Efeu - Die Kulturrundschau

Blank geputzte Disco

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24.06.2022. Willkommen auf der Antisemita 15, ruft Sascha Lobo bei Spon: Sabine Schormann weist die Verantwortung zurück, Ruangrupa will sich in Sachen Antisemitismus weiterbilden, Taring Padi plant, die bösen Geister auszutreiben und Claudia Roth möchte künftig mehr Einfluss. Das Werk erfüllt übrigens den Tatbestand der Volksverhetzung, erinnert die SZ. Und die Berliner Zeitung ist bestürzt, dass sich nun alle so unversöhnlich gegenüberstehen. Außerdem: Die FAZ gönnt sich mit Ugo Rondinone in Frankfurt Phasen des Ruhens. Die taz erklärt uns den hybriden, sehr tanzbaren hamburgisch-ghanaischen "Burger-Highlife". Die Zeit porträtiert den afghanischen Charlie Chaplin Karim Asir.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.06.2022 finden Sie hier

Kunst

"Die Kuratorenrolle liegt nicht bei der Geschäftsführung", weist Sabine Schormann im Gespräch mit der HNA die Vorwürfe gegen sie zurück: "Ruangrupa und die Künstler haben versichert, dass es keinen Antisemitismus geben wird. Das Problem ist, dass es aus ihrer Sicht keiner ist. Und an dieser Stelle liegt das Missverständnis. Sie haben ihre Aufgabe aus ihrer Perspektive wahrgenommen, und es ist ihnen aufgrund unserer unterschiedlichen kulturellen Erfahrungsräume zu spät aufgefallen, dass ein solches Motiv in Deutschland absolut inakzeptabel ist." Geplant ist nun eine Gesprächsreihe zum Antisemitismus-Eklat.

In der Welt will Swantje Karich das Schormann so einfach nicht durchgehen lassen: "Sie trägt für diese Eskalation die unmittelbare Verantwortung, denn ihre Funktion bei der Documenta ist nicht nur die einer Geschäftsführerin, die nur Finanzen sortiert; Schormann ist die Generaldirektorin. Als solche hat sie Ruangrupa immer gegen alle Kritik abgeschirmt, saß bei den Interviews mit dem Künstlerkollektiv ohne vorherige Ankündigung dabei und wehrte unliebsame Fragen ab. Unter ihrer Direktion wurde jede Auseinandersetzung mit Antisemitismus bereits im Vorfeld als Rassismus der Medien abgewehrt." Immerhin Jörg Sperling, langjähriger Vorsitzender des Documenta-Forums ist zurückgetreten, meldet ZeitOnline.

Inzwischen hat sich auch Ruangrupa geäußert: "Wir entschuldigen uns für die Enttäuschung, die Schande, Frustration, Verrat und den Schock, den dieses Stereotyp bei den Zuschauern und dem ganzen Team verursacht hat", teilen sie mit und wollen sich nun in Geschichte und Gegenwart des Antisemitismus weiterbilden. Taring Padi plant indes "am Friedrichsplatz, wo zuvor ihr Banner stand, ein javanisches Reinigungsritual, bei dem böse Geister ausgetrieben werden", meldet Nicola Kuhn im Tagesspiegel. Und Claudia Roth hat einen Fünf-Punkte-Plan aufgestellt, in dem sie einen Platz im Aufsichtsrat zurückfordert. Ruangrupa sollte sich aus Kassel zurückziehen, meint Stefan Trinks in der FAZ, der auch Heinz Bude nicht aus der Verantwortung lassen will: Der hatte vergangenen Freitag in der ZDF-Sendung Aspekte gesagt: "Ich glaube, die allermeisten Gegenwartskünstler haben irgendwie eine Sympathie für den BDS."

So weit, so gut? Nicht ganz, wenn es nach Anwalt Peter Raue geht. Der fragt in der SZ: "Können sich die Leiterin der Documenta und können sich die Künstlergruppen mit ihren Arbeiten auf Meinungsfreiheit/Kunstfreiheit berufen?" Mohammed Al Hawajris "Guernica Gaza" mag gerade noch von der Meinungsfreiheit gedeckt sein, die Arbeit von Taring Padi nicht, schreibt er: Sie erfülle den Tatbestand der Volksverhetzung. In der Berliner Zeitung kommentiert Harry Nutt: "Das politische Totalversagen ist umfassend, es würde allein durch eine unkommentierte Sammlung von Zitaten der oben genannten Amtsträger evident. Im Kern rührt es aus einem rudimentären Verständnis der Kunstfreiheit, die weder als gültiger Glaubenssatz noch als Wert an sich zu haben ist."

"Willkommen auf der Antisemita 15", fasst Sascha Lobo in seiner Spiegel-Kolumne die Reaktionen der Verantwortlichen zusammen: "Das Künstlerkollektiv versteht unter Dialog, dass sein Judenhass gefälligst akzeptiert werde und man von da aus weiterreden könne. Es ist, als säße der Mörder auf der Leiche und würde jetzt verlangen, dass man zunächst seine spezielle Lebenssituation anerkenne. Nein Bro, zu spät. Aber die Leitung der Documenta schuf ein Fanal der Antisemitismusakzeptanz."

Ebenfalls für die Berliner Zeitung resümiert Harry Nutt das Interview, das Bazon Brock dem Dlf zur Documenta gegeben hat: "Die diesjährige Documenta zeige triumphal, was gegenwärtig in der Welt der Fall ist. In allen totalitären Regimen von Putin, Erdogan bis Xi Jinping, so führte Bazon Brock aus, werde die Front des Kulturalismus gestärkt, und längst werde auch im Westen nur noch das Kollektiv der Kulturen anerkannt. Jede Autorität der Autorschaft, die einmal das Prinzip der westlichen Intellektualität war, werde ein für alle Mal liquidiert."

In der Berliner Zeitung ist Hanno Hauenstein ganz bestürzt über die Debatte der vergangenen Tage. Das Bild von Taring Padi ist antisemitisch, Ruangrupa hat sich entschuldigt. Können wir jetzt wieder über Rassismus und Kolonialismus reden? "Woher, fragt man sich, kommt jenes Begehren, vermeintlich unversöhnliche Gräben noch weiter aufzureißen und minoritäre Positionen gegeneinander auszuspielen? Was hier spricht, ist alte deutsche Nullsummenmentalität."

Bild: Ugo Rondinone. Nude (XXXX). 2010. Wachs, Erde, Pigmente. Courtesy der Künstler und Gladstone Gallery, New York und Brüssel. Foto: Stefan Altenburger.

Sensibilität, Sinnlichkeit und allgemeine Verständlichkeit findet Rose-Maria Gropp (FAZ) in den Werken des Schweizer Künstlers Ugo Rondinone, dem die Frankfurter Schirn mit "Life Time" nun eine erste große Überblicksschau in Deutschland widmet. "So beherrscht den zweiten Raum eine monumentale, eigens für den Ort geschaffene Arbeit aus der Serie 'curved standing landscape', die seit 2020 entsteht. Die riesige Skulptur aus einem dunkelbraunen Erdgemisch wölbt sich in sanfter Rundung bis fast unter die hohe Decke, einer aus der Horizontale in die Vertikale gehobenen Formation gleich - ein Stück natürlicher Außenwelt, als Fiktion ins Innen geholt. Vor der Erdwand sind vierzehn lebensgroße Plastiken gruppiert, Tänzerinnen und Tänzer, alle in Phasen des Ruhens, selbstversunken. Das Wachs, aus dem sie gegossen sind, ist mit Erdpigmenten angereichert, die ihrer Haut die eigentümliche Färbung geben. Ihre Intaktheit ist nur scheinbar, weil ihre Körperteile durch Nahtstellen, manchmal mit sichtbaren Lücken, verbunden sind. Die Gebrechlichkeit der Existenz wird Gestalt, als Gliederpuppe, als Fragment, ein Nachhall von der Sehnsucht verlorener Intaktheit." In der FR bespricht Sandra Danicke die Ausstellung.

Besprochen werden außerdem zwei Ausstellungen des afroamerikanischen Medienkünstlers Tony Cokes im Kunstverein und im Haus der Kunst München (taz).
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Literatur

Im Standard berichtet Michael Wurmitzer vom ersten Lesetag beim Bachmannpreis mit Hannes Stein, Eva Sichelschmidt, Leon Engler, Alexandru Bulucz und Andreas Moster. In der FAZ ist Jan Wiele enttäuscht von der "provinziellen" und "biederen" Eröffnungsrede Anna Baars (hier nachzulesen), auch SZ-Kritikerin Miryam Schellbach konnte mit Anna Baars konservativer Globalcharakteristik der jungen Gegenwartsliteratur" wenig anfangen. In der Berliner Zeitung gratuliert Friedrich Conradi Cristina Morales zum Literaturpreis des Berliner Hauses der Kulturen der Welt.

Besprochen werden die Ausstellung "Marcel Reich-Ranicki. Ein Leben, viele Rollen" in der Deutschen Nationalbibliothek (NZZ), Ljudmila Ulitzkajas Erzählband "Alissa kauft ihren Tod" (SZ), Martin Sabrows Band über den "Rathenaumord und die deutsche Gegenrevolution" (FAZ), Aby Warburgs Briefe (FAZ) und Laura Wolters' Soziologie der Gruppenvergewaltigung "Vom Antun und Erleiden" (FAZ).
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Film



Ronald Düker stellt in der Zeit (online nachgereicht) den aus Afghanistan geflohenen, jetzt in Deutschland lebenden Schauspieler Karim Asir vor, der als afghanischer Charlie Chaplin auf Youtube bekannt wurde: "Karim Asir, der Slapstick-Star mit Netz und doppeltem Boden? Eher nicht. Es ist unmöglich, den Horrortrip zu beschreiben, den er, samt Frau und Baby, im letzten Jahr durchlebt hat. Im Juli wurde ein YouTube-Video aus Kandahar publik, auf dem zwei bestens gelaunte Taliban den Komiker Khasha Zwan in einem Auto ohrfeigten, bevor man ihm, an einem Baum aufgehängt, die Kehle durchschnitt. Das sei, sagt Asir, ein Alarmsignal für alle afghanischen Künstler gewesen. Trotzdem gab er der BBC ein Interview, in dem er diesen Mord für mit dem Islam unvereinbar erklärte. Und postwendend einen Drohbrief der Taliban erhielt: Sollte Asir, der in der Rolle eines Ungläubigen namens Charlie Chaplin aufgetreten sei, nicht bereuen und widerrufen, so dürfe sein Blut genauso vergossen werden wie das von Khasha Zwan."

Besprochen wird Hannes Thór Halldórssons Actionkomödie "Cop Secret" (SZ).
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Bühne

In der SZ berichtet Dorion Weickmann, dass dem 2019 vom Choreografen Richard Siegal gegründeten Ballett of Difference die Finanzierung gestrichen werden soll. Besprochen werden Jens-Erwin Siemssens "Sandbank" auf Spiekeroog und Gernot Grünewalds "Heim|weh" am Hamburger Thalia in der Gaußstraße, zwei Stücke, die sich mit dem Schicksal von Verschickungskindern auseinandersetzen (taz).
Archiv: Bühne

Architektur

In der FAZ gratuliert Petra Ahne dem vom Architekturbüro heinlewischer entworfenen olympischen Dorf in München zum 50. Geburtstag. Einst geschmäht, gilt es längst als eine der begehrtesten und sogar zukunftsweisenden Wohngegenden: "Es ging darum, eine neue Balance zu finden: zwischen dem Wunsch nach Privatheit und dem nach Begegnung, zwischen der Enge urbanen Wohnens und dem Bedürfnis nach Weite und Natur, zwischen der Notwendigkeit, Autos Raum zu geben und dem Menschen entsprechende Dimensionen. Das Terrassenhaus wurde wiederentdeckt, dessen Rücksprünge es erlauben, das zu einer Wohnung gehörende 'Draußen' zu vergrößern. Man experimentierte mit Wegen und Plätzen für Fußgänger und damit, den Verkehr in den Untergrund zu verbannen."
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Stichwörter: Olympisches Dorf

Musik

Victor Efevberha taucht für die taz ein in Geschichte und Gegenwart des Afrobeats, eine Mischung aus Dancehall-Rhythmen und lokalen afrikanischen Beats und nicht zu verwechseln mit dem Afrobeat eines Fela Kuti. "Interessant ist, dass der Begriff Afrobeats eben nicht in Afrika aufkam, sondern in Großbritannien, mit seiner großen westafrikanischen Diaspora und afrikanischen Gemeinden in allen Großstädten." Und auch Hamburg spielte eine Rolle, wohin in in den 80ern viele ghanaische Musiker emigrierten und "auf Drumcomputer, Sampler und Synthesizer" trafen. "Sie öffneten sich für den Eurodisco-Sound. Afrikanische Rhythmen und karibische Klänge fusionierten etwa mit dem 'kühlen' deutschen Industrie-Sound. Ein afrodeutscher Hybrid von Highlife entstand, 'Burger-Highlife' genannt. 'Burger' ist doppeldeutig, in Anlehnung an Hamburg, dass eine große ghanaische Community hat. Außerdem ist 'Burger' (ausgesprochen bor-ga) ein ghanaisches Slangwort, mit dem ein Kosmopolit bezeichnet wird, der die afrikanische Heimat verlässt und den sozialen Aufstieg im Ausland schafft ... 'Burger-Highlife' legte so auch den Grundstein für die zeitgenössische westafrikanische Fusion-Musik Afrobeats."

Ein Beispiel für Afrobeats? "Ojuelegba" von Wizkid:



Weiteres: In der NZZ trauert Christian Noe dem Pop nach, bevor er digital wurde. Ebenfalls in der NZZ erinnert Thomas Schacher an den Schweizer Komponisten Joachim Raff, der vor 200 Jahren geboren wurde. Ist "blank geputzte Disco" aus den 90ern jetzt wirklich Trend? Diese Frage stellten sich offenbar viele Fans von Drake, Beyoncé und Madonna und auch SZ-Kritiker Joachim Hentschel, der damit ganz gut leben kann. Vorbild ist Madonnas gerade wiederveröffentlichtes Video "Deeper and Deeper" von 1992. Mit Udo Kier! Erinnert sich noch jemand?



Besprochen werden Rolf Hansens Album "Tableau" (taz), das neue Album des österreichischen Volks-Rock-'n'-Roller Andreas Gabalier (wie schlimm es ist? "Fragen Sie nicht", stöhnt Christian Schachinger im Standard) und ein Konzert von Alice Cooper in der Jahrhunderthalle Frankfurt (FR).
Archiv: Musik
Stichwörter: Afrobeats, Beyonce, Kier, Udo, Disco, Drake