Efeu - Die Kulturrundschau

Vom Papiergebirge heruntertrippeln

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22.07.2022. Vorbildlich findet die taz, wie sich das Tropenmuseum in Amsterdam dem kolonialen Erbe der Niederlande stellt und ganz nebenbei fragt: Reproduziert die Sprache der Diversität nicht auch rassistische Kategorisierungen? Hyperallergic wird im New Yorker New Museum unbehaglich zumute, wenn Robert Colescott dem weißen Amerika zeigt: Rassismus ist überall. Bei aller Filigranität von Andreas Homokis "Madame Butterfly"-Inszenierung in Bregenz vermissen die Theaterkritiker doch Feingefühl. Der Filmfilter erkennt in Alex Garland den Philosophen der Science-Fiction. Und in der SZ erinnert sich Stefanie Sargnagel an ihre schlimmsten Lesungen vor linksradikalem Publikum.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.07.2022 finden Sie hier

Kunst

Bild: Madame de Beauvoir's painting - part in the series Rewriting History, by Fabiola Jean-Louis

Vorbildlich erscheint Carmela Thiele in der taz die neue Präsentation des Tropenmuseums in Amsterdam, das sich mit der Ausstellung "Unser koloniales Erbe" der Debatte stellt, dabei "kritisch und optimistisch" auf die Gegenwart blickt und weniger auf ethnologische Objekte als auf zeitgenössische Kunst setzt: "Ein Beispiel für das Finetuning der Inszenierung: Im Auftrag des Tropenmuseums schuf die südafrikanische Künstlerin Marlene Dumas ein für sie typisches Tableau einzelner aquarellierter Porträts. Ihre 'Coloured Drawings' stellen unterschiedliche Personen und mit ihnen die Nuancen verschiedener Hautfarben dar. Nur wenige Schritte weiter im Themenbereich 'Rassismus' liegt dann Gustav Fritschs 'Haut-Farben-Tafel' in einer Vitrine. Das Dokument ist Zeugnis der um 1900 zu Hochform aufgelaufenen Rassenkunde. Für Wayne Modest schließt sich an dieser Gegenüberstellung von ethnografischen Artefakten und zeitgenössische Kunst noch eine andere Frage an: 'Emanzipiert uns die Sprache des Multikulturellen, die Sprache der Diversität, von den Fragen der Rasse, von den Fragen der Vergangenheit, oder aber stellt sie ähnliche Kategorisierungen auf?'"

Robert Colescott, "Shirley Temple Black and Bill Robinson White" (1980). Portland Art Museum, Oregon. Collection of Arlene and Harold Schnitzer (© 2022 The Robert H. Colescott Separate Property Trust / Artists Rights Society (ARS), New York)

Noch immer wird John Yau (Hyperallergic) beim Anblick der Werke des amerikanischen Malers Robert Colescott unbehaglich zumute: Humorvoll, mitunter auch taktlos und vulgär führte Colescott dem weißen Amerika dessen Stereotype von Schwarzen vor Augen: Rassismus ist überall, so die Botschaft, die Yau nun auch im New Yorker New Museum in der Ausstellung "Art and Race Matters" erkennt: "In 'Shirley Temple Black and Bill Robinson White' aus dem Jahr 1980 nutzte Colescott den Ehenamen des Kinderstars, um einen Perspektivwechsel vorzunehmen: Indem er sie als junges schwarzes Mädchen und den schwarzen Stepptänzer und Schauspieler Bill 'Bojangles' Robinson als Weißen darstellte, zeigte er die glückliche Unterwürfigkeit, die dieser in Filmen projizierte. Colescotts Darstellung von Robinson als weißer Mann in blauem Overall und rotem Hemd, der einen Eimer Himbeeren in der Hand hält und zu einem lächelnden schwarzen Mädchen mit übertrieben roten Lippen singt, das ihn mit großen Augen anschaut, ist herrlich lächerlich. Die bühnenähnliche Kulisse mit dem rosafarbenen und blauen Himmel und den blauen Baumstämmen, die den Hintergrund bilden, zeugt von der meisterhaften Verwendung der Farben durch den Künstler."

Außerdem: Meron Mendel möchte die Documenta auch unter neuen Leitung nicht wieder beraten, meldet unter anderem der Tagesspiegel. In der taz schreibt Ulf Erdmann Ziegler zum Tod von Claes Oldenbourg. In der FAZ ist Georg Imdahl guter Dinge, dass das Museum Morsbroich in Leverkusen, das kurz vor der Schließung stand, dank der Pläne des neuen Direktors Jörg van den Berg das Gröbste hinter sich hat.

Besprochen werden die Aernout-Mik-Ausstellung in der Frankfurter Schirn (SZ), die Installation "Diversion" von Asad Raza im Frankfurter Portikus (FR) und die Installation "Apis Gropius" der Künstlerin Ana Prvacki im Berliner Gropius-Bau (FR).
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Film

Für Filmfilter arbeitet sich Benjamin Moldenhauer durch die Regiearbeiten von Alex Garland, der mit seinem Horrorfilm "Men" (aktuelle Besprechungen nicht nur bei uns, sondern auch auf critic.de und bei Filmfilter) gerade die Feuilletons aufmerken lässt (unser Resümee). Garland zeigt sich Moldenhauer als Philosoph der Science-Fiction: "Es sind keine kleinen Themen, die Garland in seinen Geschichten verhandelt, immer geht es ums große Ganze. Die Filme sind, um es einmal vorsichtig zu sagen, philosophisch ambitioniert, und dass sie sich nicht verheben mit dem, was sie uns über uns erzählen wollen, ist eigentlich schon erstaunlich genug. ... Und man kann, wie bei allen Erzählungen Garlands, entscheiden, ob das Ende nur schrecklich, ambivalent oder auch einfach ein Versprechen auf etwas Neues, noch nicht Definiertes ist."

Außerdem: Kerstin Holm stellt in der FAZ die Kurz-Zeichentrickfilme des russischen Animators Oleg Kuwajew vor, der mit seinen Arbeiten seine Landsleute über die Realität des Ukrainekriegs aufklären will. In der Welt schreibt Hanns-Georg Rodek einen Nachruf auf den Schauspieler Christian Doermer - dem einzigen Nicht-Regisseur der Unterzeichner des Oberhausener Manifests. Er "war einer der großen Übersehenen des deutschen Nachkriegsfilms".

Besprochen werden Jia Zhang-Kes auf Mubi gezeigter Dokumentarfilm "Swimming Out Till the Sea Turns Blue" (Perlentaucher), Charline Bourgeois-Tacquets "Der Sommer mit Anaïs" (Zeit), eine DVD-Ausgabe von Harald Brauns Film "Zwischen gestern und morgen" aus dem Jahr 1947 (critic.de), Marie Kreutzers "Corsage" (Intellectures, unsere Kritik), der Actionfilm "The Gray Man" mit Ryan Gosling (Presse), Sebastian Kos Thriller "Geborgtes Weiß" (Tsp), die Sky-Dokuserie "22. Juli - Die Schüsse von München" (taz), Philippe de Chauverons "Monsieur Claude und sein großes Fest" (Standard, Artechock), Louie Psihoyos' und Peggy Callahans "Mission: Joy - Zuversicht & Freude in bewegten Zeiten" (Artechick) und Detlev Bucks neuer "Bibi & Tina"-Film (Welt, Artechock).
Archiv: Film

Literatur

Mit Schaudern erinnert sich Stefanie Sargnagel in der SZ an ihre schlimmsten Lesungen, die in aller Regel vor linksradikalem Publikum stattfanden: "Der Bachmannpreis ist verglichen dazu eine Kuschelparty". Beim Heimspiel in Wien etwa kann sie sicher sein, dass ein ansehnlicher Teil im Saal "mit Twitter am Smartphone wie mit dem Rotstift gierig darauf wartet, die moralischen Fehleistungen in meinen Witzen zu finden. Die Scanner laufen, und jedes Wort wird bei Aufnahme ob seiner Problematik untersucht. Hashtags sitzen unter Linksradikalen hier besonders locker. Das ist aber ein Problem, dem man sich nach der Lesung widmen kann, wenn man paranoid den eigenen Namen in Social Media sucht, um zu wissen, ob man demnächst in den Mainstream rausgecancelt wird."

Außerdem: In der SZ verrät die Historikerin Hedwig Richter Miryam Schellbach, was sie gerade liest - nämlich Maxim Ossipows "Nach der Ewigkeit" ("Der Blick eines Russen auf die Welt, ein eigenartiger, sehr trauriger Blick auf Russland") und Claudia Schumachers "Liebe ist gewaltig" ("tut richtig weh, und ich kann es nur empfehlen"). Im Standard plaudert Dirk Stermann über seinen neuen Roman "Maksym".

Besprochen werden unter anderem Josef Winklers "Die Ukrainerin" (NZZ), Timo Feldhaus' "Mary Shelleys Zimmer. Als 1816 ein Vulkan die Welt verdunkelte" (ZeitOnline), Femi Kayodes Krimi "Lightseekers" (TA), Andreas Schäfers "Die Schuhe meines Vaters" (SZ) und Marie Luise Knotts "'370 Riverside Drive, 730 Riverside Drive'. Hannah Arendt und Ralph Ellison" (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Ziemlich "unsensibel" findet Stefan Ender im Standard Andreas Homokis Idee, seine Inszenierung von Puccinis Madame Butterfly bei den Bregenzer Festspielen in die 1950er-Jahre, also nur wenige Jahre nach dem Abwurf der Atombombe Fat Man, zu verlegen. Ansonsten aber ist der Kritiker zufrieden mit der Aufführung, die unwetterbedingt nach einer Stunde vom Freien ins Haus ziehen musste: "Es sind wunderschöne filigrane Bilder, die Regisseur Andreas Homoki mit seinem Team für die zu erwartenden knapp 400.000 Besucher geschaffen hat. Zauberhaft, wenn zwei Dutzend Geishas mit ihren aparten Kostümen und aufgespannten Schirmen vom obersten Kamm des Papiergebirges heruntertrippeln und die Bühne in eine Symphonie aus Rottönen getaucht ist (Kostüme: Antony McDonald, Licht: Franck Evin). Die vielen Geishas sorgen im ersten Akt zusammen mit Butterflys Verwandtschaft und der milchweißen Gruppe der Ottokè, der Geister von Cio-Cio-Sans Ahnen, für Aktion auf der weiten Szene und umschwärmen die fernen, kieselsteinkleinen Hauptdarsteller wie kleine Fischschwärme."

Feingefühl vermisst auch Egbert Tholl in der SZ, aber an anderer Stelle: "Japan, wie es Andreas Homoki sich vorstellt: eine Polonaise von Geishas, ein geisterhaft maskierter Statistenchor (Kostüme: Antony McDonald). Butterfly trippelt in kleinen Schrittchen, ihre Vertraute Suzuki ebenso. Das ist nur dann erträglich, wenn man annimmt, Andreas Homoki wolle damit Pinkertons Sicht auf eine ihm fremde Kultur ausstellen. Nähme man es als Haltung des Regisseurs, wäre man äußerst verwundert." "Statt Spektakel herrscht in guten Momenten kammerspielartige Fokussierung, in schlechten auch Monotonie", schreibt Georg Rudiger im Tagesspiegel, hebt aber die Musik hervor: "Enrique Mazzola führt die Wiener Symphoniker zu einem betörenden Streicherklang und zu einer Flexibilität, die für Puccini so wichtig ist." Als "Gesamtkunstwerk funktioniert der Abend", meint Markus Thiel in der FR, bemängelt allerdings auch, dass Homokis Inszenierung "im Stereotyp stecken" bleibe. Eine "kreuzkonventionelle, eben massentaugliche" Inszenierung dieser "auch rassistischen" Tragödie erlebt Manuel Brug in der Welt.

Außerdem: Im Tagesspiegel wirft Frederik Hanssen einen Blick in das dicke Programmheft des Theaters Brandenburg. Besprochen werden Sarvnaz Alambeigis Film "1001 Nights Apart" über die Geschichte des Tanzes im Iran (SZ) und Jack Furness' Inszenierung von Antonín Dvořáks "Rusalka" im Pavillon des Garsington Opernfestspiels (FAZ).
Archiv: Bühne

Architektur

In der SZ schreibt Andreas Bernard eine Liebeserklärung zum Fünfzigsten des von Karl Schwanzer entworfenen BMW-Hochhauses in München. "Seit 1999 steht das einst futuristische Gebäude unter Denkmalschutz, und die aufregende Kongruenz zwischen dem Kerngeschäft eines Unternehmens und der baulichen Gestaltung seiner Zentrale - des 'Zylinders' - löst sich unaufhaltsam auf. Er wird zu einem Anachronismus aus Stahl und Glas." "Die Feierlichkeiten werfen allerdings auch weniger erfreuliche Fragen auf", meint Matthias Alexander in der FAZ: "Es ist in den vergangenen Jahrzehnten eine Ausnahme geblieben, dass deutsche Industrieunternehmen ihre Gebäude architektonisch anspruchsvoll gestalten. Eher ist das Gegenteil der Fall: Wo Manager unter Renditedruck stehen und das Gebot der Flexibilität jeden Aufwand für bleibende Bauwerke obsolet erscheinen lässt, entscheiden sie sich für die billigste, möglichst schnell zu errichtende (und abzureißende) Variante. So sehen Bürogebäude und Produktionsstätten hierzulande dann auch aus."
Archiv: Architektur

Musik

Dirigent Václav Luks spricht in der FAZ über seine Pläne für Josef Myslivečeks Oratorium "Abramo ed Isacco", das er bei den Salzburger Festspielen mit dem Prager Collegium 1704 aufführen will. Einst galt das Werk irrtümlich als eine Arbeit Mozarts, heute ist es in den Spielplänen und als Aufnahme eine Rarität. "Das könnte unter anderem daran liegen, dass die neapolitanische Operntradition, in der das Stück steht, für die Solisten enorme gesangstechnische Anforderungen stellt. Deswegen sind wir glücklich, in Salzburg mit einem Künstler wie Mathias Vidal arbeiten zu können, der als einer der aktuell profiliertesten Haute-Contre-Tenöre unser Abramo sein wird. Außerdem bietet Salzburg auch wunderbare atmosphärische Bedingungen, gerade bei den 'Ouvertures spirituelles': das ist noch nicht das Publikum für die roten Teppiche wie dann bei den großen Opernaufführungen - es herrscht eine fast vertraute, gegenseitig sehr aufgeschlossene Kommunikation zwischen Hörern und Musikern."

Weiteres: Nach dem Missbrauchsskandal um den früheren Präsidenten Siegfried Mauser stehen die Zeichen bei der Münchner Musikhochschule mit der neuen Präsidentin Lydia Grün auf Neuanfang, kommentiert Merle Krafeld im VAN-Magazin: Sie "scheint in vielen Bereichen eine besondere Expertise mit nach München zu bringen". Jeffrey Arlo Brown begleitet für das VAN-Magazin den Trompeter Markus Czieharz bei seinem Probejahr beim Sinfonieorchester Wuppertal.
In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Gisela Trahms über Jimi Hendrix' Dylan-Cover "All Along the Watchtower".

Besprochen werden Harry Styles' Auftritt in Berlin (BLZ), Hank Williams Jrs Album "Rich White Honky Blues" (FR) und das neue Album "Arkhon" der operngeschulten Gothic-Popperin Zola Jesus (taz). Schauen Sie deren aktuelles Musikvideo auf jeden Fall im Vollbild, das senkt die Temperatur in ihrem Zimmer ganz automatisch:

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