Efeu - Die Kulturrundschau

Im metaphorischen Bierzelt

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27.04.2021. Die NZZ stellt in einer Schau zu deutschem Design fest, dass der Eiserne Vorhang zumindest für fluide Formen durchlässig war. Recycling macht kreativ, ruft die taz den Architekten zu. Die FAZ erinnert an den Fassbinder-Skandal von 1985 und sieht in ihm auch eine Folge des Frankfurter Häuserkampfs. Der DlfKultur möchte im Streit um den Buchmessenpreis Qualität und Diversität nicht gegeneinander ausspielen. In China herrscht keine große Freude über den Oscar für Regisseurin Chloé Zhao, weiß die New York Times. Und die SZ hört den perfekten Popsong.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.04.2021 finden Sie hier

Design

Rudolf Horn und Eberhardt Wüstner, MDW-Montagemöbel, 1967, Archiv Rudolf Horn, Foto: Friedrich Weimer, Dresden

"Es gab niemals Ecken und Kanten contra Plaste und Elaste", stellt NZZ-Kritikerin Judith Leister in der derzeit nur per Video erfahrbaren Ausstellung "Deutsches Design 1949-1989. Zwei Länder, eine Geschichte" des Vitra-Design Museums fest: Design in der BRD, Design in der DDR - beide lagen näher beieinander als man denkt. Denn zumindest bis 1961 "war der deutsch-deutsche Raum noch durchlässig für Ideen". Zu sehen gibt es, "wie in den Sechzigern fluide Formen das Design eroberten. Inspiriert vom Wettlauf der Supermächte ins All, suchte man auch in der DDR nach einer originären Formensprache für Plastik. ... Die SED-Führung erkannte, dass Industriedesign als Wirtschaftsfaktor auch den Lebensstandard verbessern kann. Renommierprojekte wie das Restaurant Moskau an der Ostberliner Karl-Marx-Allee (1961) oder der Palast der Republik (1976) propagierten den Funktionalismus offensiv, bis in Details wie Typografie und Besucherleitsystem", während im Westen "der Funktionalismus schon ab den fünfziger Jahren stilbildend war".

Außerdem: In seiner Stilkolumne im ZeitMagazin widmet sich Tillmann Prüfer dem Minirock, der die aktuellen Sommerkollektionen der großen Häuser dominiert.
Archiv: Design

Film

Ausgerechnet in China kommt der Oscar für Chloé Zhaos Film "Nomadland" gar nicht gut an, berichten Amy Qin und Amy Chang Chien in der New York Times: "Die staatlichen chinesischen Nachrichtenmedien - die normalerweise gerne die Anerkennung ihrer Bürger auf der globalen Bühne feiern - erwähnten die Oscar-Verleihung fast gar nicht, geschweige denn Zhao. Chinesische Social-Media-Plattformen beeilten sich, die Verbreitung von Artikeln und Beiträgen über die Zeremonie und Zhao zu löschen oder einzuschränken, was viele Internetnutzer und Fans dazu zwang, Homonyme und Wortspiele zu verwenden, um der Zensur zu entgehen. Ein Grund für die Zensur wurde nicht genannt, obwohl Zhao kürzlich Ziel einer nationalistischen Gegenreaktion war, weil sie in der Vergangenheit kritische Bemerkungen zu China gemacht hatte [mehr dazu in unserer Magazinrundschau]. ... Am Montagnachmittag brach die Global Times, eine Zeitung, die der Kommunistischen Partei gehört, das Schweigen und forderte Zhao auf, eine 'vermittelnde Rolle' zwischen China und den Vereinigten Staaten zu spielen und 'sich nicht als Reibungspunkt' zu erweisen. 'Wir hoffen, dass sie bald reifer wird', schrieb die Zeitung in einem Leitartikel, der nur auf Englisch veröffentlicht wurde."

Auch Fabian Kretschmer berichtet in der taz darüber, wie Zhao (über die Esther Rüdiger heute ein kleines Porträt in der NZZ schreibt) in China totgeschwiegen wird. "Die Oscar-Verleihung durfte auf Anordnung der Behörden nicht live übertragen werden. Selbst in Hongkong, dessen Freiheiten aufgrund von Pekings Repressionen im letzten Jahr erodiert sind, zeigte erstmals seit über 50 Jahren kein Fernsehsender die Veranstaltung."

Dass nicht etwa der im vergangenen Jahr gestorbene Chadwick Boseman ("Black Panther") als bester Schauspieler ausgezeichnet wurde, wie es im Netz zuvor bereits beschlossen wurde, sondern Anthony Hopkins (der so wenig damit gerechnet hatte, dass er seine Auszeichnung glatt verschlafen hat), ist für Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche kein Grund zur Aufregung: Vielleicht "ist das sogar der beste Beleg für die neue Diversität in Hollywood. Aktionismus können sich die Schneeflocken in der liberalen Filmindustrie gewiss nicht vorwerfen lassen. ... Die Academy weiß den kulturellen Wandel ebenso zu würdigen wie klassische Schauspielkunst. Für die Fans von Chadwick Boseman mag das ein schwacher Trost sein. Für das Kino ist es eine gute Nachricht."

Weitere Resümees der Oscarnacht in FR, Filmdienst, taz, SZ, NZZ und ZeitOnline.

Weitere Artikel: Peter Nowak weist in der taz auf die Initiative und Onlineplattform docfilm42 hin. Besprochen wird Juliana Fanjuls Dokumentarfilm "Silence Radio" über den Kampf der Journalistin Carmen Aristegui gegen die mexikanischen Kartelle (SZ).
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Architektur

Für die Generalsanierung der Munich Re wurde das Gebäude vom Architekturbüro Sauerbruch Hutton vollständig recyclet.

Bei der vielbeschworenen Energieeffizienz geht es vor allem um den späteren Energiebedarf zum Heizen, aber nie um das Bauen selbst, die Heranschaffung der Materialien, den Verbrauch der Ressourcen. Dabei ist der Sand schon jetzt knapp. In der taz stellt Antonia Herrscher daher Projekte vor, die gegen den Abriss bestehender Bausubstanz und für die Wiederverwertung plädieren: "Der Architekt Muck Petzet, der in München schon mehrere Protestaktionen gegen den Abriss von Gebäuden initiiert hat, bemängelt, dass gerade Bauten der 1950er bis 1970er Jahre heute als unzeitgemäß gelten und abgerissen werden. Er vergleicht den Umgang mit der Ressource Baustoff mit der Entscheidung, Leitungswasser in Einwegflaschen zu kaufen und diese dann in den Hausmüll zu werfen. Als Generalkommissar des Deutschen Pavillons auf der Architektur-Biennale 2012 in Venedig hatte er bereits eine 'Umbautheorie' formuliert. Denn bewahrter Gebäudebestand ist kein Hindernis für künstlerische Qualität, sondern zwingt gerade zu kreativen Lösungen."

Weiteres: In Monopol empfiehlt Elke Buhr Spaziergänge zu den modernen Architektur-Highlights von NRW.
Archiv: Architektur
Stichwörter: Venedig, 1970er, Sauerbruch Hutton

Bühne

Frankfurt 1985: Der Streit um Fassbinders Theaterstück elektrisierte die Stadt. Bild: Jüdisches Museum

Das Jüdische Museum in Frankfurt erinnert mit einem digitalen Symposium an den großen Theaterskandal, den Rainer Werner Fassbinder mit seinem Stück "Der Müll, die Stadt und der Tod" provozierte: Zwei Dutzend jüdische Frankfurter, die dem Stück Antisemitismus vorwarfen, hatten zur Premiere die Bühne besetzt, wie Hubert Spiegel in der FAZ erinnert: "Der 'reiche Jude', den Fassbinder als Zerrbild des Juden schlechthin ins Zentrum seines Stücks gestellt hatte, war ein Immobilienspekulant, machtgierig, geil, skrupellos. Fassbinder, so hieß es damals häufig, habe mit der Figur Ignatz Bubis gemeint. Oder einen anderen Immobilienkaufmann. Man nahm es nicht so genau. Man hatte es auch im langjährigen Häuserkampf im Frankfurter Westend nicht so genau genommen, wie Michael Lenarz vom Jüdischen Museum in seinem Vortrag zeigte. Banken, Versicherungen und andere Investoren waren daran beteiligt, knappen Wohnraum in lukrativere Büroflächen umzuwandeln. Aber nur die wenigen Juden unter den Investoren wurden immer wieder namentlich genannt und angegriffen. Im sozialdemokratischen Vorwärts musste Bubis lesen, ihm gehöre halb Frankfurt. In der Hausbesetzerszene, die zeitweise große Sympathien in der Stadt erfuhr, kursierten antisemitische Flugblätter." Hier die Aufzeichnung der Veranstaltung.

Weiteres: In der NZZ verneigt sich Martina Wohlthat vor dem Choreografen Richard Wherlock, der seit zwanzig Jahren als Ballettdirektor Basel mit unterhaltsamem und erzählfreudigem Tanz beglückt. In der Welt schreibt Manuel Brug den Nachruf auf die Mezzosopranistin Christa Ludwig, die viel mehr als eine Primadonna war, im Tagesspiegel übernimmt das Regine Müller (siehe auch unser Efeu von gestern).

Besprochen werden Anne Lenks Nürnberg "Phädra"-Inszenierung im Stream (die Irene Bazinger in der FAZ so eindrucksvoll wie elegant findet) und Dušan David Pařízeks Inszenierung von Ibsens "Peer Gynt" im Stream des Bochumer Schauspielhauses mit Anna Drexler in der Titelrolle (SZ).
Archiv: Bühne

Kunst

In Monopol wirft Franziska Peil einen Blick auf das Projekt "Day for night", das Kunst in den derzeit ungenutzten Schaukästen der Kinos zeigt. Für den Observer besucht Laura Cumming neue Ausstellungen von Rachel Whiteread und Thomas Demand in London.
Archiv: Kunst
Stichwörter: Demand, Thomas

Literatur

Der Literaturbetrieb ist weiß, nicht-weiße Positionen sind trotz etwas gestiegener Sichtbarkeit in den letzten Jahren weiterhin marginal, kommentiert René Aguigah im Dlf Kultur. Dass in Reaktionen auf einen offenen Brief, der der Jury des Leipziger Buchmessenpreises vorwirft, keine nicht-weißen Autoren auf der Shortlist berücksichtigt zu haben, Qualität und Diversität gegeneinander ausgespielt werden (unsere Resümees hier und dort), lehnt er ab: "Die reine Qualität mag es im Edelsteingewerbe geben - bei der Tätigkeit von Literaturjurys ist sie ein Trugbild", denn "sie handeln mitten in einem gesellschaftlichen Umfeld. Preisjurys hängen ab vom Angebot der Verlage, das seinerseits blinde Flecken hat. Und ihre Entscheidungen sind einer öffentlichen Diskussion ausgesetzt: Ist die Liste aktuell? Was für ein Spektrum an Themen und Erzählweisen bietet sie? Sind wie durch Zauberhand nur männliche Autoren dabei? Fehlen kleinere Verlage? Und inzwischen eben auch: Wie lässt sich eine weitere rein weiße Liste vermeiden? Fragen wie diese wirken sich mittelbar, mittelfristig auch auf die Arbeit von Jurys aus."

In den Niederlanden wurde eine Dante-Neuübersetzung in einer Passage gekürzt, die von Mohammed in der Hölle erzählt. Auch ganz abgesehen davon, dass arabische Übersetzer diese Passage - von ein paar Hardlinern im Iran abgesehen - immer übersetzt haben, findet der österreichische Schriftsteller Sama Maani diese vorauseilende Rücksichtnahme ziemlich nervtötend, wie er im Dlf Kultur kommentiert: Die Universität Tilburg "befragte 40.000 Iraner und fand heraus, dass 70 Prozent von ihnen nicht (oder nicht mehr) an den schiitischen Islam glauben. In Europa werden seit den späten 1990er-Jahren Menschen aus Ländern mit tatsächlicher - oder vermeintlicher - islamischer Bevölkerungsmehrheit vollständig mit dem Islam identifiziert. Eine Identifizierung, die falschen kulturalistischen Annahmen, wie jene, die unzensurierte Übertragung des Infernos würde 'einen Großteil der Leserinnen und Leser' verletzen, Vorschub leistet und dringend der Revision bedarf."

Außerdem: Andrea Pollmeier berichtet in der FR vom Litprom-Literaturfest. Besprochen werden unter anderem Asja Bakićs "Mars" (Freitag), Giancarlo de Cataldos Thriller "Alba Nera" (online nachgereicht von der FAZ), Volker Peschs "Der letzte Grund" (Freitag), der Band "Chaos, Glück und Höllenfahrten" mit Texten von und über Wiglaf Droste (SZ) und Teresa Präuers Prosasammlung "Das Glück ist eine Bohne" (FAZ).
Archiv: Literatur

Musik

Heute Abend beginnen die online übertragenen Kosmostage des Andromeda Mega Express Orchestras, und weil die Konzerte aus Produktionsgründen bereits vorab live aufgenommen wurden, können die Feuilletons schon auf das zurückblicken, was noch zu hören und zu sehen sein wird: Die Cassiopeia Cloud etwa bietet "in unterschiedliche Balancen gebrachte Respekterweisungen von Neuer Musik mit Kompositionen von Giacinto Scelsi und avancierter Jazz", schreibt Thomas Mauch in der taz. "Eine elegante Neuerfindung von Cool Jazz war hier zu hören, von einer Teilgruppe eines Orchesters, das eh nicht dazu neigt, die Contenance zu verlieren. Das sich aber notfalls auch auf Hemdsärmligkeit versteht. Herz- und ohrenergreifende alpenländlerische Trompetenechos gab es da bei der Cassiopeia Cloud zwischendurch, eine launige Blasmusik-Gaudi, die auch deswegen musikalisch bestens funktionierte, weil man nicht im metaphorischen Bierzelt hocken blieb, sondern gleich einen gar nicht launig gestimmten Komplexjazz hinterherschob."

Auch Andreas Hartmann staunt im Tagesspiegel Bauklötze über den erheblichen Vorab-Aufwand, der hier betrieben wurde. Den angebotenen Ekstasen gibt er sich gerne hin: "Wenn man dann denkt, man versteht, wohin die musikalische Reise geht, vernimmt man plötzlich Versatzstücke aus alpenländischer oder tschechischer Volksmusik und brasilianischen Sounds, es wird gesungen und eine Gitarre kommt hinzu. In einem der Konzertstränge trifft das Ensemble auf das Fiepen und Blubbern eines modularen Synthesizers - psychedelische Entrückung hat das Orchester ebenfalls drauf."

Außerdem: Im Tagesspiegel plaudert Gunda Bartels mit Stefan Dettl von La Brass Banda. In der NMZ erinnert Hans-Jürgen Schaal an den vor 100 Jahren geborenen Saxofonisten Jimmy Giuffre. Harry Nutt schreibt in der FR einen Nachruf auf Milva (weitere Nachrufe hier). In der FAZ gratuliert Jan Brachmann dem Geiger Igor Oistrach zum 90. Geburtstag. Max Nyffeler resümiert in der FAZ die Wittener Tage für neue Kammermusik, wo ihm vor allem Hugues Dufourt imponiert hat. Johanna Adorján führt sich für die SZ Caetano Velosos Song "Nine Out Of Ten" zu Gemüte, den Diedrich Diedrichsen in seinem Monumentalband "Über Popmusik" immerhin als "den perfekten Popsong" bezeichnet hat.



Besprochen werden neue Klassikveröffentlichungen, darunter Beethovens Siebte in einer Aufnahme von Teodor Currenntzis und Music Aeterna (SZ).
Archiv: Musik