Efeu - Die Kulturrundschau

Oh Halme ihr Halme

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13.11.2020. Die Berliner Zeitung vermisst bei einer Diskussionsveranstaltung über postpandemisches Theater bei den Analogrevoluzzern um Gorki-Intendantin Shermin Langhoff die Neugierde auf das digitale Neue. Die SZ erforscht den Aerosolflug beim Spiel der Berliner Philharmoniker. Le Monde Diplomatique staunt über den Erfolg tugendhafter türkischer Telenovelas in Lateinamerika.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.11.2020 finden Sie hier

Bühne

Die nachtkritik hat zusammen mit der Heinrich Böll Stiftung und dem Literaturforum im Brecht-Haus Berlin mehrere Online-Konferenzen zum postpandemischen Theater organisiert. Die erste Debatte fand Doris Meierheinrich von der Berliner Zeitung etwas enttäuschend, weil sich die "alten theatralischen Analogrevoluzzer" um Gorki-Intendantin Shermin Langhoff den Ideen der Digitalfuturisten um den Zukunftsphilosophen Armen Avanessian lieber entzogen: "Warum ließen sie sich die Gelegenheit entgehen, mal neugierig und geländerlos über ein Zukunftstheater zu sinnieren, das allen Ungemach der pandemischen Gegenwart in eine neue Art postkapitalistischer Digitalität überführt? Ein Theater, das die Gesellschaft selbst und jedes 'politische Subjekt' darin von Grund auf neu, gerechter, auch menschlicher, weil unsentimentaler vorkommen lässt. Ein Theater, das dafür aber statt der viel beschworenen Nähe der geteilten Gegenwart den fernen, technisch vermittelten Blick stärkt, wie Avanessian in seinem radikal-futuristischen Impulsvortrag skizzierte?"

Außerdem: Savas Patsalidis schickt der nachtkritik einen Theaterbrief aus Griechenland. In der FAZ-Videoserie "Spielplanänderung" geht es heute um Anna Gmeyners "Automatenbüfett".
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Musik

Renate Meinhof hat sich für die Seite Drei der SZ in ein Klinikum nach Berlin-Marzahn begeben, wo Musiker der Berliner Philharmoniker ihr Spiel auf Aerosolflug analysieren lassen. Die Studien leitet der Internist Carl Firle und er "sagt, dass er für die Auswertung der Daten einige Wochen brauche, aber jetzt schon, nach zwanzig Querflöten, dreizehn Oboen, einer Klarinette und einer Trompete, sehe er, dass die Aerosole sich im Raum ganz anders ausbreiteten als gedacht. Sie schwebten nicht in Wölkchen daher, hübsch geordnet, und sänken dann einträchtig zu Boden. Nein, sie hielten sich überhaupt nicht an Grenzen. Homogen breiteten sie sich aus, täten sozusagen, wozu sie Lust hätten. Machten also genau das, was der Mensch jetzt nicht dürfe. Für den Konzertbetrieb wäre das doch aber keine gute Nachricht, tastet Dominik Wollenweber sich vorsichtig vor, als der Arzt vom Eigenleben der Aerosole spricht. 'Ja', ruft Carl Firle, 'furchtbar!' Er ist selber Pianist, gibt Konzerte."

Besprochen werden Christian Filips' Buch "Der Unsterblichkeitsclown" über den Komponisten Adalbert Ritter von Goldschmidt (SZ) und neue Alben von Good Bad Happy Sad (taz), AC/DC (NZZ, FR, mehr dazu hier), Messed Up (taz), Molchat Doma (taz), Amaarae (Pitchfork) und All diese Gewalt (Tagesspiegel). Wir hören rein:

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Film

Ziemlich atemberaubende Erfolge fahren derzeit türkische Telenovelas auf dem lateinamerikanischen Markt ein, berichtet Anne-Dominique Correa in Le Monde Diplomatique, die heute der taz beiliegt: "Neugeborene Babys in Lateinamerika werden nun Elif, Fatmagül oder Ibrahim genannt." Zu tun habe dieser Erfolg wohl auch damit, dass die Eigenproduktionen in den letzten Jahren um einiges liberaler geworden sind, wohingegen die türkischen Produktionen "die Zeit zurückdrehen. Sie greifen auf die Grundzüge der lateinamerikanischen Serien aus den 1980er Jahren zurück. Meist handeln sie von der hoffnungslosen Liebe zwischen einer einfachen jungen Frau und einem Mann aus reicher Familie. ... Undenkbar, dass auch nur ein Zentimeter Haut entblößt wird. Mehr als ein Kuss (nach vielen Folgen) oder eine zärtliche Geste sind nicht drin. Und noch etwas haben die heutigen türkischen Serien mit den Telenovelas der ersten Generation gemeinsam:Zuletzt triumphiert immer die Tugend."

Weitere Artikel: Auf ZeitOnline ist Jan Kedves genervt davon, dass der neue "James Bond"-Film, der dieser Tage eigentlich gestartet wäre, immer wieder aufs Neue verschoben wird, und fordert, den Film endlich als Stream freizugeben. Daniel Gerhardt gleicht für ZeitOnline Serien, die von Verschwörungstheorien handeln, mit der Realität ab. Christian Schröder (Tagesspiegel) und Josef Grübl (SZ) schreiben Nachrufe auf den Kameramann Gernot Roll. Die Agenturen melden, dass Roman Polanski und  daneben 17 weitere Filmschaffende aus der französischen Filmakademie ausgeschlossen wurden.

Besprochen werden Kitty Greens im Stream gezeigtes MeToo-Drama "The Assistant" (Tagesspiegel),  Gerard Bushs und Christopher Renz' Sklavereidrama "Antebellum", das nach Meinung von ZeitOnline-Kritiker Jens Balzer in jeglicher Hinsicht zu schlicht ausgefallen ist, die vierte Staffel von "The Crown", in der nun Lady Di endlich ihren großen Auftritt hat (NZZ) und die Miniserie "The Good Lord Bird" mit Ethan Hawke (Presse).
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Literatur

Ist ja gut, dass Monika Maron nach dem Bruch mit S. Fischer nun bei Hoffmann & Campe untergekommen ist und nicht in der obskuren Nische landet (unser Resümee), meint Hilmar Klute in der SZ. Dennoch drängen sich ihm Fragen auf: Warum gibt es seitens des neuen Verlags kein Statement zu Marons Veröffentlichungen im neurechten publizistischen Milieu? Und gerne wüsste Klute, wie der Verlag damit umgehen will, falls Autoren aus dem Haus kritisch Stellung beziehen. "Stolze Bilder der Vergangenheit stehen einem vor Augen, die Pressekonferenz zum Beispiel, die Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld gemeinsam mit Thomas Bernhard auf der Frankfurter Buchmesse gab, nachdem in Österreich der Roman 'Holzfällen' beschlagnahmt wurde, weil sich der Musiker Gerhard Lampersberg in der Romanfigur 'Auersberger' erkannt haben wollte. Ein Operettenskandal, keine Frage. Aber die Lust an der Öffentlichkeit und das Begehren eines Verlegers, jede Gelegenheit zu nutzen, seinem Autor und damit natürlich auch dem Verlag Gehör zu verschaffen, die war groß in jenen Jahren." Vielleicht dämpft es ja die Lust an der Öffentlichkeit, wenn einer Autorin in einer Zeitung wie der SZ "völkisches Denken" vorgeworfen werden kann, ohne dass der Journalist das belegen müsste?

Weitere Artikel: Tomasz Kurianowicz erkundigt sich für die Berliner Zeitung bei Leif Randt, wie es ihm damit geht, dass sein Roman "Allegro Pastell" sich binnen weniger Monate zum Kultbuch gemausert hat. Der Übersetzer Jochen Pohlandt erinnert in der FR an den vor 100 Jahren an Knut Hamsun verliehenen Nobelpreis. In seiner Standard-Reihe über Walter Benjamin ist Ronald Pohl beim Band "Berliner Kindheit um 1900" angekommen. Claudia Schülke schreibt in der FAZ über die Rolle der Pflanzen in Paul Celans Gedichten.

Besprochen werden unter anderem Elisabeth Edls Neuübersetzung von Flauberts "Éducation sentimentale" (Tagesspiegel), Petre M. Andreevskis "Alle Gesichter des Todes" (NZZ), Ludovic Debeurmes Comic "Ein tugendhafter Vater" (Tagesspiegel), Martin Maurers "Die Krieger" (Freitag), Kristen Roupenians Gedichtband "Milk Wishes" (SZ) sowie Howard Eilands und Michael W. Jennings' Biografie Walter Benjamins (FAZ).
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Kunst

Mit leichter Beklemmung hat Joseph Hanimann sich für die SZ in den Pariser Pantheon begeben, um sich die Installation anzusehen, die Anselm Kiefer als staatliches Auftragswerk für den Schriftsteller Maurice Genevoix geschaffen hat. War dann doch ganz okay: Sechs große Glasvitrinen hat Kiefer dort aufgestellt. "'Mohn und Gedächtnis' heißt nach Paul Celans frühem Gedichtzyklus einer der Glaskästen, in dem aus Betontrümmern und Stacheldraht dürre Mohnblumen sprießen. 'Oh Halme ihr Halme oh Halme der Nacht - pour Maurice Genevoix' schrieb Kiefer, ebenfalls nach Celan, in eine andere Glasvitrine. Ein mit Gewehren bestücktes Bataillon wackliger Fahrräder ist darin zu sehen, das über ein Getreidefeld zum Angriff auffährt. ... Zwei temporär aufgestellte Großformatbilder ergänzen das Ensemble, dazu Zitate aus Genevoix' Buch 'Vor Verdun', in denen Kiefer das Kontemplative, Zweifelnde, manchmal fast schon Besänftigte heraushebt. Dieser Autor habe in den Abgrund des Grauens geblickt, sich aber nie süchtig wie Ernst Jünger oder zynisch daran ergötzt, erklärt der Künstler."

Weitere Artikel: Im Standard annonciert Katharina Rustler die Vienna Art Week, die morgen - allerdings nur virtuell - beginnt. In der taz notiert Katrin Bettina Müller eine Rückkehr der Hexen, auch wenn sie in einer Gruppenausstellung im Kunstraum Kreuzberg jetzt "Sirenen" heißen.
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