Efeu - Die Kulturrundschau

Zwischenwelten jenseits der Zeit

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12.03.2022. In der NZZ erzählt der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow, wie das Atmen des nahenden Kriegs klingt. In der taz berichtet Andrej Kurkow von seiner Flucht: Putin bewegte sich schneller als Google Maps. "Wir spielen in keiner Blase des Schönen", sagt die Dirigentin Oksana Lyniv und appelliert an die moralische Verantwortung von KünstlerInnen. Die FAZ birgt unbequeme Bilder im "Bilderkosmos Leipzig". Und die SZ schiebt sich mit den Säuglingen von Rammstein zurück in den Mutterleib.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.03.2022 finden Sie hier

Literatur

Die NZZ bringt das Kriegstagebuch des ukrainischen Schriftstellers Sergei Gerasimow, der sich weiterhin in Charkiw befindet. Vom Krieg wurde er im Morgengrauen geweckt: "Das Geräusch ähnelt nichts anderem auf der Welt, denn die Welt besteht aus Lebewesen, aus Dingen, die leben und gedeihen und glücklich sein wollen. Im Gegenteil, dies ist das Geräusch des Todes, des vorsätzlichen Mordes, von Dingen, die töten und zerstören und tot sein wollen, also unterscheidet es sich von allen wirklichen Geräuschen, so wie sich die Dunkelheit vom Licht unterscheidet. Ich habe es noch nie gehört, aber ich weiß, dass es das Atmen des nahenden Krieges ist." Wer denkt da nicht an die ersten Sätze aus Thomas Pynchons dunkelschwarzem V2-Roman "Die Enden der Parabel"? "Ein Heulen kommt über den Himmel. Das ist früher schon geschehen, mit diesem aber lässt sich nichts vergleichen."

Die taz wiederum zitiert aus den Kriegstagebuchnotizen des Schriftstellers Andrej Kurkow, der sich nach der Invasion zur Flucht entschied: "Vor der Abfahrt überprüfte ich Google Maps: Die Ausfahrt von Kiew nach Westen war offen. Wir packten ein paar Sachen, holten Lebensmittel aus dem Kühlschrank und machten uns auf den Weg. Putin bewegte sich schneller als Google Maps sich aktualisierte. Als wir die westliche Ausfahrt erreichten, war der Andrang so groß, dass der Verkehr stillstand. ... Diese Fahrer mussten mindestens zwei Tage lang unterwegs gewesen sein. Man sah es an ihren blassen Gesichtern, an ihren müden Augen, an der Art, wie sie ihr Auto fuhren." Dazu passend legt Gerrit Bartels im Tagesspiegel allen, die wissen möchten, "wie es in der Ukraine gerade zugeht, wie der Krieg dort in den Alltag eingedrungen ist und was er mit den Menschen macht, und das nicht erst seit zweieinhalb Wochen", die Bücher von Serhij Zhadan ans Herz.

Angesichts des Kriegs in der Ukraine "taugt Belletristik aktuell wenig als Ratgeber", muss Björn Hayer im Freitag feststellen, aber immerhin "kann sie uns in diesen schnelllebigen Kriegstagen als ein kulturelles Gedächtnis dienen. Entgegen der Annahme, das geschriebene Wort sei gegenwärtig wirklichkeitsfremd, ist das Gegenteil der Fall. Es enthält geronnene Realitätserfahrung", insbesondere die Lyrik: Indem Gedichte "Worte für das Unfassbare finden, tragen sie dazu bei, die aus dem Lot geratene Welt besser zu erfassen. Ohne sich auf einen Trostcharakter reduzieren zu lassen, bieten sie eine Grammatik in Zeiten des Chaos. Metaphern, Vergleiche, Assoziationen sind Gegenmittel zur Sprachlosigkeit."

In einem FR-Essay stellt sich der Schriftsteller Jo Nesbø die Frage nach der Rolle von Fiktionen in Kriegen. Auf die von ihm mitgeschriebene Serie "Occupied" reagierte Russland seinerzeit jedenfalls erheblich verschnupft. "In einer Zeit, in der die Wahrheit durch Fake News und Propaganda entwertet wurde, in der mächtige Politiker auf einer Welle von Emotionen und nicht aufgrund ihrer Verdienste oder politischen Standpunkte gewählt werden, haben Fakten nicht mehr das gleiche Gewicht wie früher. Fakten mussten Geschichten weichen, die an unsere Emotionen appellieren, Geschichten über uns und das, was uns als Gruppe, als Nation, als Kultur, als Religion ausmacht. Vielleicht war es nicht ein Mangel an Waffen oder militärischer Macht, der die Besatzungskriege in Vietnam und Afghanistan zum Scheitern brachte, vielleicht war es ein Mangel an Geschichten, die 'die Herzen und Köpfe der Menschen gewinnen' konnten. Oder genauer gesagt: Vielleicht lag es daran, dass die Opposition bessere Geschichten hatte."

Für 54books liest Gerrit Wustmann neue persische Lyrik, von der es im vergangenen Jahr auf dem deutschen Buchmarkt satte zehn Veröffentlichungen gab: "Und was das Ganze noch besser macht: Sie sind allesamt höchst lesenswert." Etwa "Wetterumschlag" mit im Lauf von 20 Jahren entstandenen Gedichten von Ali Abdollahi, der derzeit in Berlin liebt. "Ja, die Themen kommen vor: Zensur, Repression, staatliche Willkür, die Doppelmoral der Geistlichkeit, und einmal wird gefragt, wann die Sittenwächter denn den Wind verhaften, der einer Frau den Rock lupft. Es ist eine Art von Galgenhumor, der sich oft findet in der zeitgenössischen persischen Lyrik, mal offen, mal zwischen den Zeilen, mal direkt, mal in (klassische) Metaphern gekleidet. Aber, und das ist wichtig: Es ist bei weitem nicht der einzige Themenkomplex, und man möchte davor warnen, Abdollahis Gedichte rein politisch zu lesen, denn das griffe zu kurz und zeigte einmal mehr nur die thematische Engführung im Auge der hiesigen Leserschaft."

Nach langen Terminverschiebungen erscheint Uwe Tellkamps neues, als großer Gesellschaftsroman angekündigtes Werk "Der Schlaf in den Uhren" nun doch und zwar sogar schon im Mai und, anders als im Vorfeld vermutet, tatsächlich auch bei Suhrkamp, meldet Gerrit Bartels im Tagesspiegel: Nachdem der Schriftsteller sich im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise eher rechts positioniert hatte (wir haben die Kontroverse hier zusammengefasst), war darüber diskutiert worden, wie wohl der eher linke Suhrkamp künftig zu ihm steht. Doch "die Frage ist, ob die Zeit nicht über Uwe Tellkamp hinweggegangen ist, 'Der Schlaf in den Uhren' ein zu langer war; ob es seine Perspektive wirklich noch braucht, nicht nur wegen der Pandemie und des Krieges in der Ukraine. Denn den Gesellschaftsroman aus ostdeutscher Perspektive haben inzwischen Autor:innen wie Manja Präkels, Daniel Schulz, Hendrik Bolz oder Lukas Rietzschel geschrieben."  Dass der Termin im Mai zwar in der Vor-Vorschau des Herbstprogramms des Verlags tabellarisch angekündigt wird, aber nicht im Frühlingsprogramm, findet Marc Reichwein von der Literarischen Welt hingegen rätselhaft: "War in dessen Katalogen für Tellkamp kein Platz? Oder was ist das für eine Sturzgeburt jetzt?"

Frank Schäfer (taz) und Niklas Elsenbruch (SZ) erinnern an Jack Kerouac, der vor 100 Jahren geboren wurde. Im Dlf Kultur würdigen Daniel Guthmann und Joachim Palutzki den Beat-Autor mit einem Literaturfeature. Außerdem bespricht Fritz Göttler in der SZ Thomas Überhoffs Neuübersetzung von Jack Kerouacs "Die Dharmajäger".

Weitere Artikel: In der Literarischen Welt spricht die Schriftstellerin Leila Slimani unter anderem über die Schwierigkeiten, sich als Frau im Literaturbetrieb durchzusetzen und über den französischen Kolonialismus. Für das Literarische Leben der FAZ hat Hannes Hintermeier den österreichischen Schriftsteller Karl-Markus Gauß besucht, der nächste Woche den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung erhält. Gerhard Matzig schmunzelt in der SZ darüber, dass Emmanuel Carrères neuer (im Freitag besprochener) Roman "Yoga" auf Amazon kurzzeitig als Yoga-Ratgeber gelistet wurde. Max Frischs Jaguar - "das zweitberühmteste Auto der Schweizer Literatur" - steht nun im Verkehrshaus, meldet Roman Bucheli in der NZZ. In der Welt erinnert Elmar Krekeler an den SF-Autor Douglas Adams, der dieser Tage 70 geworden wäre. Die SZ empfiehlt Kultur zum Trost, darunter eine Episode des Fiction-Podcast vom New Yorker, in dem David Sedaris Miranda July liest. Und die Literarische Welt hat Schriftstellerinnen und Schriftsteller um Notizen gebeten, welche Bücher sie gerade lesen, um die Gegenwart besser zu verstehen: So empfiehlt etwa Esther Kinsky Georges Didi-Hubermans "Sehen versuchen", Anne Weber greift zu Victor Klemper und Szczepan Twardoch las Michail Scholochows "Der stille Don", als Russland die Ukraine überfiel.

Besprochen werden unter anderem Bücher über den Broterwerb von Literaten, die vom Schreiben allein nicht leben können (taz), Stanislaw Assejews "In Isolation" mit Reportagen vom Donbass 2015-17 (taz), Lucy Frickes "Die Diplomatin" (taz), Leïla Slimanis "Der Duft der Blumen der Nacht" (Tsp), Senthuran Varatharajahs "Rot (Hunger)" (Tsp), Michael Kempes Biografie über Gottfried Wilhelm Leibniz (Welt), Friederike Gösweiners "Regenbogenweiß" (Tsp) und Karin Harrassers "'Surazo'. Monika und Hans Ertl: Eine deutsche Geschichte in Bolivien" (FAZ). . Außerdem liegt der FAZ heute eine Literaturbeilage mit Rezensionen bei.
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Kunst

Bild: Annemarie Heise: Sich kämmendes Mädchen, um 1922.

Fasziniert taucht Andreas Platthaus in der FAZ ein in den 222 Werke umfassenden "Bilderkosmos Leipzig", den das Museum für Bildende Künste Leipzig aus den Beständen zusammengestellt hat. Allerhand gibt es hier zu entdecken, etwa "Irene Kienles 'Haltestelle bei Borna', der desillusionierendste Kommentar zur Braunkohleabbauvergewaltigung der Leipziger Tieflandbucht, den man sich vorstellen kann, obwohl das Bild gar nichts davon zeigt. Überhaupt die Malerinnen. Heute wird überall in den Depots nach ihren Arbeiten gesucht, aber wie häufig gibt es da so etwas zu entdecken wie Elisabeth Voigts 'Beweinung am Kreuz' von 1921 oder - dieselbe Motivtradition, aber unendlich viel drastischer, fast unerträglich - Heidrun Hegewalds 'Mutter-Verdienst-Kreuz in Holz' von 1979? Das sind Glücksfälle, unbequeme Bilder in ihrer jeweiligen Zeit."

Außerdem: Donnerstag startete auf Anordnung des russischen Kulturministeriums der Abzug von mehr als 50 Leihgaben russischer Museen aus italienischen Museen, meldet Olga Kronsteiner im Standard. "Das Victoria & Albert Museum wurde nicht zur Rücksendung von Exponaten aufgefordert, wie man auf Anfrage mitteilte. Vorerst auch nicht davon betroffen sein dürfte die Fondation Louis Vuitton in Paris. Dort hat die Sammlung Morosow bis 3. April ein Gastspiel." Ebenfalls im Standard schreibt Stefan Weiss zur Problematik des Verkaufs von ikonischen Meisterwerken als NFTs: "Gut möglich auch, dass in der Welt der NFTs bald weitere Dämme brechen: So werden bereits einzelne Standbilder aus Filmklassikern als Investment gehandelt. Problematisch wäre all das nicht, wenn es nicht auch Verlierer gäbe: Bei der nie versiegenden "Ölquelle" Songrechte sind es junge und weniger etablierte Musikschaffende, NFTs von Meisterwerken hingegen ähneln tatsächlich fossilen Rohstoffen: Ihre Energiebilanz ist desaströs."

Besprochen wird die Ausstellung "Von Monstern, Mäusen und Menschen. Axel Schefflers fantastische Briefbilder" im Frankfurter Museum für Kommunikation (FAZ).
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Film

In der morgen erscheinenden Literarischen Welt erinnert sich Georg Stefan Troller an seine wenig erfreulichen Begegnungen mit Woody Allen. Der Porträtfilm, der im Zuge entstand, steht auf Youtube:



Besprochen werden Alison Kuhns Dokumentarfilm "The Case You - Wir klagen an", in dem Schauspielerinnen von Missbrauch beim Casting berichten (SZ), Paola Calvos und Patrick Jasims Dokumentarfilm "Luchardoras" über mexikanische Wrestlerinnen (SZ), Marie Amiguets Dokumentarfilm "Der Schneeleopard" (SZ, mehr dazu hier), Lukas Ladners Porträtfilm "Eva-Maria" über eine behinderte Frau, die sich ein Kind wünscht (Presse), der auf Netflix gezeigte Science-Fiction-Film "The Adam Project" (Tsp, FAZ), die Netflix-Doku "The Andy Warhol Diaries" (Standard) und der neue "Jackass"-Film (SZ).
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Bühne

Bild: Regine Zimmermann, Paul Grill, Thorsten Hierse, Natali Seelig. Foto: Arno Declair

Wenn Ewelina Marciniak Klassikern den "männlichen Blick" austreibt, ist Nachtkritiker Georg Kasch gern dabei. Marciniaks Inszenierung von Jarowslaw Murawskis Bearbeitung von Goethes "Werther" am Deutschen Theater will bei ihm aber leider nicht zünden. Murakwskis Werther, der nach dem tödlichen Schuss noch zwölf Stunden im Dämmerzustand weiterlebt, ist "eine Rampensau, die sich in langen Monologen in ihren Gefühlen suhlt. Albert? Seine Lässigkeit ist nur Fassade, innen aber zerfrisst ihn die Eifersucht. Wilhelm? Ein ewig zu kurz Gekommener, vermutlich in Werther verliebt, auf jeden Fall eine arme Wurst." Marciniaks Inszenierung aber stolpert "mühsam vor sich hin, reißt hier eine Schublade und dort eine Schranktür auf, ohne wirklich Neues zum 'Werther' zu finden oder auch nur zu den Befindlichkeiten junger Menschen heute. (…) Ein Werther, der nur noch aus Klischees, Versatzstücken und Negationen besteht, ist unerträglich."

Besprochen werden Claudia Bossards Inszenierung von Lydia Haiders Stück "Zertretung - 2. Sprache essen Abgott auf oder Du arme Drecksfut Metzger" am Wiener Volkstheater (nachtkritik, Standard), Meera Theunerts "Ischgl: Aufstand der Pinguine" im Kulturlabor Stromboli in Hall (Standard)
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Musik

Der Klassikbetrieb diskutiert weiter über die Frage, ob es bei der Musik nur um den schönen Glanz gehen kann. "Für mich geht es nie um Politik versus Kunst", sagt dazu im Welt-Gespräch die aus der Ukraine stammende Dirigentin Oksana Lyniv, die dem Teatro Communale di Bologna als Generalmusikdirektorin vorsteht. "Kunst ist für mich ein Teil des Menschseins und zu dem gehört auch die Politik. Wir spielen in keiner Blase des Schönen, wir stehen mitten im Leben. Denn nur dann entsteht auch gute, nämlich wahrhaftige Kunst. Natürlich kann Anna Netrebko sagen, sie möchte nur Künstlerin sein. Aber sie hat als Mensch nicht das Recht, einfach wegzuschauen wie Russland gerade die Ukraine zerbombt und Menschen tötet. Als Künstler hat man eine moralische Verantwortung."

Das neue Rammstein-Video "Zeit" ist "der musikalische Beitrag der Stunde", schwärmt Joachim Hentschel in der SZ. In dem vom Schauspieler Robert Gwisdek inszenierten Clip zu sehen gibt es "Urszenen menschlicher Gewalt, eines Lebens, das zwar Überlebenskampf ist, dabei aber immer gemeinschaftlich geführt wird" und weiterhin "eine Zwischenwelt jenseits der Zeit, in der atompilzartig der Staub pulverisierter Ewigkeitsdenkmäler durch die Atmosphäre strömt und die sechs Musiker ihre eigenen Geburten rückgängig machen, indem sie sich als Säuglinge zurück in die Mutterleiber schieben - und ja, hier wird es dann richtig, richtig abgefahren." So abgefahren, dass Youtube das Einbinden des Videos auf anderen Websites aufgrund jugendschutzrechtlicher Bestimmungen untersagt. Zum geistigen Wohle der jung gebliebenen Perlentaucher-Leser bleibt uns also nur der Direkt-Link dorthin.

Weitere Artikel: In der taz spricht der in Berlin lebende, ukrainische Musiker Yuriy Gurzhy über die ukrainische Musik und die Stimmung in den letzten Jahren in seinem Heimatland. Konstantin Nowotny erinnert sich im Freitag an die Protestmusik der ukrainischen Band Lyapis Trubetskoy, deren Song "Voiny Sveta" 2014 zur inoffiziellen Maidan-Hymne wurde. Im Standard zeigt sich Amira Ben Saoud erstaunt darüber, dass Capital Bra einen Antikriegssong veröffentlicht hat. In der NZZ gratuliert Christian Wildhagen Wolfgang Rihm zum 70. Geburtstag (unser Resümee der großen Geburtstagsgespräche gestern).

Besprochen werden eine auf Sky gezeigte Dokuserie über Janet Jackson (ZeitOnline), ein Wiener Konzertabend mit András Schiff und Jewgenij Kissin (Standard) und das neue Album von Stromae (Standard). Hier sein Auftritt gestern Abend im ZDF Magazin Royale:

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