Efeu - Die Kulturrundschau

Völlig unironische Uncoolness

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.02.2022. Die große Monica Vitti ist tot. Die Feuilletons verabschieden die italienische Schauspielerin, die der Incomunicabilità ein Gesicht gab. Die Welt lässt sich im Museum Frieder Burda von den phallischen Korallen der Künstlerinnen Margaret und Christine Wertheim nicht über die Vermüllung der Ozeane hinwegtäuschen. Die Zeit fragt, ob Neil Youngs Spotify-Boykott dringende Debatten anstößt oder die Grenzen der Meinungsfreiheit verletzt. Hollywood geht den Bach runter, fürchtet die FAZ. Und die taz verurteilt den Boykott der neuen Berliner Kunsthalle
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.02.2022 finden Sie hier

Film

Die große Monica Vitti ist gestorben. Dem Gefühl der Incomunicabilità hat sie ihr Gesicht verliehen, schreibt Gerhard Midding in der Welt. Die Filme, die sie mit Antonioni gedreht hat, "sind Chroniken des Verschwindens. Vittis Blick bezeugte die Flüchtigkeit, die Vergeblichkeit der Liebe. Ständig drohte sie, verloren zu gehen. Den Gefühlen fehlte der Antrieb; beinahe von Anfang an. Es wurden nur mehr Spurenelemente von ihnen sichtbar, die das Publikum nicht zur Identifikation ermutigen." Andreas Kilb in der FAZ staunt, darüber, wie viel Vitti in ihren vier Antonioni-Filmen redet, darüber "wie diskursiv und erklärungsfreudig ihre Figuren angelegt sind. Denn eigentlich hatte man immer nur ihr Gesicht in Erinnerung, die großen Augen, den halb geöffneten Mund. Und ihr Schweigen. Es ist der vollkommene Ausdruck dessen, wovon die Filme handeln: vom fassungslosen Staunen über die Welt." Hier ein Videoessay des Filmwissenschaftlers David Bordwell über "L'Avventura":



"Objekt will sie nicht sein, Subjekt kann sie nicht werden in diesen stilvollen Sittenbildern der emotional entkernten Sixties", schreibt Andrey Arnold in der Presse über Vittis Antonioni-Zyklus - und erinnert aber auch daran, dass die Italiener ihr Herz an Vitti vor allem wegen ihres komödiantischen Talents verloren: "Schon bei Antonioni flammt dieses in kecken Augenblicken auf, wenn Vitti singt, Faxen macht oder anderen etwas vorgaukelt. Timing und Humor prägen die Kehrseite des Mythos von der schwarz-weißen Einsamkeitsmadonna: Als verspieltes Pop-Chamäleon begeisterte Vitti auch in 'Modesty Blaise' von Joseph Losey - und in manch einer 'Commedia all'italiana'." Weitere Nachrufe schreiben Gregor Dotzauer (Tsp) und David Steinitz (SZ).



Hollywood geht den Bach runter, fürchtet Claudius Seidl in der FAZ: Bei Warner wurde selbst erfahrenen Leuten gekündigt, weil der Mutterkonzern lieber mehr auf Streaming setzen will, Amazon hat sich MGM einverleibt und zwischen Identitätspolitik und Streaming als zweischneidigem Retter in der Not zementieren die Studios ihre eigene Krise. Diese sieht derzeit noch "wie eine Blüte aus: Um die tausend Filme oder Serien seien zurzeit in Produktion, sagt Christoph Fisser, Geschäftsführer und Teilhaber des Filmstudios Babelsberg. ... Tausend Projekte, von denen selbst Fisser, der am Boom verdient, offen sagt, dass es das Publikum für sie nicht gebe: Wer hat schon die Zeit und das Geld für mehr als zwei Abonnements? Es geht dabei also offensichtlich nicht darum, eine Nachfrage zu bedienen. Es geht darum, dass die Großen die Kleinen ruinieren oder übernehmen werden: Netflix mit geschätzten 25 Milliarden Umsatz im Jahr ist ein Zwerg gegen den Disney-Konzern mit 67 Milliarden. Und beide sind winzig im Vergleich zu Amazon."

Weiteres: Christian Schröder wirft für den Tagesspiegel ein Blick ins Programm der Berlinale-Retrospektive, die in diesem Jahr Mae West, Rosalind Russell und Carole Lombard gewidmet ist - hier, dort und auch hier hat Patrick Wellinski die Schauspielerinnen mit je einem Feature auf Dlf Kultur gewürdigt. In der SZ spricht Roland Emmerich unter anderem über die ungewisse Zukunft des Kinos. In der Presse empfiehlt Andrey Arnold die Werkschau des Österreichischen Filmmuseums zu Ehren der iranischen Filmemacherin Rakhshan Banietemad. Im Freitag gratuliert Ralf Krämer der Autorenfilmerin Helke Sander zum 85. Geburtstag. Katharina J. Cichosch gratuliert dem US-Experimentalfilmer Kenneth Anger in der taz zum 95. Geburtstag. "Scorpio Rising" zählt zu seinen großen Meisterwerken:



Besprochen werden Behtash Sanaeehas und Maryam Moghaddams "Ballade von der weißen Kuh" über einen Justizirrtum im Iran und die Folgen (Perlentaucher, FR, taz, FAZ), Karoline Herfurths Komödie "Wunderschön" (Perlentaucher, SZ, Tsp, Welt, Standard), Ben Sombogaarts auf Netflix gezeigtes Holocaustdrama "Meine beste Freundin Anne Frank" (FR), Rob Jabbaz' taiwanesischer Zombiefilm "The Sadness" (taz), das Schweinedrama "Pig" mit Nicolas Cage (Standard), die Disneyserie "Pam & Tommy" (FAZ) und die DVD-Ausgabe von Tom McCarthys "Stillwater" mit Matt Damon (taz). Außerdem verrät uns die SZ, welche Filme sich wirklich lohnen und welche nicht.
Archiv: Film

Literatur

Der Schriftsteller Pascal Bruckner würdigt in der NZZ die Schönheit der wilden Alpen. Arno Widmann (FR) und Matthias Heine (Welt) schreiben über James Joyce' "Ulysses", der vor 100 Jahren erschienen ist.

Besprochen werden unter anderem Scott Thornleys Krimi "Der gute Killer" (TA), eine illustrierte Neuausgabe von Viktor Jerofejews "Leben mit einem Idioten" (online nachgereicht von der FAZ), Jon Fosses "Ich ist ein anderer" (SZ) und Arundhati Roys Essaysammlung "Azadi heißt Freiheit" (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Bild: Margaret und Christine Wertheim. Detail of Baden-Baden Satellite Reef. Museum Frieder Burda

In der Welt ist Hans-Joachim Müller schier überwältigt von der anmutigen "Wunderwelt" aus gehäkelten "tentakelförmigen" Spiralen und Stulpen und "kakteenähnlichen Phallusgebilden", die die Künstlerinnen Margaret und Christine Wertheim derzeit in der Ausstellung "Wert und Wandel der Korallen im Museum Frieder Burda in Baden-Baden präsentieren. Und doch steckt mehr in der "verschwenderischen Sinnlichkeit", ahnt er: "Auch ohne, dass man auf die Fährte gesetzt würde, assoziiert man mit den farbkräftigen Gebilden still wuchernde Korallenriffe, wie man sie von Unterwasseraufnahmen kennt. Jene unendlichen Meeresarchitekturen, nun massiv gefährdet durch die Verschmutzung und Vermüllung der Ozeane. Ein Skandal, für den das koloristisch üppige Weichbild der Wertheim-Riffs fast zu schön erscheint. Weshalb die Künstlerinnen auch eine Anzahl monströser Gebilde beigesellt haben, deren toxisch weißbleiche oder schwarzdunkle Flechthaut den Todeszustand der versteinerten Wassertiere indizieren."

Dass die Verkündigung der an der kommenden 59. Biennale in Venedig teilnehmenden KünstlerInnen gestreamt wurde, kann Nicola Kuhn im Tagesspiegel verkraften. Endlich findet die Biennale wieder statt, jubelt sie, unter dem Motto "The Milk of Dreams", vor allem mit Künstlerinnen besetzt und kuratiert von Cecilia Alemani: Sie "knüpft diesmal gezielt an historische Positionen an und landet doch immer wieder in der Gegenwart und der existenziellen Bedrohung nicht erst seit dem Auftauchen eines Virus. So stellt sie als Ausgangsfragen: Welche Überlebenschancen hat die Menschheit? Wie würde der Planet ohne sie aussehen?" Das Monopol-Magazin hat sämtliche TeilnehmerInnen gelistet.

In der taz verurteilt Ronald Berg den Aufruf zum Boykott der neuen Kunsthalle Berlin im Flughafen Tempelhof, der vor allem den ausstellenden Künstler Bernar Venet treffe. "Ob die Interessen der zum Boykott aufrufenden Berliner KünstlerInnen sozusagen mehr allgemeinnützig sind als die von Leuten mit Geld und guten Kontakten, wie sie in dem Verein von Smerling versammelt sind, darüber ließe sich vielleicht streiten. Ein Gesprächsangebot von Smerling aber haben die KünstlerInnen jedenfalls bis jetzt ignoriert. (…) Ein Aufruf zum Boykott, der zuerst Künstler wie Venet trifft, spricht weniger für den Hang zur Kultur als für den Drang nach Publicity in eigenem Interesse - mithin genau das, was man dem Projekt Kunsthalle vorwirft."

Außerdem: In der FAZ berichtet Victor Sattler von den Bedrohungen des Zwickauer Kunstvereins durch Rechtsradikale und Querdenker.  Besprochen werden die Ausstellung "Von Menzel bis Monet. Die Hamburger Sammlung Wolffson" in der Hamburger Kunsthalle (taz) und die Ausstellung "Dürer's Journeys. Travels of a Renaissance Artist" in der Londoner National Gallery (SZ).
Archiv: Kunst

Bühne

Adolphe Binder, vom Tanztheater Wuppertal geschasste Intendantin, übernimmt ab Sommer 2023 für zunächst zwei Spielzeiten die Leitung des Balletts am Theater Basel, meldet die nachtkritik. Im Van Magazin rät Antonia Munding dazu, sich auch mal Kulturstätten jenseits der großen Metropolen anzuschauen und besucht das Theater Ulm. In der SZ staunt Renate Meinhof über die kurzfristige radikale Umbesetzung, die bei der Inszenierung der "Ariadne auf Naxos" an der Berliner Staatsoper vorgenommen wurde.

Besprochen werden Philipp Stölzls Inszenierung von Matthew Lopez' "Das Vermächtnis" am Münchner Residenztheater ("Dies Vermächtnis dürfte das erste sein, das Komik wie Tragik derart geschickt, ja überwältigend ineinander verstrickt", meint Michael Skasa in der Zeit). Außerdem Ezio Toffoluttis Inszenierung von Giacomo Puccinis "Madame Butterfly" in Lübeck (nmz), Paul Georg Dittrichs Inszenierung von Guiseppe Verdis "Falstaff" in Bremen (nmz).
Archiv: Bühne

Architektur

Statt "imposante Solitäre" wie das Humboldt Forum in die Umgebung zu "rammen", sollte schon beim Entwurf darüber nachgedacht werden, wie Kulturbauten zu Orten des Austauschs werden können, fordert Albrecht Thiemann im VAN Magazin: "Welche Anstrengungen das für Opern- und Theaterhäuser bedeutet, die sich schon lange nicht mehr darauf verlassen können, dass eine bildungsbürgerlich sozialisierte Öffentlichkeit ihr Angebot wahrnimmt, kann man derzeit in Basel studieren. Zwar ist der 1975 eröffnete Betonbau für die städtischen Bühnen von Felix Schwarz und Rolf Gutmann als Passage in den Stadtraum gedacht, doch zugänglich war er bislang nur während der Vorstellungen. Nun wird der großzügig bemessene Eingangs- und Pausenbereich peu à peu in ein offenes 'Foyer public' umgestaltet. Intendant Benedikt von Peter hat dabei nichts Geringeres als den Aufbau einer vierten Sparte im Sinn, die, von Besuchern und Gästen selbst kuratiert, aus den Budgets der Musik-, Schauspiel- und Tanz-Abteilungen gefördert wird. (…) Das Wichtigste: Was dort geschieht, entsteht, gibt nicht eine künstlerische Leitung vor, es wird von den Nutzern entwickelt."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Humboldt Forum

Musik

Die Zeit bringt ein Pro und Contra zum Spotify-Boykott von Neil Young und Joni Mitchell wegen des Podcasts von Joe Rogan (unsere Resümees). Jens Balzer findet jede "Art des künstlerischen Starrsinns gegen die Zumutungen und die Arroganz der Kulturindustrie toll". Schon jetzt habe "der Rückzug von Young eine weit dringlichere Debatte erzeugt als die zahlreichen Proteste, die es ja schon in den vergangenen Jahren gegen Spotify gab. Diese richteten sich vor allem gegen das ausbeuterische Geschäftsgebaren der Firma und seine Intransparenz. Denn während ein Corona-Schwurbler wie Joe Rogan für seinen Podcast 100 Millionen Dollar bekommt, werden die allermeisten Musikerinnen und Musiker mit Bruchteilen eines Cents pro Stream abgespeist." Lars Weisbrod fragt hingegen: "Wollen wir wirklich, dass Spotify nach eigenem Gutdünken oder nach Boykottdrohungen herumlöscht?" Es sei "eine der größten Absurditäten unserer digitalpolitischen Gegenwart, dass ausgerechnet diejenigen Aktivisten, die die Machtfülle der Digitalplattformen zu Recht fürchten, ebendiese Plattformen mit der hoheitlichen Aufgabe betrauen wollen, die Grenzen der Meinungsfreiheit enger zu ziehen, als es der Gesetzgeber vorgesehen hat."

"Was zur Hölle macht die traurigen Männer in Deutschland so glücklich über Tocotronic", fragt sich Sophie Passmann ratlos in der Zeit. Die mit der Band gealterten Fans antworten darauf nur zögerlich und das ist ja schon mal eine Leistung, findet sie: "Tocotronic haben Zweifeln und Zaudern in Deutschland popkulturell salonfähig gemacht, vor allem eben für Männer, die in der Regel in so einer soliden Neunziger-Sozialisation schwitzende Überkerle auf Bühnen anstarren mussten. Tocotronic aber, und das merkt man ihren Fans bis heute an, sind eine Art safe space für Unsicherheit. Für völlig unironische Uncoolness, und das muss man völlig unironisch toll finden. "

Außerdem: Merle Krafeld wirft für VAN einen Blick darauf, wie sich die Musikhochschulen den digitalen Künsten öffnen. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen widmet sich Arno Lücker diesmal an dieser Stelle Caroline Boissier-Butini und dort Sophie Menter. Eric Facon schreibt in der NZZ einen Nachruf auf den Schweizer Musiker Endo Anaconda. Andrian Kreye erinnert in der SZ daran, wie Miles Davis 1972 mit "On the Corner" den Jazzrock erfand.



Besprochen wird Burials EP "Antidawn", auf dem nun Ambientmusik im Vordergrund steht, aber "das Gefühl der Entfremdung durchzieht weiterhin die Stücke", versichert Christian Schachinger im Standard. Wir hören rein:

Archiv: Musik