Efeu - Die Kulturrundschau

Alle Städte dieser Welt

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26.10.2021. Die Feuilletons widersprechen der Frankfurter Stadtabgeordneten Mirrianne Mahn, die sich als Schwarze auf der Buchmesse nicht willkommen fühlt. "Unwillkommen" sind dort eindeutig die rechtsradikalen Verlage, stellt die SZ klar. Und schwarze AutorInnen sind dort so sicher wie es einst auch Salman Rushdie war, ergänzt die NZZ. Die FR schaudert im Frankfurter Kunstverein angesichts der Tragik und Stärke gefällter Bäume. Die SZ stürzt sich an der Bayerischen Staatsoper mit Schostakowitschs "Nase" in einen kontrollierten Rausch. In der FAZ ruft Orhan Pamuk vor der Klimakonferenz dazu auf, Venedig zu retten. Und die NZZ beobachtet erfreut den architektonischen Aufbruch in Mexiko.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.10.2021 finden Sie hier

Literatur

In der SZ widerspricht Nils Minkmar der grünen Stadtabgeordneten Mirrianne Mahn, die bei der Verleihung des Friedenspreises das Wort ergriffen und behauptet hatte, schwarze Autorinnen und Autoren seien auf der Buchmesse "nicht willkommen" gewesen: "Man kann bedauern, dass manche Autorinnen sich darauf beriefen, sich auf der Messe nicht sicher zu fühlen, auch, dass womöglich nicht genug dafür getan wurde, ihnen einen unbeschwerten Besuch zu ermöglichen." Doch wer "dort nicht willkommen ist, wer dort lediglich aus juristischen Gründen geduldet wird, das sind jene ultrarechten Kräfte, die so eine Veranstaltung sofort verbieten würden, wenn sie könnten, weil genau diese Messe ja alle Werte verkörpert, die die Rechten so hassen. ... Schwarze Frauen sind auf der Buchmesse willkommen" und so "waren auch 2021 etliche von ihnen dort. Denn hier kann man beobachten, wie die mickrigen Rechtsradikalen, und sei ihr Stand noch so zentral, isoliert sind, sodass kaum jemand hingeht, nicht mal zum Streiten. Hier stellen sie nicht ihre ermüdende ideologische Ware aus, sondern ihre Irrelevanz."

Mahn begründete ihre Aussage damit, dass nicht-weiße Menschen sich durch die Präsenz von Rechtsextremen nicht sicher fühlen. Claudia Mäder findet das in der NZZ nicht sehr plausibel: "Jasmina Kuhnke hat in der Vergangenheit schon Morddrohungen erhalten, sie musste ihren Wohnort wechseln - rassistische Gewalt ist ein ernstes Problem. Aber wieso sich eine schwarze Person an der Frankfurter Buchmesse nun besonders fürchten müsste, ist schwer zu verstehen. Im Gegenteil bewegt sie sich in den Bücherhallen vermutlich deutlich sicherer als an den meisten anderen Orten: An der Messe sind uniformierte und zivile Polizisten im Einsatz, und diese Sicherheitskräfte waren in früheren Jahren auch schon in der Lage, das Leben von Hochrisikogästen wie Salman Rushdie zu schützen."

Die Frankfurter Buchmesse wird vielleicht nie mehr sein, was sie war. Das könnte dann aber nicht nur an Corona liegen, sondern auch an der Idee, sie zu einer "planwirtschaftlich kuratierten Konsens-Veranstaltung" zu machen, fürchtet Marc Reichwein in der Welt angesichts der Rede von Frankfurts OB Peter Feldmann. "Ein Event solchen Zuschnitts würde die Buchmesse auf das Format eines programmatisch kuratierten Lesefestivals schrumpfen lassen, wie es sie mit der Lit.Cologne, 'Leipzig liest' (mit angeschlossener Buchmesse) oder der Münchner Bücherschau längst gibt. Nur, wer soll - jenseits gesetzlicher Bestimmungen, die Verlage von der Meinungsfreiheit ausschließen (Verfassungsfeindlichkeit) - definieren, was Diskriminierung ist?"

Die FAZ dokumentiert einen leidenschaftlichen, zur Weltklimakonferenz verfassten Appell des Literaturnobelpreisträgers Orhan Pamuk an den italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi, den er bekniet, Venedig vor dem Klimawandel zu retten: "Herr Ministerpräsident, bekanntermaßen hat ein Italiener den besten Venedig-Roman verfasst: Italo Calvino. Doch er spielt anderswo. In 'Die unsichtbaren Städte' erzählt der Venezianer Marco Polo dem chinesischen Kaiser Kublai Khan von den Städten, durch die er auf der Reise von Venedig nach Peking kam. Doch aufmerksame Leser, die wie ich gern in Venedigs Labyrinthe und die Geschichte eintauchen, erkennen anhand der Beschreibung von Türmen, von Wäsche, die in schmalen Gassen hängt, und anderen Merkmalen, dass es sich im Grunde bei jeder dieser Städte um Venedig handelt. ... Venedig zu retten bedeutet, die gesamte Menschheit, alle Städte dieser Welt, Lagos, Kairo, São Paulo, New York, Hongkong zu retten."

Weitere Artikel: Von einem Frankfurter Abend mit Olga Tokarczuk berichtet Andrea Pollmeier in der FR. Gisela Trahms erinnert in den "Actionszenen der Weltliteratur" daran, wie die Résistance Marguerite Duras beschatten ließ. In der FAZ gratuliert Patrick Bahners der Schriftstellerin Anne Tyler zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Irene Disches "Die militante Madonna" (Dlf Kultur), J. K. Rowlings "Jacks wundersame Reise mit dem Weihnachtsschwein" (NZZ), Sarah Raichs "All that's left" (FR), Tade Thompsons Thriller "Wild Card" (online nachgereicht von der FAZ) und Dirk von Petersdorffs neuer Gedichtband "Unsere Spiele enden nicht" (FAZ).
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Bühne

Mirjam Mesak und Alexandra Durseneva in Schostakowitschs "Die Nase". Foto: Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper

Triumph! In der SZ zeigt sich Reinhard Brembeck überwältigt vom Einzug des neuen Intendanten Serge Dorny in der Bayerischen Staatsoper. Dort inszenierte Kirill Serebrennikow - per Videoschaltung - Schostakowitschs Avantgarde-Oper "Die Nase" mit einem grandiosen Chor und 25 fabelhaften Solisten, wie Brembeck schwärmt, Vladimir Jurowski dirigierte: "Leises fordert er genauso ein wie Details, Tanzrhythmen wie Militaristisches, Utopisches wie Brutales. Vladimir Jurowski agiert blitzschnell, er schwebt wie der Schöpfergeist über den von ihn angefachten Klangwogen, er formt ohne zu bevormunden, er inspiriert und moderiert. Das ist der ideale Chef! Dieser Dirigent bringt den schwierigen Kunstdrahtseilakt fertig, ganz in der Musik und ihren aufgepeitschten Emotionen aufzugehen, aber dennoch immer eine Distanz zur Musik zu wahren. Vladimir Jurowski erzeugt so einen kontrollierten Rausch, dem bis auf ihn selbst alle an diesem denkwürdigen Abend erliegen."

Deutlich weniger begeistert schreibt Manuel Brug in der Welt. Dass Serebrennikows Inszenierung ein wenig holzschnittartig ausfällt, will er dem in Moskau festsitzenden Regisseur nicht verübeln. Aber dass Schostakowitschs "buntschillerndes Anarcho-Radaustück" allein zur brutalen Abrechnung mit den Herren in Moskau mutiert, ist ihm zu schwarz: "Schostakowitsch mit bös-gehaltvollen Bedeutungsunterbau, aber ohne Revolte-Glitter, Paranoia und Kastrationsangst. Als beifallsheischendes Eröffnungsopus einer neuen Intendanz ist diese einnehmende wie ermüdende 'Nase' zwar extrem personenintensiv und aufwändig, aber eben auch leider einigermaßen abtörnend. Der Applaus klatschte sich nur langsam warm, war allzu schnell verflogen." Auf Unentschieden befindet Stefan Mösch in der FAZ: "Das Stigma des gesichtslosen Einzelnen, es berührt hier ohne jedes Pathos als Menschheitsdrama, existenziell aufgeladen, ohne munter-kabarettistische Verflachung. Weniger einleuchtend ist die Umstellung wichtiger Szenen." Ähnlich sieht es Joachim Lange im Standard.

Besprochen werden außerdem der von Thomas Köck co-produzierte Abend "Algo Pasó (la última obra)" zum Thema Desaparecidos (Nachtkritik) und das Kinderstück "Zaubermelodika" in der Komischen Oper Berlin (Tsp).
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Kunst

Berlinde De Bruyckere: Embalmed Twins I und II, 2017, Ausstellungsansicht Frankfurter Kunstverein 2021, Foto: Norbert Miguletz.

Zwischen Faszination und Schrecken wandelt FR-Kritikerin Sandra Danicke durch die Ausstellung "Die Intelligenz der Pflanzen" im Frankfurter Kunstverein: "Die jahrhundertealten Eichen, die jetzt in gedimmtem Licht unter dem Titel 'Embalmed Twins I und II' im Frankfurter Kunstverein zu sehen sind, wirken kein bisschen wie totes Holz. Sie sind eindeutig Wesen, mit Schrunden und Kratern, glatt, schroff und vernarbt - zwei gelebte Leben. So wie die belgische Künstlerin Berlinde De Buyckere sie präpariert hat, ähneln sie abgeschlachteten Elefanten. und auch wieder nicht. Sie scheinen Stümpfe zu haben, Rücken und Schultern, sogar Münder. Sie strahlen Tragik und Stärke aus."

Weiteres: Stefan Trinks schreibt in der FAZ zum Tod des früheren Städel-FDirektors Klaus Gallwitz. Für den Standard besichtigt Alexandra Wach das neue, spektakuläre Munch-Museum in Oslo (mehr hier).

Besprochen werden die Ausstellung "Technoschamanismus" im Dortmunder Hartware Medienkunstverein (für deren besseres Verständnis Max Florian Kühlem in der taz vorab ein  Proseminar in Transhumanismus empfiehlt), die Ausstellung "No River to Cross" der Künstlerin Bea Schlingelhoff Münchner Kunstverein (FAZ) und eine Schau des Malers Johann Erdmann Hummel in der Alten Nationalgalerie Berlin (Tsp).
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Design

Im ZeitMagazin wirft Tillmann Prüfer einen kurzen Blick in die Geschichte des Sportschuhs, der Gesundheit, Komfort und Design miteinander versöhnte.
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Architektur

Über Jahrzehnte haben Politik und Architektur in Mexiko allein auf die Reichen des Landes gesetzt, aber mit dem Erdbeben von 2017 und natürlich mit der Wahl des Linkspopulisten Andrés Manuel López Obrador hat sich der Wind gedreht, berichtet Laure Nashed in einem informativen Text in der NZZ: "An die Architektur werden hohe Erwartungen geknüpft, denn in offiziellen Dokumenten des zuständigen Ministeriums für Landwirtschafts-, Gebiets- und Stadtentwicklung (Sedatu) wird sie als 'Instrument des sozialen Wandels' beschrieben. Der Wille zur Veränderung und die Überzeugung, dass ihre Bauwerke tatsächlich zu einer Verbesserung der Lebensqualität der ansässigen Bevölkerung führen können, werden auch von den beteiligten Architekten geteilt. Die Gestaltung der Markthallen, Gemeindezentren, Parkanlagen, Skateparks und Straßenbeleuchtungen wurden als Direktauftrag vergeben. Dies begründet das Sedatu-Ministerium mit dem hohen Zeitdruck, unter dem Konkurrenzverfahren nicht möglich seien. So wünschenswert und wichtig Wettbewerbe für die Qualität und den Diskurs in Mexiko auch wären - den mexikanischen Behörden fehlt die Erfahrung im Umgang mit Wettbewerben ohnehin."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Erdbeben, Landwirtschaft

Film

Matthias Lerf und Pascal Blum behalten für den Tages-Anzeiger die Ermittlungen rund um den tödlichen Set-Unfall bei den Dreharbeiten zu "Rust" im Blick - so befand sich in der Pistole, die der Schauspieler Alec Baldwin bediente, offenbar tatsächlich eine echte Kugel. Deadline dokumentiert die Wortmeldung des Chefbeleuchters, der gegenüber der Produktion schwere Vorwürfe erhebt: Um Geld zu sparen, seien unterqualifizierte Leute ans Set geholt worden. Niklas Maak erinnert in der FAZ an Joachim Sauter, dessen Leben der Netflix-Serie "The Billion Dollar Code" zur Vorlage diente (mehr dazu auch in diesem ausführlichen Podcast von Tim Pritlove mit Pavel Mayer). Für epdFilm wirft Thomas Abeltshauser einen Blick auf die Karriere von Tim Roth.
Archiv: Film
Stichwörter: Netflix

Musik

Die FAZ unterhält sich mit Daniil Trifonov ausführlich über dessen neue Bach-Aufnahmen. Neben dem wohlüberlegten Einsatz des Klavierpedals geht es auch um Recherchen am Material, für die sich der Pianist auch über handschriftliche Erstfassungen gebeugt hatte. "Die erste Fuge hat ein vollkommen anderes Ende als in der letzten Fassung. Bei der zehnten Fuge ist in der letzten Fassung eine halbe Seite dazugekommen. Die Sorgfalt bei der Neugruppierung ist für mich ein starkes Indiz, dass Bach doch an eine zyklische Aufführung der 'Kunst der Fuge' gedacht haben mag."

Weitere Artikel: In der NZZ stellt Christian Wildhagen Gianandrea Noseda vor, den neuen Generalmusikdirektor der Oper Zürich. SZ-Kritiker Helmut Mauró schwebt mit zwei neuen Editionen von Friedrich Gulda und Georges Cziffra in höchsten Sphären des Klavierglücks. Walter Werzowa spricht in der NMZ über seine Arbeit an der Vollendung von Beethovens 10. Sinfonie. Robert Miessner berichtet für die taz vom Berliner Festival "Tehran Contemporary Sounds". In der NMZ erzählt Gerhard R. Koch aus der Geschichte des eigenen Blattes. Besprochen werden Mozartaufnahmen von Antonello Manacorda und der Kammerakademie Potsdam (Tagesspiegel).
Archiv: Musik