Efeu - Die Kulturrundschau

Prioritätengruppe 1 im kulturellen Sektor

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12.04.2021. Das ZeitMagazin beobachtet, wie neuerdings Trendscouts und Stylisten die Armen aus den Secondhand-Läden verdrängen. In der SZ sieht die Dramaturgin Marion Tiedtke in der Ämterhäufung der Intendanten die Ursache für den Machtmissbrach am Theater. Die taz beklagt die Unorte, die der Architekt Werner Düttmann Berlin hinterlassen habe. Die NZZ lernt mit der Serie "Shtisel" ihre orthodoxen Nachbarn kennen. Und die FAZ ruft auf zur Rettung von Renate, der Schwiegermutter unter den Comic-Biobliotheken
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.04.2021 finden Sie hier

Design

Second Hand ist der letzte Schrei, schreibt Alex Bohn in seiner Reportage fürs ZeitMagazin: Längst werden Bestände von findige Händen geplündert, mit kuratierten Einkaufserlebnissen gelockt und Fundstücke von Designern veredelt und als Einzelstück zu horrenden Preisen angeboten. "In den USA spricht Dominique Drakeford, die sich als Aktivistin für Nachhaltigkeit engagiert und sich in den Medien und bei Nachhaltigkeitsforen für den Verkauf von Secondhandmode einsetzt, von einer 'Gentrifizierung' des Marktes. In Amerika, so sagt sie, haben vor allen Dingen Menschen mit geringem Einkommen - und somit oft POC-Gemeinschaften - die modische Akzeptanz der Kleidung aus zweiter Hand vorangetrieben. Jetzt, da Vintage plötzlich ein Trend ist, steigen die Preise, so Dominique Drakeford, und 'die eigentliche Zielgruppe hat das Nachsehen'. Tatsächlich hat die Nichtregierungsorganisation Goodwill, die in den USA Läden betreibt, in denen Kleiderspenden und Haushaltswaren an Bedürftige abgegeben werden, bereits 2019 zusammen mit Google einen Workshop angeboten, in dem Mitarbeiter von Secondhandläden lernten, wie sie die gespendeten Waren so im Laden stylen, dass sie Trendscouts und Stylisten gefallen."
Archiv: Design

Bühne

Die Theater sind deshalb so anfällig für Machtmissbrauch geworden, weil sich einfach zu viel Macht in den Händen der Intendanten ballt, meint die Dramaturgin Marion Tiedtke im SZ-Interview mit Christine Dössel: "Zum einen dadurch, dass es kaum mehr Hausregisseure oder Oberspielleiter gibt, also Regisseure, die wirklich kontinuierlich an einem Haus arbeiten. In der Regel sind es freie Regieteams, die von Theater zu Theater ziehen. Das hat die Macht der Intendanten verstärkt. Genauso wie die Tendenz zur Ämterhäufung. Am Schauspiel Frankfurt wurde beispielsweise schon unter Oliver Reese und Bernd Loebe die Geschäftsführung mit der Intendanz zusammengelegt... Als Drittes kommt hinzu, dass die Ensembles immer kleiner werden. Das bedeutet: Der Markt für Schauspielerinnen und Schauspieler wird enger und die Konkurrenz größer."

Weiteres: Wiebke Hüster schreibt in der FAZ den Nachruf auf den brasilianischen Tänzer und Choreografen Ismael Ivo.

Besprochen werden Jan Friedrichs Inszenierung von Bertolt Brechts Männerkampf-Stück "Im Dickicht der Städte" im Stream vom Theater Oberhausen (Nachtkritik), die "Posthumane Geschichte" des Hongkonger Autors Pat To Yan am Frankfurter Schauspiel (der Judith von Sternburg in der FR eine weniger smarte Inszenierung gewünscht hätte, Nachtkritik), ein "intensiver" Doppelabend über die Zerstörung von Frauen mit Kantaten von Händel und Lili Boulanger am Staatstheater Darmstadt (FR), Alexander Nerlich Inszenierung von E.T.A. Hoffmanns Schauergeschichte "Der Sandmann" als Videochat am Stadttheater Ingolstadt (Nachtkritik) und ein Stück über den Schriftsteller und Bauernrebellen Franz Michael Felder in Bregenz am Landestheater Vorarlberg (Standard).
Archiv: Bühne

Literatur

Rettet Renate, ruft Andreas Platthaus in der FAZ und meint damit die ziemlich einzigartige Berliner Comicbibliothek gleichen Namens, die einst mit einem tiefen historischen Archiv die "Schwiegermuttisierung" der nachwachsenden Comicgeneration zur eigenen Aufgabe erklärt hatte und bei der nun wegen Corona langsam das Licht auszugehen droht: "Wenn Berlins Comicszene nicht zum Witwer werden soll, ist mehr als Schwiegermutterisieren angesagt: Renate muss vergroßmuttert werden, fitgemacht für ein hohes Alter. Prioritätengruppe 1 im kulturellen Sektor. Der Name des erwünschten Impfstoffes lautet Geld."

Weitere Artikel: In der SZ erinnert Johanna Adorján an die Fehde zwischen Truman Capote und Gore Vidal. Im Literaturfeature für Dlf Kultur denkt Florian Felix Weyh über todessehnsüchtige Schriftsteller nach.

Besprochen werden unter anderem Sylvie Schenks "Roman d'amour" (Standard), Ulrich Peltzers "Das bist du" (Freitag) und Barus Comic "Bella Ciao" (Tagesspiegel).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Rüdiger Görner über Robert Graves' "Fragment":

"Rührt, wühlt es dich auf,
ein Flüstern der Liebe?
..."
Archiv: Literatur

Architektur

Das Märkische Viertel. Foto: AdK Berlin/Werner-Düttmann-Archiv

Zum hundertsten Geburstag des Berliner Architekten Werner Düttmann kann Martin Kieren in der taz nicht seinen Frieden machen, dem die Stadt nicht nur die Verkehrskanzel am Kurfürstendamm oder die Akademie der Künste verdankt, sondern auch das Konzept Urbanität durch Dichte: "Statt an der Struktur (und Dichte!) dieser alten Stadt weiterzubauen, riss man großflächig ganze Quartiere ab und ersetzte die Flächen mit Großbauten, die von ihrer Typologie her an den Stadtrand gehören. Dieses 'Flächensanierung' genannte Vorgehen kann man rund um den Mehringplatz studieren. Oder am Kottbusser Tor. In beiden Fällen ist derjenige, der die Strategie (die Rahmenplanung) entwickelte und hier einige entsprechend groß- beziehungsweise unmaßstäbliche Bauten entwarf, Werner Düttmann. Das alte Sozialgefüge zerstört, Umsiedlung der Bewohner in die Stadtrandsiedlungen, Mietsteigerungen gegenüber dem Altbau, Anonymität statt Nachbarschaft, Verlust kleinteiligen Handels und Gewerbes. Derart entstandene Orte nennen wir heute städtische Unorte." Ein Fotostrecke zu Düttmanns vielfältigen Bauten zeigt der Tip.

In der SZ meldet Laura Weißmüller, dass die Architekturbiennale in Venedig im Mai tatsächlich als Präsenzveranstaltung stattfinden soll, die Aufbauarbeiten seien im Gang.
Archiv: Architektur

Film

NZZ-Kritiker Urs Bühler lernt mit der Netflix-Serie "Shtisel" seine jüdisch-orthodoxe Nachbarschaft besser kennen. Für ihn ist die israelische Serie eine echte Perle im Einerlei des Streamingangebots: "Die Handlung lebt nicht von Ritualen, sondern von schlichten Szenen anrührender Menschlichkeit, etwa wenn Vater und Sohn am Küchentisch das Abendbrot teilen. "Rega, Rega", ist die hebräische Bitte, die mir diese Serie unverrückbar im Gedächtnis verankert hat: 'Ruhig, ruhig.' Nichts ist aufgeregt hier, weder die Kameraführung noch der Humor fern aller Social-Media-Hypes. Die Charaktere werden behutsam entwickelt, der Soundtrack von Avi Belleli ist von betörender Schönheit und prägt die melancholische Grundstimmung entscheidend mit."

Außerdem: Eine im Westen bis dahin kaum bekannte, in der Sowjetunion in den späten 80ern entstandene Verfilmung von Tolkiens "Herr der Ringe" feiert gerade via Youtube-Upload einen sagenhaften Erfolg, staunt Sonja Zekri in der SZ: "Die weltweite Verzückung sowie das globale Entsetzen über den psychedelischen Trip durch Mittelerde kennen keine Grenzen." Im Filmdienst gratuliert Michael Kienzle mit einer ausführlichen Hommage Vincent Gallo zum 60. Geburtstag.

Besprochen werden Katrin Schlössers experimentelle Beziehungs-Doku "Szenen meiner Ehe" (FAZ), Chloé Zhaos auf Mubi gezeigtes Regiedebüt "Songs My Brothers Taught Me" von 2015 (Tagesspiegel), die HBO-Serie "The Nevers" (Zeit) und Park Hoon-jungs auf Netflix gezeigter, koreanischer Gangsterthriller "Night in Paradise", der laut tazlerin Jenni Zylka "in einem selbst für das Genre unzeitgemäßen Männer-, Frauen- und Gangsterbild verharrt".
Archiv: Film

Kunst

Ein "dokumentarisches Meisterstück" sieht FAZ-Korrespondentin Bettina Wohlfarth in Antoine Vitkines morgen auf France 5 gezeigtem Film über den "Salvator Mundi" (unser Resümee). Der Dokumentarfilmer kann darin nachweisen, dass das Bild nicht von Leonardo da Vinci stammt, der Louvre seine Ergebnisse aber nicht bekanntgeben durfte, um den saudischen Herrscher Mohammed bin Salman nicht bloßzustellen, der dafür 450 Millionen Dollar gezahlt hat. Aber auch der Kunstmarkt wird bei Vitkine hübsch vorgeführt, versichert Wohlfahrt: "Man sieht den Experten Martin Kemp, der durch "das Urteil des geschulten Auges", wie er es nennt, wesentlich zur Zuschreibung an Leonardo beigetragen hatte, im Laufe des Films schmunzelnd von seinem Standpunkt abrücken. Luke Syson, der in seinem Ehrgeiz leichtfertige Kurator der Londoner National Gallery, möchte mit dem neu entdeckten möglichen Meisterwerk seine Leonardo-Schau krönen: So verleiht das namhafte Museum dem Werk die offizielle Zuschreibung, die in Zukunft seinen Wert bestimmen wird. Der schweizerische Geschäftsmann Yves Bouvier, der von Genf aus als Kunstberater und Besitzer von Zollfreilagern agiert, kann sich im ausführlichen Interview ein gewisses Pläsir darüber nicht verkneifen, dass er am Oligarchen Dmitrij Rybolowlew einiges hinzuverdienen konnte."

Weiteres: Freddy Langer schreibt in der FAZ zum Tod der amerikanischen Fotografin June Newton alias Alice Springs.

Besprochen werden eine Aussstellung im Tiroler Landesmuseum zum Maler Franz von Defregger, der mit seinen Bauernidyllen zu Hitlers Liebelingsmaler avancierte, bevor ihn die Kunstgeschichte peinlich berührt ins Vergessen abschob (FAZ), die Ausstellung "Der Erfinder der Elektrizität - Joseph Beuys und der Christusimpuls" in der St. Matthäus-Kirche (Tsp) und Akasha Rabuts Chicks-on-Bikes-Band "Death Magick. Abundance" (BLZ).
Archiv: Kunst

Musik

Das Elektro-Duo Lost Girls - bestehend aus Jenny Hval und Håvard Volden - hat sich nach dem gleichnamigen, feministisch-pornografischen Comicepos von Melinda Gebbie und Alan Moore benannt, erklärt Beate Scheder in der taz. Aber "im Vergleich zu ihrem literarischen Vorbild sind die Texte auf 'Menneskekollektivet' ziemlich unerotisch. Oder kommt es nur darauf an, was unter Erotik verstanden wird? Können Buchstaben erotisch sein? Vokale? Ein Y? 'I cannot distinguish a Y from a thigh' - so lautet einer der herrlich seltsamen Sätze, die Hval auf dem titelgebenden Stück über sphärische Synthesizerklänge spricht." Wir hören rein:



Die NZZ hat Hans Walter Gablers Lobesarie auf John Eliot Gardiners im Corona-Lockdown entstandenen Podcast über Monteverdi aus der Wochenendausgabe online nachgereicht: Im freien Vortrag zeichnet der Dirigent das Bild einer Gelehrtenrepublik, die um 1600 im Austausch über Disziplin- und Gattungsgrenzen hinweg Europa neu denkt: Nachzuvollziehen ist dabei auch, wie die Musik "Ende des 16. Jahrhunderts als autonomes Ausdrucksmittel eine Ebenbürtigkeit unter den weltlichen Künsten erlangt. Gardiner sieht in Monteverdi zu Recht eine Schlüsselfigur für diesen revolutionären Moment um 1600: Wie Caravaggio, Rubens oder Shakespeare versteht auch Monteverdi seine Kunst als eine gänzlich auf die Wirklichkeit und den Menschen ausgerichtete Form des Ausdrucks. Das heißt für ihn, mithilfe der Musik menschliche Empfindungen und Emotionen darzustellen und durch Klangkunst und Gesang wiederum die Menschen selbst zu berühren. Einmal mehr erweist sich dabei - und Gardiner unterstreicht dies mit eindrücklichen Hörbeispielen -, welcher epochale Rang Monteverdis 'L'Orfeo' von 1607 zukommt, der ersten bedeutenden Oper der Musikgeschichte."

Außerdem: Tobi Müller rät auf ZeitOnline zur Vorsicht, was das Heilsversprechen der auf dem Kunstmarkt gerade gehypten NFT-Technologie betrifft, für die sich auch die Popmusik immer mehr interessiert: Bislang habe noch jedes Heilsversprechen der Digitalisierung zu monopolartigen Zuspitzungen geführt, meint er. FAZ und Welt sprechen mit dem Oboisten Albrecht Mayer von den Berliner Philharmonikern, der gerade eine neue Mozart-Aufnahme auf den Markt gebracht hat. Jakob Biazza schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Rapper DMX, der im Alter von 50 Jahren gestorben ist.

Besprochen werden das neue Album von Noga Erez (Jungle World), Igor Levits Buch "Hauskonzert" (SZ) und weitere neue Musikveröffentlichungen, darunte Rhiannon Giddens' Album "They're Calling Me Home" (FAZ).
Archiv: Musik