Efeu - Die Kulturrundschau

Ein Myzel der Assoziationen

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04.01.2021. In der FAZ entwirft der Architekt Stefano Boeri die Stadt der Zukunft als ein Archipel aus einzelnen Vierteln mit Hausdächern als Orten der Begegnung. Die Berliner Zeitung drückt sich an den Glasfassaden der generalsanierten Neuen Nationalgalerie die Nase platt. Die NZZ geißelt die Verkrümmung des Theaterbetriebs vor dem Zeitgeist. Im Standard entdeckt Lydia Mischkulnig die umwälzende Kraft von Louise Glücks Gedichten. Im Freitag hört Marie Darrieussecq Schweine pfeifen. Und die SZ erlebt, wie Goyo Montero einen Stubentiger zum Wolf macht.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.01.2021 finden Sie hier

Architektur

Die Neue Nationalgalerie generalsaniert. © BBR / Thomas Bruns

Sehnsüchtig blickt Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung auf die Neue Nationalgalerie, deren "genial puristisch gelungene Generalsanierung für 140 Millionen Euro" durch David Chipperfield zwar fertig sei, die aber im Lockdown bedingten Tiefschlaf verharren muss: "Erst im Sommer kehrt die Kunst in Berlins schönstes Ausstellungshaus wieder zurück. In den hohen Glasfassaden, dieser Symbiose aus Gegenständlichkeit und Abstraktion, spiegelt sich die urbane Umgebung: Fassaden der alten und neuen Häuser am Schöneberger Ufer, eine ganze Ecke vom steinernen Kulturforum und vor allem Schinkel-Schüler August Stülers anmutige St. Matthäuskirche mit ihrem schlanken, fast italienisch anmutenden Turm. Der 1968 eingeweihte Nationalgalerie-Palast des Bauhausmeisters Mies van der Rohe wird mit seiner Transzendenz zum Bild-im-Bild-Ereignis."

Bewundert, wenn auch nicht CO²-neutral: Stefano Boeris Bosco verticale in Mailand. Foto: stefanoboeriarchitetti

Im FAZ-Interview mit Karen Krüger spricht der italienische Architekt Stefano Boeri über seinen Bosco Verticale in Mailand, Roland-Barthes-Lektüren für den Lockdown und die Notwendigkeit, Stadt neu zu denken: "Ich stelle mir die Stadt der Zukunft als ein Archipel aus Stadtvierteln vor, die wie kleine autonome Dörfer funktionieren und in denen man auf kleinstem Raum alles findet, was man zum Leben braucht: Schulen, Büros, Geschäfte, Restaurants, Gesundheitsversorgung. Vor allem Letzteres ist wichtig... Wir müssen die Räume der Stadt neu definieren, ohne die Möglichkeit der Begegnungen zu zerstören. Denkbar wäre ein Netzwerk öffentlicher Plätze, an denen man sich trifft. Bürogebäude sollten nicht mehr Orte mit einer bestimmten Anzahl individueller Arbeitsplätze sein, sondern nur noch Orte für Meetings. Genauso muss über Möglichkeiten nachgedacht werden, wie Aktivitäten vermehrt nach draußen verlagert werden könnten. Hausdächer sollten die gleiche Rolle spielen wie früher Hinterhöfe."
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Kunst

Marc Zitzmann besucht für die FAZ den Pariser Historiker Michel Pastoureau, der seit vierzig Jahren die Geschichte der Farben erforscht. Blau zum Beispiel war bei den Römern verpönt: "Im 11. Jahrhundert begann dann ein unaufhaltsamer Aufstieg: Farbe des Marienmantels, des französischen Königswappens, durch die Kleiderordnungen als honett legitimiert; Bestandteil der Trikolore, der Triade der Primärfarben; Farbe der Romantik, der Träumerei, des Blues; Farbe der Seeleute, Polizisten und Briefträger; Farbe des Friedens, der Uno, der EU... Mit Gelb verhält es sich umgekehrt. In der Antike als Farbe des Lichts, der Wärme, der Freude geschätzt, übertrug es vom zwölften Jahrhundert an all seine positiven Assoziationen auf den Farbton Gold und versinnbildlichte fortan Lüge, Betrug, Heuchelei."

Besprochen werden vier Wolfgang-Tillmans-Bände, die zum vierzigjährigen Jubiläum des Taschen-Verlags neu und prächtig aufgelegt werden (taz), der Reiseführer "Accidentally Wes Anderson" (Standard) und ein Bildband der Münchner Fotografen Sebastian Schels und Olaf Unverzart über französische Wintersportorte im Sommer (Standard).
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Literatur

Für den Standard versenkt sich Lydia Mischkulnig in die Gedichte der Literaturnobelpreisträgerin Louise Glück und berichtet von einem beglückenden Lese-Erlebnis: "Die Atmosphäre entwickelt sich aus den zusammenlaufenden Wirklichkeitsfäden. Eine Situation mag banal erscheinen, die Wucht aber entfaltet sich gerade durch den lapidar anmutenden Stil. Natürlich kommt es dabei auf die präzisen Beobachtungen an. Banal erscheint, was alltäglich ist, wie auch Geburt und Tod, nur für das Individuum und seine sozialen Beziehungen sind diese Ereignisse alles. Mit ein paar wenigen Strichen zeichnet Glück die Situation ihrer Protagonisten hin, entfaltet zugleich den Raum für vielschichtige Interpretation. Ein Myzel der Assoziationen, Fragen und Bedeutungsvielfalt tut sich auf. Die umwälzende Kraft von Glücks Gedichten geht erst bei der wiederholten Lektüre auf."

Im Freitag-Gespräch schwärmt die Schriftstellerin Marie Darrieussecq von den Vorzügen des Waldes, der "ein Ort ist, wo die Frauen frei waren", und erklärt außerdem, warum sich in ihrem in den 90ern veröffentlichten Roman "Schweinerei" eine Frau in ein Schwein verwandelt: "Vielleicht, weil die Männer sie so behandeln. Als ich 25 war, haben mich die Männer auf den Straßen von Paris belästigt, riefen mir hinterher. Es gab dafür noch keine Worte. Meine 16-jährige Tochter weiß sehr genau, was das bedeutet, dass man jetzt protestieren, zur Polizei gehen kann. Damals war es normal, lag 'in der Natur der Männer'. Noch immer verstehen die Pariser nicht, dass Pfeifen kein Kompliment ist. Sie betrachteten mich als Hündin, als Schwein. Das war viel harmloser als die Dinge, die meine Heldin erlebt, aber so entstand die Idee für mein Buch."

Weitere Artikel: Frédéric Valin erinnert in der Jungle World an das wilde, provokative Leben des französischen Schriftstellers Boris Vian. Auf Intellectures widmet sich Thomas Hummitzsch der Darstellung von Sex und Erotik im Comic der Gegenwart. Im Tagesspiegel bietet Gerrit Bartels einen ersten Überblick über die Veröffentlichungen im Proust-Jahr. Außerdem blickt Bartels auf die von migrantischen Erfahrungen geprägten Romane der kommenden Saison. Nicole Seifert erinnert in Nacht und Tag an die Schriftstellerin Gabriele Reuter. In den "Actionszenen der Weltliteratur" erinnert Marc Reichweich an Dantes Verbannung aus Florenz. Deutsche Kinderbücher vermitteln ein ziemlich naives Bild der hiesigen Polizei, glaubt Daniel Gerhardt auf ZeitOnline und empfiehlt statt dessen einige amerikanische Kinderbücher, die seiner Ansicht nach adäquat Rassismus und Polizeigewalt thematisierten. Andreas Platthaus gratuliert in der FAZ dem Übersetzer Michael Walter zum 70. Geburtstag. Und die Autorinnen und Autoren des CrimeMag blicken zurück auf das Jahr 2020.

Besprochen werden unter anderem die von Myriam Halberstam herausgegebene Cartoon-Anthologie "Antisemitismus für Anfänger" (Jungle World), Susan Sontags Erzählband "Wie wir jetzt leben" (online nachgereicht von der FAZ), Clemens Setz' "Die Bienen und das Unsichtbare" (Tagesspiegel), Ayad Akhtars "Homeland Elegie" (Tagesspiegel), neue Comics über Musik und Komponisten (Standard), Jane Gardams "Robinsons Tochter" (SZ) und neue Krimis, darunter Anna Ihréns "Tod eines Eisfischers" (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Goyo Monteros "Über den Wolf" nach Sergej Prokofjew. Foto: Nürnberger Staatstheater. 

Als einen "Meister der Dunkelheit" feiert Dorion Weickmann in der SZ den Nürnberger Ballettchef Goyo Montero, dessen Choreografie "Über den Wolf" Prokofjews Klassiker zu einer Parabel umdeutet und auf BR Klassik und der Seite des Staatstheaters zu sehen ist: "Montero nährt choreografische Vielfalt und damit auch die eigene Experimentierlust - eine Eigenschaft, die das Ego gerade im gesellschaftlichen Ausnahmezustand deblockiert. Als persönlicher Befreiungsschlag ist letztlich auch 'Über den Wolf' entstanden. Nachdem der Ballettchef begriffen hatte, dass vorerst kein Weg auf die Bühne zurückführt, passte er das im ersten Lockdown skizzierte Projekt der aktuellen Realität an. Doch anders als Prokofjews Vorlage verhandelt Monteros Tanzfilm weniger äußere Gefahren als innere Zersplitterung. Die animalischen und menschlichen Treiber des Geschehens ähneln seelischen Introjekten, wie sie jedermann mit sich herumschleppt: vom faulen Stubentiger über den angriffslustigen Wolf bis zum besserwisserischen Großvater mit 'Gestern-war-alles-besser'-Allüre."

Weiteres: Genüsslich zitiert Bernd Noack in der NZZ aus dem offenen Brief (mehr hier), mit dem Kulturschaffende aus Köln eine divers besetzte Findungskommission für die Intendanz des Schauspiels fordern und in dem es heißt: "Die Repräsentation von nicht-weiß positionierten Menschen, von mixed-abled Menschen, von Frauen*, trans*, inter* und queeren Akteur*innen of Color ist, sowohl in Auswahlgremien wie diesem als auch in den städtischen Kulturinstitutionen, sehr wichtig." Dann allerdings wird Noack ernst: "Das ist natürlich nicht nur lächerlich, sondern in seiner ganzen verbissenen Diktion schon auch sehr bedenklich. Eine Verbeugung - ach: Verkrümmung - nach allen Seiten. Nur keinen auslassen, bloß niemanden beleidigen, zurücksetzen, ignorieren. Da wird längst nicht mehr mit dem Hirn gedacht, nur noch erfühlt, wo man anecken könnte; nicht mehr geurteilt, nur noch verurteilt, und wer den diversen Diversitäten nicht nahe genug kommt, gehört leider zur Ausschussware - mag er oder sie auf dem Fachgebiet noch so kompetent sein."

Weiteres: Volker Hagedorn erinnert in der Zeit an die vor zweihundert Jahren geborene Sängerin und Komponistin Pauline Viardot-García. Besprochen wird Michael Maertens tanshumanistischer Solo-Performance "Die Maschine in mir" am Burgtheater (SZ).
Archiv: Bühne

Film

In der FAZ gratuliert Dietmar Dath dem japanischen Animationsfilm-Auteur Hayao Miyazaki zum Achtzigsten: Dieser "versteht viel von den Wirklichkeiten, die nur der Trickfilm sieht, während sie Alltagsaugen verborgen bleiben. ... Ans tatsächlich Unerklärliche grenzt die Zuverlässigkeit, mit der Miyazakis Schöpfungen den Abstand zum Kitsch selbst dann halten, wenn darin wahre Ewigkeitsexemplare der Spezies 'Bishojo' (schönes Mädchen) oder 'Bishonen' (schöner Knabe) herumlaufen. Quelle dieser Magie ist wohl Miyazakis Respekt vor der einzelnen (natürlichen oder artistischen) Schönheit, der er niemals Beziehungen aufzwingt, die kitschkonforme Muster (re-)produzieren könnten." Ein Videoessay über Miyazakis Studio Ghibli verdeutlicht das sehr schön:



Außerdem: In der FAZ ärgert sich Harald Staun darüber, wie manipulativ Ferdinand von Schirach, den er auch als Schriftsteller völlig überbewertet findet, in seinem über mehrere Sendeanstalten gestreckten ARD-Blockbuster "Feinde" zugange geht. Claus Löser weist in der Berliner Zeitung auf eine Online-Reihe des österreichischen Filmarchivs mit Filmen von Hans Moser hin.

Besprochen werden Reginald Hudlins "Bruderherz" (SZ), der gemeinsam mit Dana Vachons verfasste, autobiografische Roman "Memoiren und Falschinformationen" des Schauspielers Jim Carrey (SZ) und neue Heimmedienveröffentlichungen, darunter die DVD von Michael Gordons "Das Geheimnis der Dame in Schwarz" von 1960 (SZ).
Archiv: Film

Musik

Rasmus Peters hebt in der FAZ zur Grundsatzkritik am Komponieren mit Künstlicher Intelligenz an. Denn so sehr sich eine KI auch abmüht: Kreativ ist sie ja gerade nicht. "Das Freilassende des kreativen Aktes begrenzt sich auf klar berechnete Logik. Weil sie Musik nicht erleben, sondern nur produzieren kann, besitzt die KI keinen Kontakt zu den Klängen." So "produziert sie ein Werk, aber komponiert es nicht, weil keine Welterfahrungen enthalten sind. Ohne diesen Weltbezug kann die KI-Komposition nur eine Kopie sein, die als Geist der Technik durch die Kulturlandschaft spukt. ... Weil sie die Grenzen des Durchschnitts dessen nicht durchbrechen kann, leistet die vermeintlich fortschrittliche computergenerierte Musik historisch gewachsenen Gewohnheiten Vorschub. Eine KI, die Brahms und Beethoven kennt, wird nicht wie Debussy schreiben können." Und nicht zuletzt "gedeiht computerkomponierte Musik auch aus der Trägheit kulturell gewachsener Gewohnheiten."

Weitere Artikel: Martin Meyer gratuliert dem Pianisten Alfred Brendel in der NZZ mit einer persönlichen Erinnerung zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden die restaurierte Fassung von Hans Otto Löwensteins Film "Beethoven" aus dem Jahr 1927 (ND), der Gesprächsband "Die Kunst des Interpretierens", in dem Alfred Brendel und Peter Gülke über Schubert und Beethoven sprechen (NZZ), und das Album "Positive Mental Health Music" der Londoner Band Tiña (taz). Ein Video daraus:

Archiv: Musik