Efeu - Die Kulturrundschau

Fabrik für den Kopf und die Augen

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20.12.2021. Wenigsten in den Museen kann man noch Gesichter sehen, seufzt die SZ und huldigt den Porträts der Alten Meister. Die FAZ porträtiert den afghanischen Buchhändler Sher Shah Rahim, der mit einer Hörbuch-App Widerstand gegen die Taliban leistet. In Frage gestellt werden in taz und FAZ Sebald und Sebold. Außerdem trauern die Feuilletons um den Architekturpoeten Richard Rogers, der mit dem Centre Pompidou die Schwere der Welt überwinden wollte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.12.2021 finden Sie hier

Kunst

Frans Hals, Der lachende Kavalier, 1624. © The Trustees of the Wallace Collection, London.


Am interessantesten findet SZ-Kritikerin Catrin Lorch in Zeiten medizinischer Masken die Porträts, die in diesem Herbst die Altmeister-Ausstellungen in Amsterdam, Stuttgart oder Wien dominieren. An Frans Hals etwa kann sie sich in der Londoner Wallace-Collection gar nicht sattsehen: "Frans Hals wurde zu einem der gefragtesten Lieferanten, als er die Effekte seiner Genreszene, all die Zecher, Bauern oder Handwerker, in seine an Peter Paul Rubens und Jacob Jordaens geschulte Kunst einfließen ließ. Von dem Dutzend weißer, älterer Herren, deren Bildnisse für die Londoner Werkschau ausgewählt wurden, steht keiner herrschaftlich da. Frans Hals verzichtet auch auf alle ausgefeilte Metaphorik und auf schmückende, sprechende Details wie den Seidenglanz von Stoffen, die satte Färbung von Samt oder funkelnden Goldschmuck. Alle Raffinesse liegt in der Unmittelbarkeit, der Zugewandtheit und Präsenz von Männern wie dem Stoffhändler Tieleman Roosterman oder Nicolaes Pietersz van Voorhout, einem rotbackigen Bierbrauer."

Im Interview mit Peter Richter kann der Schweizer Kunsthistoriker Andreas Beyer das Aufkommen des Porträts in der Renaissance gerade heute, in Zeiten von Selfies und medizinischen Masken, gut verstehen: "Die Renaissance kannte zum Beispiel so eine Konjunktur des Porträts, und in der Folge von Jacob Burckhardt erklärt man sich das gewöhnlich mit dem Aufkommen des selbstbewussten Individuums. Man könnte aber auch das Gegenteil vermuten. Mit dem Ende 15. Jahrhunderts bricht ja auch eine Welt zusammen, der Glaube wird erschüttert, das Wissen explodiert, die Welt entgrenzt sich. Das ist eine Phase der Krise, man weiß gar nicht mehr, wo man steht in dieser Welt."

Weiteres: Fasziniert geht taz-Kritiker Max Florian Kühlem durch die Ausstellung "Efie. The Museum as Home. Kunst aus Ghana" im Dortmunder U, mit der die ghanaische Kunsthistorikerin, Schriftstellerin und Filmemacherin Nana Oforiatta Ayim Exponate sehr ausführlich in ihren kolonialistischen Kontext stelle.
Archiv: Kunst

Architektur

Richard Rogers 2016, Foto: Alberto Ramírez. Unter CC BY 3.0-Lizenz
In der NZZ schreibt Ursula Seibold-Bultmann zum Tod des Architekten Richard Rogers, der sich mit seiner Poesie des Bauens über die Schwere der Welt hinwegsetzen wollte: "Als er 2007 den Pritzker-Architekturpreis erhielt, sagte er der New York Times, er würde gern gesehen werden als ein Architekt leichter, lichterfüllter, flexibler Bauten, an denen man ablesen könne, wie sie zusammengesetzt seien." In der FAZ erklärt Niklas Maak noch einmal das Centre Pompidou als Geniestreich: "Das Pompidou war eine allen Bürgern offenstehende, popbunte Fabrik für den Kopf und die Augen, eine Informationsmaschine, die den Zugang zur Kultur demokratisieren und Kunst, Theater, Musik und Literatur zum Teil des Alltags aller Bürger machen sollte. Heute ist es eines der populärsten Gebäude der Moderne überhaupt und zählt mehr Besucher als Eiffelturm und Louvre zusammen." Nur in der Welt kann Rainer Haubrich gar nicht großartig finden, wie Rogers die "Zwangsherrschaft der traditionellen Stadt" überwinden wollte: "Wer jemals den betagten Architekten auf seinen Streifzügen durch europäische Städte begleitet hat oder auf Ausflügen mit seinem Londoner Büro, wird sich unwillkürlich fragen, wie ein so feinsinniger Menschenfreund einer Bauphilosophie verfallen konnte, die oftmals so ruppig, so technikfixiert und in Teilen so inhuman daherkommt wie diese High-Tech-Architektur."
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Literatur

Anders als bei ihrer ersten Herrschaft lassen die Taliban Bücher in Afghanistan nun nicht mehr verbrennen, sondern schnüren der Branche durch gezielte Restriktionen die Luft ab, schreibt Karen Krüger in der FAS. Doch geflohene Buchhändler leisten aktiv Widerstand, Sher Shah Rahim etwa: "Noch im Flüchtlingscamp und ohne Investorenhilfe lancierte er 'Bulbul', die erste und bisher einzige Hörbuch-App in Paschtu und Dari." Diese "ist auch als Akt des Widerstands zu verstehen - gegen die kulturelle Verdummung unter dem Banner des radikalen Islams der Taliban, gegen die Abschottung von der Welt; gegen den Ausschluss von Mädchen und Frauen von Bildung und natürlich gegen den schleichenden Tod der Literatur. 'Bulbul' bedeutet 'Nachtigall' und hat schon jetzt Tausende von Nutzern. Vor allem in Afghanistan, aber auch in Pakistan, Europa, Amerika."

W.G. Sebalds Rang "als politisch-moralische Instanz" dürfte wohl nicht mehr zu halten sein, schreibt Stephan Wackwitz in der taz nach Durchsicht der gerade im englischsprachigen Raum geführten Debatte um den deutschen Schriftsteller. Auslöser dafür ist Carole Angiers neue Biografie, die enthüllt, dass Sebald den Suizid seines Vermieters zu einer jüdischen Tragödie ausgeschmückt hat, wiewohl der Vermieter gar nicht jüdisch war (unser erstes Resümee). Diese "literarische appropriation des nur allzu wirklichen jüdischen Leids durch einen deutschen Schriftsteller ist gegenüber der historischen Realität und Entsetzlichkeit des Völkermords an den europäischen Juden unangemessen - um eine milde Bezeichnung zu wählen."

In der Welt schreibt Adrian Daub zum Tod der Autorin Eve Babitz, die insbesondere für ihre Reportagen, Romane und Essays, aber auch wegen ihres hedonistischen Lebenswandels in die amerikanische Literaturgeschichte eingegangen ist: Sie war "die Chronistin der Exzesse und Mysterien von Los Angeles, die sich selbst zum Objekt machte und dieses mit Ironie zu inspizieren vermochte."

Besprochen werden unter anderem Alain Damasios dystopischer Roman "Die Flüchtigen" (Freitag), Damon Galguts mit dem Booker Prize ausgezeichneter Roman "Das Versprechen" (Zeit), Dominique Rankins und Marie-Josée Tardifs "They Called Us Savages" (Standard), Wassili Grossmans "Stalingrad" (Tsp), die Jubiläumsausgabe von Heimito von Doderers "Die Strudlhofstiege" (Standard), ein Band mit Lyonel Feinigers Briefen an seine Frau von 1905 bis 1935 (online nachgereicht von der FAZ), Hermann Stresaus in der Nazi-Zeit entstandenen Tagebücher (SZ) und neue Hörbücher, darunter Frank Arnolds Lesung von Wilhelm Bodes "Tannen" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Detlef Felken über Christopher Okigbos "Komm, Donner":

"Wenn der Marsch trunken vom Sieg die letzte Wegbiegung erreicht,
Vergesst nicht, ihr Tänzer, den Donner zwischen den Wolken
..."
Archiv: Literatur

Bühne

Alles ist eitel: Tamer Tahan, Ulrich Matthes, Jeremy Mockridge, Lorena Handschin im "Zerbrochnen Krug". Foto: Arno Declair / DT


Anne Lenk hat am Deutschen Theater Kleists "Zerbrochnen Krug" mit Ulrich Matthes als Dorfrichter Adam inszeniert, und Nachtkritikerin Elena Philipp kann nur staunen, wie mühelos Lenk dabei dem Stück gerecht wird und es dennoch mitten in der Gegenwart platziert: "Spannend ist die Inszenierung aber nicht wegen des konsequenten plot twists zum Schluss: Richter Adam wird selbst angeklagt. Spannend ist dieser 'Zerbrochne Krug', weil hier dramaturgisch jedes Detail stimmt, die Dynamik, der Rhythmus, das Zusammenspiel des durchweg famosen Ensembles. Gedanklich durchdrungen wirkt der Text. Obgleich es weitgehend das Original ist, das die Schauspieler:innen sprechen, wirkt der komplexe Kleist'sche Satzbau in ihrer Diktion direkt und ungekünstelt."

Besprochen werden außerdem Christoph Marthalers Inszenierung von Franz Lehars "Giuditta" am Münchner Nationaltheater (von der sich Jan Brachmann in der FAZ "etwas mehr Phantasie und Liebe zum Stück" gewünscht hätte, SZ), Andreas Kriegenburgs Inszenierung von Lessings "Minna von Barnhelm" (Nachtkritik), Bastian Krafts Inszenierung "Die Schwerkraft der Verhältnisse" am Wiener Burgtheater (Nachtkritik), Gustav Ruebs Inszenierung von Tom Lanoyes "Königin Lear" am Darmstädter Staatstheater (FR) und Oliver Frljić' Stück über den Dombau im Kölner Schauspiel (FAZ).

Archiv: Bühne

Film

Frauke Steffens erzählt in der FAZ die Geschichte von Anthony Broadwater, dem Mann, der 16 Jahre unschuldig hinter Gitter saß, weil er 1981 die spätere Schriftstellerin Alice Sebold vergewaltigt haben sollte. Inzwischen ist er vollständig rehabilitiert (unser Resümee): Der Filmproduzent Timothy Mucciante "wollte Sebolds Memoiren verfilmen, und dabei fielen ihm bald die offensichtlichen Schwächen der Anklage auf. Die Produktionsfirma stellte sich nicht hinter Mucciante, sondern trennte sich von ihm." Mittlerweile enthüllte er, "dass die Regisseurin Karen Moncrieff einen weißen Schauspieler für die Rolle des mutmaßlichen Vergewaltigers suchen wollte. Sie habe dadurch das Klischee vom schwarzen Mann, der eine weiße Frau vergewaltigt, umgehen wollen. Wäre der Film gedreht worden, hätte sie damit aber nicht nur Broadwaters Geschichte, sondern auch die Gründe seiner Inhaftierung zum Verschwinden gebracht."

Besprochen werden David Finchers auf Netflix gezeigte Essay-Serie "Voir: Die Filmkunst der Moderne" (SZ) und die auf Netflix gezeigte, Schweizer True-Crime-Serie "Dig Deeper" (NZZ).
Archiv: Film

Musik

In der taz plaudert Jan Freitag mit Ruben Jonas Schnell, dem Gründer des so idealitischen wie ambitionierten Online-Radiosenders Byte.FM, der demnächst in Hamburg auch per UKW zu empfangen sein wird und dank der Zuwendungen treuer Hörer mittlerweile sogar ein paar Leute fest anstellen konnte. Der politische Gestus bleibt dabei erhalten: "Allein schon, sich eine Stunde lang mit schottischem Jazzrock, den Menschen dahinter, ihrem sozialen Umfeld zu beschäftigen, setzt ein kulturpolitisches Verständnis für die Verhältnisse voraus, das weit über die Musik hinausweist. Womöglich ist das sogar politischer, als sich in derselben Zeit mit linksradikalem Hardcore auseinanderzusetzen, der sich viel konkreter, also ersichtlicher positioniert."

Außerdem: In der NZZ sorgt sich Rainer Moritz ums gemeinschaftliche Singen im familiären Kreis rund um den Weihnachtsbaum. Marion Löhndorf schreibt in der NZZ darüber, dass "alle" über Mick Jaggers neue Brille schreiben.

Besprochen werden Nalans Debütalbum "I'm Good. The Crying Tape" (taz), Paul Geigerzählers Album "Der Zeitstrahl ist gebrochen" (taz), ein Konzert des Berliner Konzerthausorchesters mit der Sopranistin Julia Lezhneva unter Giovanni Antonini (Tsp) und Carolina Lees Debütalbum "Haunted Houses". In seinem "Wechselspiel von Intensität und Luftigkeit" ein "Album, das ganz wunderbar zu den grauen Berliner Monaten passt", meint Silvia Silko im Tagesspiegel.

Archiv: Musik