Efeu - Die Kulturrundschau

Der Zeh eines Sumoringers

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08.02.2021. Nach einem "Heldenplatz" in Salzburg feiert die Nachtkritik vor allem August Zirners Widerstand gegen den schlampigen Sprechnaturalismus. Der Guardian besingt die Poesie, zu der Charles Gaines Mathematik und die Schönheit der Bäume vereint. Der Standard weiß, dass sich auch Lyrik gut verkauft, wenn sie vorher bei Instagram durch die Decke gegangen ist. Die Welt bereitet uns mit Guan Hus "The 800" auf das kommende Blockbuster-Genre chinesischer Kriegsfilme vor.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.02.2021 finden Sie hier

Literatur

Zumindest im deutschsprachigen Raum verkauft sich Lyrik (hier die aktuellen Neuerscheinungen) weitgehend im niedrigen dreistelligen Bereich - im englischsprachigen Raum führen Lyrikbände jedoch mitunter die Verkaufscharts an. Voraussetzung dafür: Die Gedichte müssen zuvor auf Instagram steil gegangen sein, erklärt Michael Wurmitzer im Standard. Die Lyrikerin Rupi Kaur etwa liefert dort ihre Gedichte an über vier Millionen Follower aus. Doch hat die Sache von der Kunst her betrachtet einen Haken: "Progressive Reimschemata wird man in ihnen allerdings vergeblich suchen, stattdessen Mutmachbotschaften und Sinnsprüche finden. Diese Texte sind emotional, zugänglich, in ihnen herrscht keine Angst vor Pathos und Kitsch, sie erfüllen eine Funktion vor der Form: Leser verstehen, annehmen, aufheitern. Doch nicht nur deshalb sprechen Instapoets wie Kaur Fans aus der Seele. Dazu trägt auch bei, dass die indischstämmige Kanadierin oft diverse und feministische Perspektiven einnimmt, die am klassischen Markt schwer zu finden sind. Neben Liebe geht es um Gewalt gegen Frauen und migrantische Erfahrungen."

Der Schriftsteller Michael Maar richtet sich im Freitag entschieden gegen die Kürzungspläne des WDR für die Literaturkritik: "Was es den öffentlich-rechtlichen Sender kostet, Literatur lebendig zu halten, liegt im Promillebereich. Anders und in Gramm gesagt, es ist der Fußzeh eines Sumoringers."

Außerdem: Thomas Wagner spricht im Interview mit ZeitOnline über die bizarr anmutende Brieffreundschaft zwischen Erich Fried und dem Neonazi Michael Kühnen, über die Wagner ein Buch verfasst hat. Im Standard unterhält sich Thomas David mit dem Schriftsteller Norbert Gstrein über dessen neuen, nächste Woche erscheinenden Roman. Daniel Ammann hat sich für einen online nachgereichten Text in der NZZ vom Wochenende erkundigt, woher Schriftsteller ihre Inspirationen beziehen.

Besprochen werden unter anderem Peter Fabjans "Ein Leben an der Seite von Thomas Bernhard" (FR), Tove Ditlevsens "Kopenhagen-Trilogie" (Berliner Zeitung), Tara June Winchs "The Yield" (54books), Ilse Aichingers "Unglaubwürdige Reisen" (54books), Matt Ruffs "88 Namen" (Standard), Karin Smirnoffs "Mein Bruder" (Standard), Darcy Van Poelgeests Comic "Little Bird" (taz), Raphaela Edelbauers "Dave" (Standard), Martin Mosebachs "Krass" (Tagesspiegel), Asal Dardans autobiografischer Essay "Betrachtungen einer Barbarin" (Tagesspiegel), David Schalkos "Bad Regina" (online nachgereicht von der FAZ) und Dylan Farrows "Hush" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Nadja Küchenmeister über Marie T. Martins "Brief im April":

"Bekommst du noch Briefe von Toten? Ich schreibe dir
ins Jahr nach deinem Tod ..."
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Kunst

Charles Gaines: Numbers and Trees, London Series 1, Tree #4, Devonshire Row, 2020. Bild: Hauser & Wirth

Laura Cumming feiert im Guardian den kalifornischen Künstler Charles Gaines, der Bäume oder die Bewegung der Tänzerin Trisha Brwon mit mathematischen Sequenzen kombiniert. Bis zum Ende des Lockdowns ist die Schau nur online bei Hauser & Wirth in London zu sehen: "Zum Beispiel der alte englische Baum, den Gaines letztes Jahr in Dorset fotografiert hat, dessen große Arme sich gegen einen hohen weißen Himmel strecken. Die dunklen Äste sind hinter den Flächen von unbemaltem Plexiglas zu sehen, teilweise sogar als expressive Schatten hinter den vielfarbigen Quadraten. Und dann kommen die Zahlen, in Schwarz, wie kalligrafische Echos von Waldzweigen dahinter; obwohl diese Assoziation natürlich ganz persönlich und romantisch sein mag. Was dabei jedem auffällt, der Gaines' Kunst in natura gesehen hat und sogar online), ist vermutlich das genaue Gegenteil: dass sie penibel nach bestimmten Algorithmen oder Regeln organisiert ist. Die Zahlen sagen das ebenso wie die Farben mit ihren seriellen Permutationen und Verläufen. Doch bei aller Betonung des Systemischen, die Gaines mit John Cage und Sol Le Witt verbindet, ist die Arbeit überwältigend schön."

In der FAZ zeigt sich Stefan Trinks zuversichtlich, bald wieder die große Schau zum 250. Geburtstag des Rokoko-Malers François Boucher in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe zu sehen. Trinks jedenfalls mag sie sehr, diese Verbindung von naturwissenschaftlich geschulter Genauigkeit und Sinnlichkeit: "Das Rokoko ist eine unausgesetzte Feier der Haptik, die mit Boucher neben Watteau, Jardin und seinem eigenen Meisterschüler Fragonard als Hohepriestern ein permanentes Hochamt feiert. Boucher malt nicht nur überwiegend sinnliche Sujets wie Veneren - seine Malerei selbst ist artifizielle Sinnlichkeit."

Weiteres: Im Tagesspiegel stößt Michaele Nolte am Beispiel Sonderförderungsprogramms für Galerien auf eine weitere Absurdität der Kulturbürokratie: Galerien müssen offen bleiben, wenn sie eine Förderung erhalten haben. Der Standard empfiehlt Ausstellung in den ab heute wieder geöffneten Museen in Österreich.
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Bühne

Aaron Röll, Elisabeth Rath und August Zirner im "Heldenplatz". Foto: Anna-Maria Löffelberger/ Landestheater Salzburg

Einen großen Skandal wie 1988 am Wiener Burgtheater kann man heute nicht mehr mit Thomas Bernhards "Heldenplatz" beschwören, weiß Thomas Rothschild in der Nachtkritik und sieht die Qualitäten von Alexandra Liedtkes Inszenierung am Landestheater Salzburg denn auch in der fantastischen Besetzung - bei Claus Peymann hatte noch Wolfgang Gasser, Sohn eines SS-Manns, den an der Gegenwart verzweifelnden Juden Robert Schuster gespielt: "August Zirner spricht seine Rolle nicht - er singt sie. Er tut, was er kann, um der Eigenart von Thomas Bernhards musikalischer Sprache gerecht zu werden. So betrachtet kann man den Salzburger 'Heldenplatz' als Widerstand gegen den aktuellen Trend des schlampigen Sprechnaturalismus begreifen, als Bekenntnis zur Künstlichkeit auf der Bühne. Zirner spielt den Robert Schuster als den resignierten Bruder, der die Verhältnisse sehr genau kennt, aber müde geworden ist beim Versuch, etwas daran zu ändern, und aus dem die Wut und die Verzweiflung nur momenthaft herausbricht. In seinem Gesicht zeichnet sich mehr Trauer als Empörung ab."

Weiteres: Ein bisschen größenwahnsinnig findet Sylvia Staude in der FR, wie Philipp Scholtysik in Eigenregie Aischylos' Riesendrama "Die Perser" in der Frankfurter Naxhoshalle über Zoom aufführt, am Ende aber sieht sie darin ein eindringliches Drama, das lehrt, auch "die fremden Toten zu beklagen". In der taz erzählt Katrin Bettina Müller von Kurzauftritten junger Schauspielerinnen vor Berliner Bühnen: "Am Ende sprach die Schauspielerin: 'Ich bin auch noch da.'"
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Film

Von draußen kommt meist Unheil: "A Sun" auf Netflix, wo man ihn suchen muss.

Chung Mong-hongs taiwanesisches Familiendrama "A Sun" räumte in seiner Heimat eine Menge Preise ab, auch Variety sang hier und dort vielbeachtete Lobesarien und wenn es gut läuft, erhält der Film sogar einen Oscar. Dass man den Film auch hierzulande auf Netflix sehen kann, bleibt allerdings das sorgsam gehütete Geheimnis der Online-Videothek, ärgert sich Anke Leweke in der Zeit: Dort muss man schon sehr aktiv danach suchen, statt ihn präsentiert zu bekommen. "Weshalb macht das Unternehmen nicht auf die Filme aufmerksam, die es rund um den Globus auf Festivals aufkauft und möglichen Kinomärkten wegschnappt?" Wie der Film dermaßen durch das Raster fallen konnte, versucht Tom Brueggemann auf IndieWire zu erklären. Es gab allerdings durchaus Journalisten, die den Film bemerkt haben, wie zum Beispiel Rajko Burchardt im Perlentaucher.

Pandemiebedingt war Guan Hus chinesischer Film "The 800" im vergangenen Jahr der international erfolgreichste Blockbuster, schreibt Hanns-Georg Rodekin der Welt. Ab 11. Februar ist der Film bei uns auf BluRay zu sehen. Der Historienfilm über die Konflikte zwischen China und Japan ist einerseits "ein Dreieck aberwitziger Beziehungen von Blicken", andererseits aber auch "ein Hohelied des rotchinesischen Patriotismus. ... Es sind die gleichen Mechanismen, die wir 50 Jahre in US-Kriegsfilmen gesehen haben. Ein unerschütterlicher John-Wayne-Anführer, ein sich läuternder Feigling, opferwillige Gemeine, die mit Sprengstoffgürteln in Trauben feindlicher Soldaten springen. Sobald die Fahne flattert, ertönt ein einsames Hornsignal, wie Hollywood es in feierlichen Momenten liebt. Das Vokabular strotzt von 'Vaterland' und 'Ehre'."

Weitere Artikel: Mariam Schaghaghi spricht für die Berliner Zeitung mit der 12-jährigen, aus "Systemsprenger" bekannten Schauspielerin Helena Zengel, die in "Neues aus der Welt" nun an der Seite von Tom Hanks in Hollywood gespielt hat. Im Interview mit der Welt spricht TV-Regisseur Friedemann Fromm unter anderem über das Drehen von Eventserien in Coronazeiten. Maria Wiesner hat für die FAZ recherchiert, wie neue Filmproduktionen mit der Pandemie umgehen: Ben Wheatley etwa lässt seinen neuen Horrorfilm in einem Seuchengebiet spielen lassen, sodass in größeren Szenen sowieso alle Masken tragen müssen. In der FAZ gratuliert Claudius Seidl Nick Nolte zum 80. Geburtstag. Nachrufe auf Christopher Plummer schreiben Daniel Kothenschulte (FR), Dirk Peitz (ZeitOnline), Fritz Göttler (SZ) und Dietmar Dath (FAZ).

Besprochen werden Mike Cahills auf Amazon gezeigter Science-Fiction-Film "Bliss" mit Salma Hayek und Owen Wilson (SZ), Sam Levinsons Netflix-Kammerspiel "Malcolm & Marie" (FAZ), Fisher Stevens' auf AppleTV gezeigtes Drama "Palmer" mit Justin Timberlake (Standard), die Thriller-Miniserie "Roadkill" (taz) und Martin Scorseses Netflix-Miniserie "Pretent it's a City" über Fran Lebowitz (NZZ).
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Musik

Der Jazzkritiker Christian Broecking - er schrieb unter anderem für die taz, den Tagesspiegel und die Zeit - ist im Alter von 63 Jahren gestorben. Jazz war für ihn kein Fossil, schreibt Jörg Sundermeier in der taz: "Er war lebendig im Jazz und der Jazz lebte in ihm." Broecking suchte stets, "über das bloß Gehörte hinauszugelangen", erklärt Kai Müller im Tagesspiegel. "Er redete mit den Musikern, seinen Idolen und jenen, die ihm weniger sympathisch waren, denn ihn interessierten Anekdoten und Lebensumstände, ihre Weltsicht, kurz: der schöpferische Rahmen. ... Es fiel ihm schwer zu akzeptieren, dass Jazz immer weiter aus dem öffentlichen Raum verdrängt wurde. Zu Broeckings größten Projekten zählte denn auch der Aufbau des Berliner Jazz-Radios, dessen Programmdirektor er von 1994 bis 1998 war. Seine Hoffnungen erfüllten sich allerdings nicht. Den Untergang des radikalen Jazz im Radio musste er bedrückt und hilflos mitansehen."

"Den Jazz verstand er immer politisch", schreibt Ulrich Stock auf ZeitOnline. Broeckings Interviewbände erzählen "auf jeder Seite von den gesellschaftlichen Strukturen, unter denen diese Musik leidet und lebt. Welch ein Gleichklang: die schwierigen Umstände, die schwierige Ästhetik; zugleich ein verwirrender Gegensatz: die bittere Realität, die so erhebende Musik."

Außerdem: Isabel Herzfeld erkundigt sich für den Tagesspiegel, wie sich das Delian Quartett durch die Pandemie schlägt. Hocherfreut zeigt sich Christian Thielemann im FAZ-Gespräch darüber, dass nicht nur die Konflikte mit Nikolaus Bacher beigelegt sind, sondern auch, dass er im April mit der Sächsischen Staatskapelle bei den Osterfestspielen Salzburg spielen kann.

Besprochen werden der Auftritt von The Weeknd beim Superbowl (Standard, SZ), Dave Hause' neues Album "Patty / Paddy" (FR), eine CD-Ausgabe von Roger Willemsens letztem literarisch-musikalischem Bühneprogramm, das man hier nachhören kann (Tagesspiegel) und weitere neue Musikveröffentlichungen, darunter eine Aufnahme von Franz Schuberts Symphonien durch das Chamber Orchestra of Europe unter Nikolaus Harnoncourt (FAZ).
Archiv: Musik