Efeu - Die Kulturrundschau

Raubzüge am schönen Tier

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03.08.2021. Die Tupfen und Kleckse des einen ergänzen die Schmierereien und Kratzer des anderen: Commonweal sieht die Gemeinsamkeiten im Werk von Willem de Kooning und Chaim Soutine. Die taz bewundert die kollektiven Fantasien der Mode von Birgit Jürgenssen. In der FAZ ruft Martin R. Dean dem vor der "political correctness" aus Deutschland fliehenden Kollegen Matthias Politicky zu: Was wir gerade erleben, ist Aufklärung! Der Standard erinnert an den belarussische Nationaldichter Janka Kupala. Die SZ lässt sich von Christian Thielemanns Bruckner mitreißen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.08.2021 finden Sie hier

Kunst

Chaïm Soutine, "The Little Pastry Cook," 1922-23 (Artist Rights Society, New York/© RMN - Grand Palais/Art Resource, New York)


In einem Interview erzählte Willem de Kooning 1977, welche Künstler ihn als Maler alles beeinflusst haben. Zu den wichtigsten Malern zählte er dabei Chaïm Soutine, einen russischen Juden, der sein Shtetl bei Minsk verlassen hatte und in den 1910er Jahren nach Paris emigriert war, wo er bis zu seinem frühen Tod 1943 lebte, erzählt Griffin Oleynick im Commonweal Magazine. Jetzt hat die Barnes Foundation in Philadelphia die beiden Maler für eine Ausstellung zusammengebracht: "Was sich zeigt ist die taktile, viszerale Qualität von Soutines und de Koonings Leinwänden, wo die Tupfen und Kleckse des einen die Schmierereien und Kratzer des anderen ergänzen. ... Es ist nicht schwer zu verstehen, was Barnes und de Kooning zuerst zu Soutine hinzog. Seine fesselnden Porträts aus den 1910er und zwanziger Jahren, die als erste Werke zu sehen sind, offenbaren sowohl ein ironisches Misstrauen gegenüber sich selbst als auch ein sicheres Vertrauen in seine Fähigkeit, das Innenleben anderer Menschen zu beobachten und wiederzugeben. In seinem lakonischen Selbstporträt von 1918 trägt er einen zerknitterten blauen Kittel und starrt den Betrachter geradeaus an; ein anderes Porträt (offensichtlich von Soutine) bedeckt seine rechte Schulter und füllt die linke Seite des Rahmens aus. Soutine orientiert sich eindeutig an ähnlichen Werken von Künstlern wie Velázquez und Rembrandt. Auch sein eigenes Selbstporträt, das geometrisch und chromatisch auf seine geschwollenen, blutroten Lippen zentriert ist, erinnert an das Groteske - so genannt, weil es traditionell Personen darstellt, die man am besten nicht sehen sollte."

August Macke: Porträt der Frau des Künstlers mit Hut, 1909


Anlässlich der Ausstellung "August und Elisabeth Macke. Der Maler und die Managerin" im m LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster beschreibt Patrick Bahners in der FAZ das Verhältnis von August Macke und seiner Frau Elisabeth. Wobei "Maler und Mäzenin" als Titel die Sache besser getroffen hätte, meint er. "Die Ausstellung möchte ein 'Netzwerk' der Eheleute kartografieren. Das klingt für einen familiären Personenkreis zu sehr nach dem Karrieremanagement von LinkedIn, aber die anachronistische Vokabel wird stimmig, wenn man bedenkt, dass Netzwerke geknüpft werden. Den Handarbeiten widmet die Ausstellung ein eigenes, besonders erhellendes Kapitel. Die häusliche Textilkunst entstand tatsächlich in Ko-Produktion von August und Elisabeth. Schon der jugendliche Verehrer verschaffte sich Zutritt zum Hause Gerhardt, indem er dessen Damen mit Vorlagen für ihre Stickereien belieferte. Wie wurde der Ehebund eingefädelt? Als Kreuzstich-Clique."

Weitere Artikel: Mit einem Lächeln kommt FAZ-Kritiker Freddy Langer aus der Ausstellung "Entdeckungen - Discoveries - Découvertes" des Fotografen Benny Katz im Museum Marta Herford in Herford. "Wo anderen die Urlaubsbilder zur Erinnerung an schön erlebte Tage werden sollen, berichten sie bei Katz von seiner Erinnerung an die Kunst. Prompt gerät ihm auf dem Schrottplatz in Dinard ein Flaschentrockner in den Blick, ähnlich jenem, mit dem Marcel Duchamp 1914 die Gattung der Plastik um das Readymade erweitert hat. Im Standard porträtiert Julia Beirer den Inzinger Straßenkünstler HNRX (ausgesprochen Henryx), dessen Murals sich in ganz Europa finden. Bettina Maria Brosowsky besucht für eine Reihe der taz nord über die deutschen Kunstvereine den Kunstverein Hamburg. Im Interview mit der FAZ erzählt Eike Schmidt, Direktor der Uffizien in Florenz, wie er mit digitalen Medien die Jungen ins Museum zieht und die Kunst mittels der Uffizi diffusi ins Umland bringt.

Besprochen werden die Ausstellungen zu "Peter Ernst Eiffe & Friends" und Albert Serras Film "The Three Little Pigs" im Hamburger Kunstverein (die tazler Hajo Schiff "die grundsätzliche Toxizität der deutschen Kultur seit Goethe" lehren), die Ausstellung "Stillgelegt. West-Berliner S-Bahnhöfe in den 1980er Jahren" mit Fotografien von Fons Brasser im Märkischen Museum Berlin (taz) und die Ausstellung "Heimaten" im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe (SZ).
Archiv: Kunst

Design

Birgit Jürgenssen, Untitled, 1975
In einer von Maurizio Cattelan und Marta Papini kuratierten Ausstellung in der Wiener Galerie Hubert Winter treffen die österreichische Künstlerin Birgit Jürgenssen (1949-2003) und die italienische Designerin Cinzia Ruggeri (1942-2019) aufeinander, schreibt Brigitte Werneburg in der taz: Letztere "zielt mit ihren Objekten und Entwürfen auf den architektonischen Raum, wie die zwei mal ein Meter messende schwarze Samthand gleich zu Beginn der Schau zeigt. ... Wahrscheinlich funktionieren Ruggeris einfache Formexperimente auch jetzt so gut, weil wir mehr denn je erleben, wie sehr - je nach der geschlechtlichen Identität des Menschen - dieser Auftritt, mit den Freiheiten, die er sich nimmt, und den Grenzen, die er wahrt, den libidinösen und kommunikativen Zusammenhalt unserer patriarchalen Gesellschaft irritiert. Jürgenssen interessieren die kollektiven Fantasien der Mode, ihre untergründigen, unheimlichen Quellen, ihr totes, morsches Material, ihre Raubzüge am schönen Tier."

Bei den Olympischen Spielen stahlen Telfar Clemens' Sportdress-Entwürfe für die gerade mal drei aus Libera angereisten Sportlerinnen und Sportler wirklich allen die Show, freut sich Beate Scheder in der taz: "Ein neues Kapitel schlug Telfar damit auf, waren es bislang doch eher die großen Modenationen, die beim traditionellen Schaulaufen der Eröffnungszeremonie auf sich aufmerksam machten - Italien, wo seit 2012 Armani verantwortlich ist, oder die USA, die seit 2008 auf Ralph Lauren setzen, in diesem Jahr gemeinsam mit Kim Kardashian. Bemerkenswert sind die Designs von Telfar, zu denen auch die Sportuniformen des liberianischen Teams zählen, auch noch aus anderen Gründen, nämlich weil sie, wie alles von Telfar, keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern machen."

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Archiv: Design

Literatur

In der FAZ verkündete der Schriftsteller Matthias Politycki kürzlich, Deutschland Richtung Österreich zu verlassen, weil ihn Gender- und Rassismus-Debatten nerven und er um die Autonomie der Literatur fürchtet. Sein Schweizer Berufskollege und Freund Martin R. Dean widerspricht ihm heute in der FAZ insbesondere aus Perspektive eines schwarzen Autors, der sich lange mit Zuschreibungen und Risikoabwägungen herumschlagen musste, nicht ohne Politycki auch ein gutes Stück entgegen zu kommen: "Ja, es ist ein Bruch in den rassistischen Narrationen spürbar, ein längst fälliger Bruch, der Mut macht. So geht Veränderung aus der Mitte der Gesellschaft, und dass sie nicht messbar ist, heißt nicht, dass sich nichts bewegt. Deswegen möchte ich Matthias zurufen: Was wir gerade erleben, ist Aufklärung! ... Als Homo Politicus akzeptiere ich ein Kürzel wie POC, räume jedoch ein, dass ich als Schriftsteller daraus keine ästhetischen Funken schlagen kann. Zwar brechen die neuen Bezeichnungen ein Selbstverständnis auf, das blindem Rassismus und menschenverachtender Abwertung oft willkommener Steigbügel war, aber sie pflastern den Raum zwischen den Zeilen, von dem literarische Texte leben, arg zu."

Im Standard erinnert Herwig G. Höller an den belarussische Nationaldichter Janka Kupala, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts schrieb. Sein Urgroßneffe Andrej Dapkjunas ist der belarussische Botschafter in Wien und tritt gegenüber den Medien eher scheu auf. "Er wich damit auch einer Frage aus: Auf welcher Seite stünde sein Verwandter in der Konfrontation zwischen Lukaschenko und Zivilgesellschaft? Der Botschafter könnte freilich kaum ehrlich antworten, ohne seinen Job zu verlieren. Denn vieles, was sein Präsident zuletzt politisch verantwortete, widerspricht dem Geist dieser klassischen Literatur. Gerade Kupalas frühe Lyrik, vor dem Hintergrund der brutalen Niederschlagung von Protesten 1905 entstanden, liest sich derzeit nahezu wie ein einziges Manifest der Opposition gegen Unterdrückung."

Weitere Artikel: In den "Actionszenen der Weltliteratur" erinnert Gisela Trahms daran, wie Jorge Luis Borges einmal in einen Zoo gegangen ist. Johanna Adorján blättert in der SZ ohne näheren Anlass durch die Broschüre, die Harry Mathews einst zum Tod seines Oulipo-Kollegen Georges Perec verfasst hat.

Besprochen werden unter anderem Jonatham Lethems "Anatomie eines Spielers" (CrimeMag), David G. Marwells Biografie über Josef Mengele (NZZ), Ling Mas "New York Ghost" (taz), ein Band mit Texten aus Claude Lévi-Strauss' in den USA entstandenen Texten (Tagesspiegel), Louis Begleys "Hugo Gardners neues Leben" (FR) und Tijan Silas "Krach" (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Im Tagesspiegel fragt sich Hannes Soltau, warum der Schauspieler Volker Bruch sich mit den Querdenkern gemein macht: "Das Querfront-Magazin Compact, das vom Verfassungsschutz als rechtsextremer Verdachtsfall eingestuft wird, warb am Sonntag auf Telegram mit einem gemeinsamen Bild von Volker Bruch und dem Verschwörungsideologen Anselm Lenz. Darauf deutet Bruch triumphierend auf eine Ausgabe der Querdenker-Zeitung Demokratischer Widerstand. Auf der Titelseite ist von einem 'Maskenregime' zu lesen, dessen 'ausgemachtes Ziel (...) die Transformation der Demokratie in eine Diktatur' sei."

Weiteres: Peter P. Pachl bekommt in Bayreuth einen Vorgeschmack auf die "Parsifal"-Inszenierung von Jay R. Scheib in zwei Jahren mit einer Kürzestversion des "Siegfried" als Augmented Reality. Im Standard annonciert Margarete Affenzeller die Uraufführung von Bernhard Studlars kapitalismuskritischem Stück "Lohn der Nacht" heute abend bei den Bregenzer Festspielen. In der FAZ berichtet Hannes Hintermeier von dem neuen Volkstheater, das München für den Intendanten Christian Stückl baut. Thomas Demand schließlich gratuliert in der FAZ der Bühnenkünstlerin Anna Viebrock zum Siebzigsten.

Besprochen werden Christopher Rüpings zehnstündiges Antike-Spektakel "Dionysos Stadt" im Mousonturm (FR), Josef E. Köpplingers Handlungs-Musik-Collage zu Mozart am Münchner Gärtnerplatztheater (nmz) und die Wiederaufnahmen von Barrie Koskys Inszenierung der "Meistersinger" und Tobias Kratzers Inszenierung des "Tannhäusers" in Bayreuth (beides Geniestreiche, die FAZ-Kritiker Jan Brachmann vermissen wird).
Archiv: Bühne

Film

Intensität von Rausch und Rauch: Dominik Grafs "Fabian"

Die FAS hat ihr Gespräch mit Dominik Graf über dessen neuen, lose auf Erich Kästners Vorlage basierenden Kinofilm "Fabian oder Gang vor die Hunde" ("der filmische Gegenentwurf zu der perfekt repetierten Welt von 'Babylon Berlin'", schrieb Perlentaucherin Thekla Dannenberg zur Berlinale-Premiere) online nachgereicht - gemeinsam mit Peter Körte hangelt sich der Filmemacher anhand von Bildern durch seinen Film. Unter anderem geht es um seinen Entschluss, den Film im klassischen 4:3-Bildformat zu drehen statt in den heute gängigen, breiteren Bildverhältnissen. Eine Reise zurück in Grafs "Fahnder"-Zeiten, als er sich fragen musste: "Wie kriege ich zwei Leute ins Bild und den Raum zwischen ihnen auch noch? ... Die Intensität von 4:3 ist eine ganz andere. Als wir uns fragten, wie der Film aussehen sollte, wussten wir auch, dass wir altes dokumentarisches Material benutzen wollten, alles damals 4:3", zudem wurden viele Szenen parallel auch auf Super-8 gedreht: "Die Bilder sind auch eingeschnitten, in dieser Szene zum Beispiel wird direkt aus dem digitalen ins Super-8-Format geschnitten, weil gerade der Rauch in den Räumen durch die härteren Kontraste des Super-8-Materials eine unglaubliche Präsenz hat."

Besprochen werden Jasmila Žbanićs Srebrenica-Drama "Quo vadis, Aida?" (Zeit), Steffen Appels und Peter Wältys Buch "The Goldfinger Files" über die Dreharbeiten an einer ikonischen Sequenz des James-Bond-Klassikers "Goldfinger" (CrimeMag), Lisa Gottos und Dominik Grafs Buch "Kino unter Druck" über osteuropäisches Kino (CrimeMag) und David Lowerys Artus-Verfilmung "The Green Knight" (Freitag).
Archiv: Film

Musik

In Salzburg ließ sich SZ-Kritiker Helmut Mauró von den Wiener Philharmonikern unter Christian Thielemann mitreißen. Gegeben wurde die Siebte von Bruckner. Am Pult zu erleben war ein "Meister großformatiger Gestaltung" und zwar "indem er sich gerade nicht von Höhepunkt zu Höhepunkt hangelt, sondern sich auf Details konzentriert ... Da erscheinen üblicherweise eher flüchtig hingeworfene Melodiefetzen auf einmal als singuläre Preziosen", was zunächst "gar nicht besonders auffällt, man freut sich über Petitessen, während sich die Trompeten in Position werfen, man hört melodischen Nebenstraßen nach, lässt sich in verwunschene Sackgassen führen, während der breite symphonische Strom gleichsam unterirdisch weiter drängt. Erst wenn er wieder zutage tritt, wenn die großen Höhepunkte hereinbrechen als brachiale Klanggewitter, erst dann erscheinen all die Zwischenmotive und aufgefächerten Ebenen eingebunden in einen unerbittlichen Mahlstrom."

Wie zutiefst bedeutungslos etwas geworden ist, merkt man auch daran, dass Gratulanten sich noch nicht einmal mehr die Mühe geben, das richtige Datum zu treffen. MTV zum Beispiel feierte am vergangenen Sonntag 40-jähriges Bestehen, in der FAZ, naja, "gratuliert" Axel Weidemann dieser Ruine von Sender, der mal ein Flaggschiff der Popkultur gewesen ist, erst heute. Dass der Sender sich in den Neunzigern von seinem Markenkern weitgehend verabschiedet hat, hängt ihm bis heute nach: "Als Distinktionswerkzeug ist MTV unbrauchbar geworden, ein geschminkter Zombie, der - das Kinn in die Hände gestützt - am Grab seines deutschen Kollegen Viva (1993 bis 2018) sitzt und darauf wartet, dass das Internet wieder abgestellt wird. ... In einem Beitrag auf Reddit heißt es lakonisch: 'MTV ging vor 40 Jahren auf Sendung - danke für 15 Jahre Musik'."

Weitere Artikel: Dem Kanto-Popsänger Anthony Wong drohen in Hongkong mehrere Jahre Haft, weil er vor über drei Jahren in der Öffentlichkeit zwei politische Lieder gesungen hat, meldet Sven Hansen in der taz. Besprochen werden Greentea Pengs Album "Man Made" (NZZ), das Konzert des Greek Youth Symphony Orchestra bei Young Euro Classic (Tagesspiegel), neue Klassikveröffentlichungen (SZ) und das postum veröffentlichte, 2011 eingespielte, dann aber doch verworfene Prince-Album "Welcome 2 America" ("eine anständige, aber unspektakuläre Old-School-Funk-Platte", meint Joachim Hentschel in der SZ). Wir hören rein:

Archiv: Musik