Efeu - Die Kulturrundschau

Unschärfe transportiert die Eile

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18.02.2021. Darf man den König einen Dummkopf und Mafioso nennen? Nicht in Spanien, dort soll der spanische Rapper Pablo Hasél wegen Majestätsbeleidigung ins Gefängnis, berichten Standard und SZ. In der NZZ erzählt die Historikerin Susanna Burghartz eine kleine Geschichte des Schleiers in Europa, dessen Gebrauch Spanien wegen seines Flirtpotenzials verbieten wollte. In Harper's verzichtet Martin Scorsese auf Content und wünscht sich einen atmenden Kurator. Intellectures feiert den Ostberliner Fotografen Harald Hauswald. Und noch eine traurige Nachricht: Françoise Cactus von Stereo Total ist gestorben.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.02.2021 finden Sie hier

Film

Eigentlich würdigt Martin Scorseses in seinem großen Harper's-Text ja das Kino Fellinis. Aber auf die Gegenwart von Kino und Film kommt der New Yorker Regisseur auch zu sprechen. Insbesondere die Rede vom "content" stößt ihn ab, ein Wort, das mit dem Siegeszug der Streaminganbieter nun endgültig alles in sich vereint: Filmisches McDonalds und hohe Filmkunst gleichermaßen. "Das hat eine Situation geschaffen, in dem dem Publikum alles unter gleichen Wettbewerbsbedingungen präsentiert wird - was demokratisch aussieht, aber nicht ist. Wenn weitere Filmsichtungen von Algorithmen 'vorgeschlagen' werden und zwar auf der Grundlage dessen, was man bereits gesehen hat und was Thema und Genre hergeben, was passiert dann mit der Kunst des Kinos? Der Akt des Kuratierens ist nicht undemokratisch oder 'elitär', ein Begriff, der längst zur Bedeutungslosigkeit abgenutzt ist. Er ist ein Akt der Großzügigkeit - man teilt etwas, was man liebt und einen inspiriert hat. ... Wir können uns aufs Filmgeschäft, wie es derzeit ist, nicht verlassen, wenn es um die Pflege des Kinos geht. Im Filmgeschäft, welches nun das Geschäft visueller Massenunterhaltung ist, liegt die Betonung auf '-geschäft' und Wert beziffert sich allein in der Höhe des Betrags, der aus einem Produkt zu ziehen ist. In diesem Sinne ist so ziemlich alles von 'Sunrise' über 'La Strada' bis zu '2001 ausgepresst und nunmehr bereit für die 'Kunstfilm'-Schiene einer Streamingplattform."

Mark Peranson vom Auswahlkomitee der Berlinale findet es im NZZ-Interview zwar ebenfalls "bedauerlich", wenn die Filmkritiker bei der in diesem Jahr gespreizt stattfindenden Berlinale im März Filme besprechen müssen, die das Festivalpublikum erst im Juni zu Gesicht bekommt. "Aber wenn das Publikum von Filmen liest, die auf anderen Festivals Premiere haben, wird es sie auch erst Monate später sehen. Die Presse braucht es jetzt im März für den Filmmarkt, denn für die Filmeinkäufer sind die Rezensionen enorm wichtig."

In der FR widerspricht Arno Widmann Edo Reents energisch, der in der FAZ nach #Actout behauptet hat, dass sich queere und diverse Lebensrealitäten im Mainstream nicht verfangen würden (unser Resümee). Doch auch dem Mainstream wird der Mainstream schließlich irgendwann bleiern, wenn man sich etwa durchs Filmangebot der Öffentlich-Rechtlichen wühlt: "Natürlich hat kein Mensch etwas dagegen, dass es Filme gibt, in denen die Welt binär kodiert ist, also alles sich darum dreht, dass die richtige Frau den richtigen Mann bekommt. Aber wenn ganze Zweige der Unterhaltungsindustrie nichts anderes zu kennen scheinen, dann muss dem entgegengesteuert werden. Weil Millionen Menschen sonst fortwährend erklärt wird: Verschwinde, du hast hier nichts verloren."

Weitere Artikel: Patrick Heidmann spricht in der taz mit Sébastien Lifshitzs über dessen Dokumentarfilm "Kleines Mädchen" über ein transsexuelles Mädchen. Für eine taz-Reportage zieht Sabine Seifert durch leere Kinos. In der FAZ gratuliert Patrick Bahners dem Filmhistoriker David Thomson zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Hafsia Herzis Debütfilm "You Deserve a Lover" und Adam Curtis' Found-Footage-Film "Can't Get You Out of My Head" (Perlentaucher), Radu Judes auf Mubi gezeigter Film "Uppercase Print" (Filmdienst), Sias Musikfilm "Music" (Tagesspiegel), Ian Samuels' auf Amazon gezeigter Zeitreisefilm "16 Stunden Ewigkeit" (FR), der Netflix-Thriller "I Care A Lot" mit Rosamund Pike (taz), die DVD-Ausgabe von Francesco Rizzis "Cronofobia" (taz) und Patty Jenkins' "Wonder Woman 1984" (taz, Standard).
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Design

In der NZZ erzählt die Historikerin Susanna Burghartz eine kleine Geschichte der Verschleierung in Europa, die alles ist, nur keine Geschichte der Keuschheit! Während die Frauen sich im Mittelalter in möglichst hauchzarte Stoffe hüllten, kam es in der Reformationszeit "zu einer ersten Enthüllungswelle in der Mode. Vor allem die Nürnberger Patrizierinnen setzten sich für die neue Mode der Goldhauben ein. Kostbar und raffiniert gemacht, erlaubten sie es, mehr Gesicht und Haar zu zeigen als früher. Während es hier um die Lockerung des Verschleierungsgebots ging, setzte sich im katholischen Spanien zur gleichen Zeit der Humanist und Erzieher Juan Luis Vives für den Zwang zur Entschleierung ein und propagierte ein Verbot für die modische Verhüllung des Gesichts. Er behauptete, wahre Tugend zeige sich nur im unverschleierten Angesicht. Die neue Mode der Vollverschleierung, der sogenannte Tapado, erlaube es frivolen Frauen, ungehindert Männer zu beobachten, ohne von ihnen gesehen zu werden. So erließ Spanien unter Philipp II. am Ende des 16. Jahrhunderts ein Schleierverbot. Ähnlich argumentierten damals auch italienische Moralisten. Doch all das verhinderte die Verbreitung der Verschleierung nicht.
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Musik

Was für eine traurige Meldung: Die Berliner Popikone Françoise Cactus ist gestorben. Gemeinsam mit ihrem Lebenspartner Brezel Göring spielte sie mit Stereo Total Musik, wie sie so wohl nur im Berlin der 90er entstehen konnte, nämlich eine "Synthese aus Lo-Fi-Pop, Easy Listening und Spielzeugelektronik, zumeist arrangiert von Brezel, verfeinert von Françoises Schlagzeug und Stimme", erklärt Gerit Bartels im Tagesspiegel. "'Klänge aus einer Ära, in der Virtuosität noch nicht erfunden war', haben sie das genannt." Aber "das Wunderbarste an ihr war immer, dass sie sich selbst nicht über die Maßen ernst nahm; dass sie mit ihrer ungezwungenen Art und diesem manchmal vulkanisch aus ihr herausbrechenden Lachen selbst die größten Miesmuffel für sich einzunehmen verstand."

Auch Jenni Zylka von der taz, wo Françoise Cactus lange als Layouterin arbeitete, wischt eine Träne weg: Wenn Cactus "auf der Bühne stand, beziehungsweise neben Brezel Göring am Schlagzeug saß, während er entzückende elektronische Ausrufezeichen aus seinen Synthies und klitzekleinen Casios feuerte, und sie dazu auf Englisch, Französisch und Deutsch gleichermaßen umwerfend sang, dann erweiterte das den Punk-Begriff um etwas, was er (vor allem in Deutschland) dringend brauchte: Nonchalance."

Christian Schulz teilt auf Facebook tolle Fotos. Bei radioeins kann man, wenn man etwas runterscrollt, derzeit noch die letzte von ihr kuratierte Radiosendung hören. Mit "Liebe zu dritt" gelang Stereo Total ein Hit über die Szene hinaus:



In Spanien soll der Rapper Pablo Hasél wegen Majestätsbeleidigung ins Gefängnis, berichtet Karl Fluch im Standard: "Er nannte Vertreter des spanischen Königshauses Parasiten, den König im Ruhestand, Juan Carlos I., einen Dummkopf, einen Mafioso und Anführer einer kriminellen Vereinigung: Das bescherte ihm eine Anklage wegen Majestätsbeleidigung, dafür kassierte er neun Monate Haft. Nachdem er diese am Dienstag nicht freiwillig angetreten hatte, rückte die Polizei aus, um den in der Universität von Lleida verschanzten Rapper abzuholen. Dabei kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen in mehreren spanischen Städten, Tausende gingen aus Solidarität am Dienstag- und Mittwochabend auf die Straße."

Seitdem debattiert Spanien über die Meinungsfreiheit, erzählt Karin Janker in der SZ: "Die dänische NGO Freemuse, die sich in Zusammenarbeit etwa mit dem PEN-Autorenverband weltweit für die Freiheit von Künstlern einsetzt, dokumentiert, dass im Jahr 2019 in Spanien 14 Künstler zu Gefängnisstrafen verurteilt waren - so viele wie in keinem anderen Land. Damit lag Spanien vor Staaten wie Iran mit 13 oder Myanmar mit 8 inhaftierten Künstlern, wenn auch die Arbeitsbedingungen für Künstler in diesen Ländern schwer mit denen in Spanien vergleichbar sind."

Weitere Artikel: Im VAN-Magazin schlägt der Komponist George E. Lewis acht Schritte für eine Dekolonisation der Neuen Musik vor. Leon Scherfig beschreibt in der FAZ die Auswirkung der nicht enden wollenden Coronakrise auf Nachwuchsmusiker im E-Musik-Bereich - und sie sind katastrophal: Laut einer Studie denken ein Fünftel der Musiker darüber nach, ihren Beruf aufzugeben. Auch wenn die meisten Kulturwellen die Klassik zusammenstreichen, gibt es immer noch Schatzinseln und Perlen im Programm, schreibt Volker Hagedorn in VAN und empfiehlt mit Nachdruck "Interpretationen" im Dlf Kultur (wo er, wie er immerhin einräumt, allerdings selbst schon "ein paar Mal mitgemacht" hat). In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen widmet sich Arno Lücker Nina Makarova.

Besprochen werden ein auf Vinyl veröffentlichter Live-Auftritt von Dave Brubeck in Wien (Standard) und das Debütalbum von Celeste (FAZ). Wir hören rein:

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Literatur

Martin Jurgeit bringt im Tagesspiegel Hintergründe dazu, warum die Auslieferung der deutschen Ausgabe von Hergés Comic "Tim in Amerika" gestoppt wurde: Es geht um Lizenzstreitigkeiten. Der Schriftsteller Alain Claude Sulzer erklärt in der NZZ, wie er sich von pandemieinduzierten Albträumen in Buchwelten flüchtet.

Besprochen werden unter anderem Hengameh Yaghoobifarahs Debütroman "Ministerium der Träume" (Tagesspiegel), Thea Dorns Briefroman "Trost" (Freitag), Yevgeniy Breygers Gedichtband "Gestohlene Luft" (ZeitOnline), Ottessa Moshfeghs "Der Tod in ihren Händen" (Intellectures), Norbert Gstreins "Der zweite Jakob" (Welt), eine Onlinelesung von Michael Wildenhain (FR), Mithu Sanyals Romandebüt "Identitti" (SZ) und Stefan Zweigs "Briefe zum Judentum" (FAZ).
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Bühne

Die Metropolitan Opera in New York steckt in einer tiefen Krise, berichtet Michael Stallknecht in der NZZ. Seit elf Monaten werden die Orchestermusiker nicht mehr bezahlt. "Die Met übernimmt auf Geheiß von Peter Gelb, dem Intendanten, zwar nach wie vor die Krankenversicherung; außerdem erhalten Musiker, die ihr Geld nicht anderweitig etwa durch Unterrichten verdienen, etwas Arbeitslosenunterstützung vom Staat New York. Zum Leben in einer der teuersten Städte der Welt aber reicht das bei weitem nicht. Inzwischen sind mehrere Musiker in Frührente gegangen, von den übrigen hat ein Drittel die Stadt verlassen. So ist beispielsweise einer der beiden Konzertmeister als Aushilfe beim Staatsorchester Stuttgart untergekommen. Das ist nicht nur eine soziale Tragödie, sondern auch ein künstlerisches Desaster, denn es könnte dauerhaft jene klangliche Identität ruinieren, die ein Orchester nur über Jahre aufbauen kann."

In der FAZ porträtiert Simon Strauß die Mainzer Souffleuse Lisa Passow als stille, doch einfühlsame Heldin des Theaters: "Es gibt keine Ausbildung für den Beruf der Souffleuse. Meist 'rutscht man irgendwie hinein', berichtet Passow, viele ihrer Kolleginnen waren früher Regieassistentinnen oder Schauspielerinnen. Der besondere Status, den eine Souffleuse am Theater hat, rührt von ihrer Stellung als intime Außenseiterin her. Einerseits ist sie ständig dabei, andererseits hat sie als einzige keinen Anspruch auf kreative Mitsprache am Kunstwerk. Sie hält den Laden am Laufen, ohne dass sie ihn mit ihren Ideen ausstatten muss."

Außerdem: In der Zeit porträtiert Katja Nicodemus auf einer ganzen Seite die Schauspielerin Laura Tonke.
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Kunst

Harald Hauswald, Konzert von Big Country, Radrennbahn Weißensee, Berlin 1986. © Harald Hauswald/OSTKREUZ/Bundesstiftung Aufarbeitung


Eine schöne Hommage auf den Osberliner Fotografen Harald Hauswald schreibt Thomas Hummitzsch bei intellectures: "Alexanderplatz steht auf dem Straßenschild, das es unbedingt braucht, um dem Geschehen einen Ort zu geben. Denn Hauswald ist viel zu nah dran, als dass man irgendetwas Markantes erkennen könnte. Stattdessen ein Pulk aus Menschen und Fahnen, die durcheinander laufen. Die Unschärfe transportiert die Eile, die herrscht, bevor alle wie begossene Pudel im Regen stehen. Mit wehenden Fahnen fliehen die Demonstranten am 1. Mai 1987 vor dem Wolkenbruch. 'Fahnenflucht' lautet der Titel dieser ikonischen Aufnahme, in dem schon vorweggenommen wird, was zweieinhalb Jahre später mit einem ganzen Land passiert. Harald Hauswalds Bilder haben etwas Subversives, indem sie einem ganz eigenen Blick folgen und immer wieder Dinge ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit rücken, die der Allgemeinheit entgangen sind. Wer bleibt schon im strömenden Regen stehen und fotografiert eine sich auflösende Parade?" Hauswalds Bilder sollten eigentlich von letzten November an bis März im C/O Berlin zu sehen sein, aber wegen der Pandemie war das Haus die ganze Zeit geschlossen. Immerhin gibt es einen Katalog.

Ein tapferer Andres Wysling drängelt sich für die NZZ mit giftig zischenden Damen aus dem römischen Bürgertum in der Ausstellung "Marmi Torlonia" um 96 der schönsten antiken Statuen der Welt. Gezischt wird, weil die Ausstellung im Palazzo Caffarelli auf dem Kapitol trotz Einlassbeschränkungen voll ist. Die Statuen sind nämlich oft sehr groß, lesen wir, Platz genug gibt es in keinem Museum in Rom dafür (insgesamt umfasst die Torloni-Sammlung 620 Statuen). Und was bekommt man zu sehen? "Junge Frauen mit toupierten Frisuren, Senatoren mit runzliger Stirn, wackere Krieger mit Knüppel und Dolch, erhabene Kaiser in Herrscherpose, kühne Wagenlenker in rasender Fahrt ... Die Sammlung der Torlonia ist durch den Aufkauf mehrerer bestehender Sammlungen entstanden... Die Familie war aus Lyon nach Rom und hier zu Geld gekommen. Als An- und Emporkömmlinge wollten die Torlonia Bildung und Traditionsbewusstsein beweisen, den eigenen Status unterstreichen. Die Statuen waren dafür das geeignete Accessoire. Sie schmückten die Paläste und Villen und Gärten, sie dienten als Kulisse für rauschende Feste, deren 'élégance suprême' den Dichter Stendhal entzückte."



Weiteres: Maria Eichhorn gestaltet in Venedig den nächsten deutschen Pavillon, meldet Nicola Kuhn im Tagesspiegel. Besprochen wird Bernhard Langs "Aerial Views", Fotografien von oben, aus einem Flugzeug, die das Museum für Konkrete Kunst in Ingolstadt auf Plakatwände gespannt und im Stadtraum verteilt hat (FAZ).
Archiv: Kunst