Efeu - Die Kulturrundschau

Ich bin die Poesie

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.03.2022. Bernard-Henri Lévy berichtet in der SZ von seinem Besuch in Odessa, wo er vom Strand aus die russischen Schiffe beobachten kann, die auf Befehle aus Moskau warten. Die NZZ bewundert die aufgeschminkten Narben der Models bei der Modeschau von Vetements in Paris. Der Standard bewundert die kleinen Sehnsüchte von Hinz und Kunz, wie sie der Fotograf Reiner Riedler festgehalten hat. Der Klassikbetrieb reagiert scheinheilig auf den Ukrainekrieg, meint das VAN-Magazin.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.03.2022 finden Sie hier

Literatur

Bernard-Henri Lévy berichtet in der SZ von seinem Besuch in Odessa, wo er vom Strand aus die russischen Schiffe beobachten kann, die auf Befehle aus Moskau warten. Die Straßen sind leer, überall sind Barrikaden. "Bemannt werden die von Freiwilligen, oft sehr jungen Leuten, die zum ersten Mal im Leben eine Waffe in der Hand halten. Sie strahlen gleichermaßen Entschlossenheit und auch Furcht aus. Und eine nervöse Skepsis, als sie einen ausländischen Schriftsteller ohne Presseausweis vor sich in der Kontrolle haben: 'Es wimmelt hier von Doppelagenten', entschuldigt sich Wolodimir, ein ehemaliger Barkeeper. ... Zur großen Überraschung des Kremls, wo kein Zweifel daran bestand, dass das russischsprachige Odessa der Höhepunkt des imperialen Traums sein würde, hat der Krieg diese Stadt zusammengeschweißt wie nie zuvor. Aber es gibt immer noch welche, die Putin wollen. Sie arbeiten mit untergetauchten Agenten, die sich unter die Bevölkerung gemischt haben und auf ihr Signal warten. Die Einheit von Wolodimir hat heute Morgen zwei von ihnen festgenommen, drei wurden vorige Woche im Bahnhofsviertel nach stundenlangen Straßenkämpfen getötet. 'Nehmen Sie sich in Acht', sagt er: 'Das sind Mörder. Sie sind überall und nirgends.'"

Für den Freitag unterhält sich Erika Thomalla mit der im englischen Sprachraum gefürchteten Literaturkritikerin Lauren Oyler, die gerade ihren Debütroman "Fake Accounts" veröffentlicht hat und in ihrer Tätigkeit als Rezensentin vor keinem Verriss zurückscheut, selbst wenn er vom Zeitgeist zum Konsens erklärte Autorinnen wie Sally Rooney, Roxane Gay und Jia Tolentino trifft, die sie in ihrem Bemühen um klare Antworten auf komplizierte Sachlagen schrecklich didaktisch findet. Dabei sollte Literatur "ein möglichst genaues und vielschichtiges Bild der Welt vermitteln". Die Popularität solcher Literatur begann für sie um 2000 mit Onlinemagazinen, "die den Standpunkt vertraten: Wir glauben nicht an negative Literaturkritiken. Diese Magazine waren durchaus interessant, aber ich glaube, das waren die Anfänge dieser geradlinigen, vom Guten besessenen Kultur, die auch eine Reaktion auf die Ironie der 1990er-Jahre war. Und dann, glaube ich, verlangten die politischen Entwicklungen in den USA in den letzten Jahren von bestimmten Leuten, dass sie Statements abgaben." Heute "fühlt es sich bei manchen Autoren so an, als würden sie Wahlkampf betreiben".

Außerdem: Für die FAZ flaniert Hubert Spiegel mit Orhan Pamuk durch das Mercedes-Benz-Museum in Stuttgart. Hannes Stein spricht in der Welt mit Francis Spufford über dessen neuen Roman "Ewiges Licht", in dem der frühere Sachbuchautor sich ausmalt, was aus fünf Londoner Kindern hätte werden können, wenn sie nicht bei einem Angriff mit der V2 ums Leben gekommen wären. Kalkuttta, Indiens heimliche Hauptstadt der Lyrik, erwacht zu neuem Leben, berichtet Martin Kämpchen in der FAZ. Ulrich Rüdenauer erinnert in der FR an den Dichter Georg Heym.

Besprochen werden unter anderem Léonie Bischoffs Comicbiografie über Anaïs Nin (Tsp), Hermann Bausingers "Vom Erzählen" (online nachgereicht von der FAZ), Vitali Konstantinovs Comic "Alles Geld der Welt" (SZ) und zwei Bände mit den Tagebüchern von Rudolf Carnap (FAZ).

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Kunst

Russischer Wanderzirkus. Foto: Reiner Riedler


Der Fotograf Reiner Riedler interessiert sich nicht für die Rückzugsorte der Reichen. Es sind die kleinen Sehnsüchte und Fluchten, die er festhält. Das kann man jetzt in einer Werkschau im Wiener Westlicht sehen, die Stephan Hilpold im Standard wärmstens empfiehlt: Riedler "entdeckte im chinesischen Shenzhen Brautpaare, die sich zwischen Cheops-Pyramide und Eiffelturm ablichten lassen, oder Menschen, die in einem Themenpark in Florida der täglichen Kreuzigung Christi beiwohnen. In einer Hotelanlage im türkischen Antalya schwebt der Animateur als Superman über den Roten Platz, im deutschen Bottrop vergnügt man sich in einer Indoor-Skihalle. Als sei die Wahl der Motive dabei nicht pittoresk genug, sind die Bilder der Serie in leuchtend satten Farben gehalten. In den wunderbaren, vor knapp zwanzig Jahren entstandenen Bildern über russische Wanderzirkusse ergibt das einen merkwürdigen Kontrast zu der Tristesse der umliegenden Plattensiedlungen oder der abgestellten Wohnwägen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zerfiel auch der russische Nationalzirkus."

Weiteres: Susanne Memarnia unterhält sich für die taz mit dem Künstler Kang Sunkoo über dessen Installation "Statue of Limitations", die im Afrikanischen Viertel in Berlin an den deutschen Kolonialismus erinnern soll. Besprochen werden zwei Ausstellungen zur Minimal Art: im Bucerius Kunst Forum in Hamburg und im Augusteum in Oldenburg (taz).
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Musik

Der Klassikbetrieb reagiert scheinheilig auf den Ukrainekrieg, findet Hartmut Welscher im VAN-Magazin. Gergiev und Netrebko habe man vor allem aus Imagegründen "entsorgt" und sich hinter blau-gelb dekorierten Benefizkonzerten verschanzt. "Mehr als 500 prominente russische Kulturschaffende, darunter auch Gergiev, hatten 2014 einen Brief zur Unterstützung der Krim-Annexion unterzeichnet." Doch "statt über diese Verstrickungen, die auch in der klassischen Musikwelt vielfältig waren, nachzudenken, lenkt man die Diskussion lieber von sich weg und warnt vor einem russischen Kulturboykott." Aber "einen Boykott gefordert, geschweige denn umgesetzt, hatte ja eigentlich kaum jemand. Die wenigen Beispiele, in denen russische Musiker:innen tatsächlich ausgeladen oder russische Werke abgesetzt wurden, erlangten deshalb weltweite Berühmtheit, wie das Cardiff Philharmonic Orchestra, ein walisisches Laienorchester, das Tschaikowskis Ouvertüre 1812 vom Programm genommen hatte. In dem Stück wird der russische Sieg über Napoleon unter anderem mit Kanonenschüssen dargestellt. Die Programmänderung zeugte daher vielleicht eher von Sensibilität als von Cancel-Wahn. Demgegenüber stehen allein im deutschsprachigen Raum allwöchentlich hunderte Konzerte mit russischen Künstler:innen und russischem Repertoire, bei denen niemand auf die Idee käme, sie abzusagen."

Weitere Artikel: Im VAN-Magazin erzählt die russische Cembalistin und Musiklehrerin Elizaveta Miller von ihrer Flucht aus Moskau, wo sie als Oppositionelle nicht mehr länger bleiben konnte. Dass Teodor Currentzis' Ensemble Music Aeterna in St. Petersburg situiert ist und von der (von Sanktionen betroffenen) VTB-Bank unterstützt wird, stellt die Veranstalter zusehends vor Probleme, berichtet Ljubiša Tošic im Standard. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen schreibt Arno Lücker hier über Johanna Beyer und dort über Marion Bauer. In der FAZ resümiert Wolfgang Sandner John Zorns Konzertreihe in der Elbphilharmonie. Katja Kollmann schreibt in der taz über die russische Singer-Songwriterin Semfira, die ihr Stück "Не Стреляйте" ("Nicht schießen") wiederveröffentlicht und damit der russischen Antikriegsbewegung eine Hymne gegeben hat.



Besprochen werden das neue Album von Rosalía (taz, mehr dazu bereits hier), das neue Laibach-Album "Wir sind das Volk - ein Musical aus Deutschland" (Standard), neue Alben mit Aufnahmen aus dem Archivfundus der britischen Psychedelic-Band Broadcast (taz), ein Konzert der Wiener Symphoniker unter David Afkham (Standard) und Aldous Hardings neues Album "Warm Chris" (Pitchfork).

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Architektur

Was von der Stadt Kiew nach Putins Bombardement übrigbleiben wird, wissen wir noch nicht. Im Interview mit der FAZ erklärt Architekturkritiker Peter Knoch, was an der Stadt besonders ist: "Die größten Sorgen mache ich mir um die Ingenieursbaukunst der Stadt. Kiew hat eine gut ausgebaute Infrastruktur, die für viele Städte in der Sowjetunion und weltweit ein Vorbild gewesen ist. Die Kiewer Metro, auf deren erster Linie 1960 Züge fuhren, hat mit Arsenalna die tiefste U-Bahn-Station der Welt. Fünf Minuten dauert die Fahrt mit der Rolltreppe vom Eingang bis zum 105,5 Meter tiefer gelegenen Gleis. Die beiden Metro-Brücken über den Dnjepr sind Meisterwerke, etwa die 1965 eröffnete Brücke des Architekten Heorhij Fuks. Auch die Industriearchitektur der Stadt ist teils spektakulär, wie das Pumpspeicherkraftwerk Kiew. Es entstand 1960. Am Dnjepr liegen spektakuläre Schleusen und Staubauwerke. Sie alle wurden nach dem Zweiten Weltkrieg gebaut und regulieren den Grundwasserspiegel der Stadt. Wenn sie zerstört werden, hat das Auswirkungen auf die Statik vieler Gebäude entlang des gesamten Dnjepr-Ufers."
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Stichwörter: Kiew

Design

Das Modelabel Vetements liebt die grelle Provokation. Die aktuelle, auf der Pariser Fashion Week präsentierte Kollektion gibt sich martialisch und aggressiv, die Modells stampften auf, als Musik gab es dazu Metal, berichtet Daniel Haas in der NZZ. Zu sehen gab es "Kastensakkos, ironische Marlene-Dietrich-Hosen, Ballonseidenplusterboleros. Dazu Stiefel im Army-Stil mit Sohlen, für die mindestens ein Autoreifen dran glauben musste. Auch auf den Köpfen Military-Zitate: Schiffchen aus Satin. Als hätte Gaultier für die Luftwaffe designt. Die kriegerischen Anspielungen gab es auch bei der Inszenierung: So manches Model hatte eine Narbe oder eine Schürfwunde ins Gesicht geschminkt. ... Doch man kann der Modebranche die Bezugnahme auf den Ukraine-Konflikt nicht wirklich übelnehmen. Die Zeiten, in denen Couture in einer Parallelwelt des apolitischen Luxus existierte, sind vorbei."

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Film

"In welcher Zeit leben wir eigentlich", ärgert sich Dunja Bialas auf Artechock nach diversen überschwänglichen Boykottaktionen der Festivalbranche und nach dem Rausschmiss Sergei Loznitsas aus der Ukrainischen Filmakademie, die ihm Verrat an der Nation vorwarf, weil er sich mit russischen Filmemachern, die gegen den Krieg sind, solidarisierte. Rasch werde "sichtbar, wie sich die Pauschal-Boykotte russischen Filmschaffens in Symbolpolitik und Lippenbekenntnissen verlieren." Das Filmfestival Vilnius, das russische Filme aus dem Programm genommen hat, schreibt in einer Pressemitteilung unter anderen: "'Films inspire us to define the difference between good and evil.' Filme als moralisches Instrument der Unterscheidung von Gut und Böse? Gerade die Dialektik, die Dekonstruktion und das Schwebende, wie bei Loznitsa, machen doch die große Kunst aus, und das Uneindeutige und Denkanstößige."

Außerdem: Cosima Lutz (Welt) und Mariam Schaghaghi (FAZ) sprechen mit Joaquin Phoenix über seinen neuen, auf Artechock besprochenen Film "Come on, Come on" (mehr dazu bereits hier). Sedat Aslan wirft für Artechock einen Blick ins Programm der Türkischen Filmtage in München. Auf Artechock gratuliert Rüdiger Suchsland Michael Haneke zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Benny Chans auf BluRay veröffentlichter Actionfilm "Raging Fire" (critic.de), Alina Gorlovas Dokumentarfilm "This Rain Will Never Stop" über einen geflüchteten Syrer in der Ukraine (Artechock, Tsp, mehr dazu hier), Zaida Bergroths Biopic "Tove" über Tove Janson (Artechock, Tsp, FAZ, unsere Kritik hier), die zweite Staffel von "Euphoria" (FAZ, Freitag), die zweite Staffel der Netflix-Serie "Bridgerton" (Presse) und Michael Bays "Ambulance" (FAZ, unsere Kritik hier).
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Bühne

Szene aus Manfred Trojahns "Eurydike". Foto: Ruth Walz


Manfred Trojahns neue Oper "Eurydike" steht ganz im "Hier und Jetzt", schreibt eine begeisterte Eleonore Büning im Van Magazin über die Uraufführung in Amsterdam. "Stoff und Text sind imprägniert von der Genderdebatte. Eine junge, blonde, emanzipiert pagenköpfige Eurydice hat, trotz ihres sonnengelben Designerkleids, eindeutig die Hosen an. Sie sagt und singt es gleich zu Beginn,  laut und schön und eingerahmt vom glühenden  Espressivo des Englischhorns: 'Ich bin die Poesie.' Eurydice überlebt. Orphée stirbt. Gerade noch rechtzeitig." Die beiden begegnen sich in einem TGV und sprechen in einer Kunstsprache aneinander vorbei, von der man jedes Wort deutlich hört, so Büning. "Was sicher erstens an der malerischen Qualität des mit solistisch agierenden Holzbläsern üppigst ausgestatteten Orchesters liegt. Es kann sich, trotz seiner Riesengröße (mehr als achtzig Musiker) zurückziehen bis ins vierfache Piano. Steuert wispernd-fließend seine Kommentare bei, in hellen Pastellfarben oder schwärzlich-pastosen Drohgebärden; kann aber auch klare, scharfe Devisen artikulieren, wozu zwei Harfen beitragen und vier Hörner, außerdem die böse Tuba nebst dreifacher Trompete und Posaune, sowie ein Klavier und reichlich Percussion."

Weiteres: Ueli Bernays berichtet in der NZZ von einer Pressekonferenz im Zürcher Zeughaus, bei der Milo Rau seine kommende Inszenierung von Schillers "Wilhelm Tell" vorstellte.

Besprochen werden außerdem René Polleschs und Fabian Hinrichs' Theaterabend "Geht es Dir gut?" an der Volksbühne (nachtkritiker Christian Rakow kann wenigstens an diesem Abend sagen: "Ja", auch wenn es bis zum Auftritt der "Flying Steps" nicht sehr gemütlich war), Ai Weiweis Inszenierung von Puccinis "Turandot" in Rom, mit der ukrainischen Dirigentin Oksana Lyniv am Pult (online nachgereicht von der Zeit), Georg Philipp Telemanns "Pastorelle en musique" bei den telemann festtagen Magdeburg (nmz), eine  "Götterdämmerung" im Festspielhaus Neuschwanstein (nmz) und Katharina Kastenings Inszenierung von Jan Paderewskis Oper "Manru" in Halle (FAZ).
Archiv: Bühne