiteres: Im Tagesspiegel fordert Nicola Kuhn, dass auch der Kulturbetrieb das Thema NS-Zwangsarbeit aufarbeitet. In monopol stellt Gerrit Terstiege kurz ein neues Buch von Nicholas Fox Weber über Anni und Josef Albers vor, "Anni & Josef Albers. Equal and Unequal". Besprochen werden die Ausstellung "Andrew Grassie. Still Frame" in der Berliner Galerie Esther Schipper (Berliner Zeitung) und eine Ausstellung der "Mood boards" des amerikanischen Künstlers Jack Pierson in der Berliner Galerie Aurel Scheibler (Tagesspiegel).
Archiv: Kunst

Musik

Die meisten Versuche, den freischaffenden Musikern über die Shutdown-Monate zu helfen, wirken allenfalls punktuell, schreibt Folkert Uhde, der Betreiber des Radialsystems in Berlin, in VAN. Er fordert einen New Deal für die Musik- und Kulturszene, die er ihrerseits dazu auffordert, sich raus dem Elfenbeinturm zu wagen: "Wir müssen die Zeit jetzt nutzen, um uns über Grundsätzliches für die Zukunft zu verständigen. Gegenseitiges Vertrauen wieder herstellen, Anschluss finden. Vom hohen Ross absteigen und andere Perspektiven einnehmen. Mehr Intendantinnen, Generalmusikdirektorinnen, Chefregisseurinnen berufen. Ein neues Verständnis von 'Leitung' entwickeln, bei dem es nicht mehr um das hierarchische Entscheiden geht, sondern um das Moderieren von Prozessen, Partizipation, Diversität, Vernetzung mit lokalen Communities. Und damit einhergehend auch eine neue Definition von Erfolg. Wir brauchen neue Fördersystematiken und Schwerpunkte. Wir müssen uns über soziale Absicherungen für die 'Freien' aller Richtungen verständigen und die gegenwärtig stattfindende de-facto-Verarmung solidarisch auffangen." Dazu passend sammelt Hannah Schmidt Stimmen freier Musikerinnen und Musiker zum momentanen Kultur-Lockdown.

Weitere Artikel: Jan-Philipp Möller berichtet für VAN vom Auftakt des Prozesses gegen den Komponisten Hans-Jürgen von Bose, dem drei Vergewaltigungen angelastet werden. Thomas Steinfeld (SZ) sucht in der Pandemie Trost in den aus den Privaträumen übertragenen Videokonzerten des britischen Rockadels. Für VAN vergleicht Arno Lücker Aufnahmen von Béla Bartóks Sonate für Violine solo. Außerdem schreibt Lücker in seiner VAN-Reihe über Komponistinnen über Teresa Carreño.



Besprochen werden die Compilation "Blue Note Re:imagined", auf der sich die britische Jazzszene vorstellt (Standard), sowie neue Alben von Kylie Minogue (ZeitOnline, mehr dazu bereits hier), Elvis Costello (SZ), Katy J Pearson (Berliner Zeitung), AC/DC (Berliner Zeitung, Standard, mehr dazu bereits hier) und Lucidvox aus Moskau (Standard).
Archiv: Musik

Design

Christiane Meixner blättert für den Tagesspiegel durch einen Band der Fotografin Susanne Katzenberg zum Ende der Weimarer Porzellanmanufaktur, und fühlt ganz zum Schluss einen kleinen Hoffnungsschimmer aufsteigen: "Als Katzenberg erfuhr, dass der gesamte Formenfundus der Vase 'Tini' aus den Sechzigern, ein Entwurf des Formgestalters Peter Smalun, verkauft oder alternativ zerstört werden sollte, sprang sie selbst ein. 'Schockverliebt', wie die Fotografin gesteht, suchte sie nach einer Möglichkeit, die Produktion fortzusetzen - und fand Martin Pössel, der nach einem Studium des Produktdesigns an der Bauhaus-Universität nun eine kleine Manufaktur in Weimar führt. Aus dem Buch ist so noch das Projekt 'Unverloren' hervorgegangen, es kulminiert in Weimar und zeigt, wie lebendig das Erbe des Bauhauses am Ende ist: als Vase 'Tini' wie auch als Idee von der perfekten Form, die wieder aufersteht."

Außerdem: Alex Winiger schreibt in der NZZ einen Nachruf auf den Zürcher Lichtgestalter Willi Walter.
Archiv: Design

Film

Trost im Verfall: Natalie Erika James' "Relic"

Natalie Erika James' auf Amazon gezeigtes Horror-Familiendrama "Relic" wartet mit sehr eigenen Trostangeboten auf, versichert Perlentaucher-Kritiker Michael Kienzl: Es geht vordergründig um Verfall und Demenz, doch handelt der Film auch "von Entfremdung und Annäherung, von schönen und quälenden Erinnerungen, von familiärer Verantwortung und persönlichem Freiheitsdrang. Selbst im ungeschönten Blick auf den Zerfall steckt noch ein gewisser Trost." Der Film finde "einen Umgang mit Krankheit und Tod, der jenseits von lähmendem Schrecken und allzu naiven Lösungen ist: Man muss sich dem Monströsen stellen. Das Abziehen verdörrter Haut wird im Film zum ultimativen Liebesbeweis, der ekligste Moment zugleich zum berührendsten."

Weitere Artikel: Patrick Heidmann spricht für die taz mit der Regisseurin Kitty Green über ihren MeToo-Film "The Assistant", der nach seiner Berlinale-Premiere nun auf DVD erscheint. Fabian Tietke resümiert für die taz die Onlineausgabe der Duisburger Filmwoche. FR-Kritiker Daniel Kothenschulte hat sich derweil durch das Programm des Festivals Mannheim-Heidelberg gestreamt, das in diesem Jahr unter der neuen Leitung von Sascha Keilholz (hier im Artechock-Gespräch) einen Neuanfang geplant hatte, der durch Corona gedämpft wurde. Außerdem wurde in München eine neue Filmzeitschrift auf Papier gegründet: Revü nennt sich das "Flugblatt für Cinephilie", hier gibt es das Selbstverständnis zu lesen.

Besprochen werden Ciro Guerras auf DVD veröffentlichte Verfilmung von J.M. Coetzees Roman "Warten auf die Barbaren" (taz, unsere Kritik hier), die Netflix-Serie "The Alienist" mit Daniel Brühl (Welt), Jean Rollins auf DVD veröffentlichter französischer Horrorfilm "Night of the Hunted" von 1980 (Perlentaucher), die vierte Staffel der Netflix-Serie "The Crown" (FAZ) und Rolando Collas in der Schweiz in den Kinos startender Dokumentarfilm "W. - Was von der Lüge bleibt" über Binjamin Wilkomirski, dessen autobiografisches Buch über die Schoah sich als Lüge entpuppt hat (NZZ).
Archiv: Film

Bühne

Christian Rakow unterhält sich für die nachtkritik mit den Schauspielern Frank Büttner und Sina Martens über ihre Arbeit im Lockdown in Frank Castorfs Kästner-Inszenierung "Fabian oder Der Gang vor die Hunde" am Berliner Ensemble. In der FAZ-Reihe "Spielplanänderung" schreibt und spricht Simon Strauß über George Sands "Gabriel".
Archiv: Bühne

Literatur

In ihrer Lyrikkolumne für den Perlentaucher schreibt Marie Luise Knott unter anderem über Maria Stepanovas von Olga Radetzkaja übersetzten Gedichtband "Der Körper kehrt wieder": Der Titel suggeriere zwar einen Aufbruch, doch "paradieren durch Stepanovas Langgedichte der letzten Jahre lauter 'tote Dinge' aus russischer Vergangenheit und Jetztzeit: Volkslieder, Heldenepen, Psalmen -  und immer wieder Erinnerungen und Readymades aus dem Großen Vaterländischen Krieg. Im Jahr 2015 verfasste sie unter dem Eindruck der verdeckten Intervention der Russen im Donbass das Langgedicht 'Spolia'.  In der Architektur bezeichnet 'Spolia' Bauteile und anderen Überreste aus Bauten älterer Kulturen, die in neuen Bauwerken wiederverwendet werden." Sie "arbeitet mit Montage und Collage, mit Sehnsüchten und Übertreibungen" und dort "wo die Dichtung der Zerrissenheit Raum gibt, verteidigt sie, so viel ist sicher, die Möglichkeit, sich nicht von Ohnmacht, Scham, Verzweiflung oder Selbstekel das Herz ausschachten zu lassen." Alle Lieferungen unserer Lyrikkolumne finden Sie im übrigen hier.

Weitere Artikel: Für den Standard spricht Michael Wurmitzer mit dem Schriftsteller Xaver Bayer, der in diesem Jahr für sein Buch "Geschichten mit Marianne" mit dem Österreichischen Buchpreis ausgezeichnet wird. In der SZ empfiehlt der Schriftsteller Lutz Seiler zum Trost im Pandemieherbst Bankgespräche mit Stulle und Thermos. Die Schriftstellerin Tanja Langer schreibt in der Berliner Zeitung über den Dichter Itzik Manger.

Besprochen werden unter anderem Dominique Manottis Krimi "Marseille.73" (Freitag), Rafael Seligmanns "Hannah und Ludwig" (SZ) und Laura Lichtblaus Debütroman "Schwarzpulver" (FAZ).
Archiv: Literatur