Efeu - Die Kulturrundschau

Das Glück des Ikonoklasmus

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14.09.2022. Jean-Luc Godard ist tot. Die Feuilletons trauern um den Erneuerer des Kinos, die Zentralgestalt der Nouvelle Vague, der in seinen Filmen Leidenschaft, Intellektualität und Schönheit zusammenbrachte. Auf der Mailand-Biennale schöpft die SZ zumindest aus dem Eskapismus etwas Optimismus. FAZ und Tagesspiegel neigen beim Musikfest Berlin huldvoll ihr Haupt vor dem koreanischem Jongmyo-Schrein. Und wie die FR berichtet, spitzt sich der Streit um den propalästinensischen Agitpropfilm "Tokyo Reels Film Festival" auf der Documenta zu.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.09.2022 finden Sie hier

Film

Jean-Luc Godard ist tot, der große Revolutionär des Kinos, der Intellektuelle, die Zentralgestalt der Nouvelle Vague. Wie Libération meldete, hat er, der Schweizer, im Alter von 91 Jahren Sterbehilfe in Anspruch genommen: "Er war nicht krank, er war erschöpft."

In der SZ schreibt Fritz Göttler voller Liebe über den Regisseur, der Selbstreflexion, Konfusion und Inspiration ins moderne Kino brachte: "Das Meer ist so omnipräsent in diesem Werk, das Schweigen, die Erschöpfung gehört dazu am Ende eines Godard-Films, alles ist infrage gestellt, nichts gehört mehr zusammen. Man kann alles in einem Film unterbringen, man muss alles in einem Film unterbringen, das war sein Schlachtruf. Filme, so hat er mal gesagt, gefunden auf dem Müllhaufen der Geschichte. Das Glück des Ikonoklasmus. Mit dem Schweigen endet der Kampf ums Kino, der Kampf, der jeder Film ist."

Regisseur Dominik Graf erinnert in der SZ an die wunderbaren Schauspielerinnen, die bei Godard Intellektualität, Gefühl und Sinnlichkeit zusammenbrachten, Anna Karina, Brigitte Bardot, Marina Vlady, Jane Fonda, Anne Wiazemsky, Maruschka Detmers: "Liebe ist bei Godard eben immer eher eine Skizze, aber immerhin eine Möglichkeit, das schon." Graf erwähnt auch den harten Briefwechsel zweiten Godard und Truffaut, mit dem es nach Truffauts "Amerikanischer Nacht" zum Bruch zwischen den beiden Filmemachern kam.

Jean-Paul Bemondo und Jean Seberg in "Außer Atem"

Le Monde bringt acht Sonderseiten. Jacques Mandelbaum erinnert daran, mit welcher Leidenschaft, Schönheit und auch Brutalität sein Film "Außer Atem" 1960 mit der Filmgeschichte brach, obwohl er eigentlich nur eine Gangsterballade war: "Das Wesentliche liegt anderswo: in der erschütterten Kunst der Montage, in der wiedergewonnenen Freiheit der Körper, der Sprache und des Geistes, im stolzen Auftreten eines selbstgebastelten und inspirierten Kinos, das an einem Tag um hundert Jahre jünger zu sein scheint. Nicht weniger als in dieser Verfeinerung des cinephilen Materials, das aus den vermischten Einflüssen von Nicholas Ray, Roberto Rossellini, Jean Rouch oder Ingmar Bergman einen so einzigartigen Saft extrahiert. 'Außer Atem' ist mehr als der Vorgängerfilm, Truffauts 'Sie küssten und sie schlugen ihn', der Eröffnungsfilm der Nouvelle Vague, weil er die Form erfindet, die dem innovativen Geist der Bewegung am besten entspricht, und weil er den Aufstieg einer Jugend feiert, die zur gleichen Zeit ihre Werte entdeckt und in der französischen Gesellschaft durchsetzt."

Im Standard schreibt Bert Rebhandl, Verfasser einer Godard-Biografie: "Mit Jean-Luc Godard verliert nicht einfach das Kino, sondern verliert die abendländische Zivilisation einen oft mieselsüchtigen, eigensinnigen, auch unvernünftigen Intellektuellen, der in Bildern und Tönen auf eine Weise aufs Ganze ging, die wohl nie mehr einzuholen ist." In der taz weiß Ekkehard Knörer auch den späten Godard zu schätzen, dem das Publikum fern blieb: "Godard ist der Name für ein filmisches Verfahren, das die Bilder und Töne nicht hierarchisiert, sondern Zuschauer*innen in maßloser Überforderung als dialektischen Strom überfällt. Alles ist immer Analyse und Synthese zugleich." In der FAZ nimmt Dietmar Dath Godard gegen den Vorwurf in Schutz, er habe Kritikerfilme gedreht: "Godard hat Filme ganz und gar nicht 'erst verstanden, dann gemacht', wie selbst einige Fans ihm unterstellen. Gerade seine späten Filme verraten das Gegenteil." In der FR betont Daniel Kothenschulte, dass Godard durch und durch ein politischer Filmemacher war: "Korruption, Nahostkonflikt, Vietnamkrieg: Godard war in seinen Filmen schon immer politisch. In 'Die Chinesin' outete er sich als Maoist, und 'Der kleine Soldat' ruft die Schrecken des Algerienkriegs wach, den die französische Armee gegen die Unabhängigkeitsbewegung in Algerien führte. Der Film wurde in Frankreich zunächst verboten." (Den Antisemitismus, den er in seiner maoistischen Phase zeigte, warf ihm vor zehn Jahren schon und gestern auf Twitter Perlentaucher Thierry Chervel vor.) Weitere Nachrufe in Tsp, ZeitOnline und NZZ.

Besprochen werden Sabine Derflingers Alice-Schwarzer-Porträt (taz), Edward Bergers Remarque-Verfilmung "Im Westen nichts Neues", die in Deutschland fürs Oscar-Rennen nomoniert wurde (SZ).
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Bühne

In der NZZ porträtiert Lilo Weber die Balletttänzerin Sarah-Jane Brodbeck, die aktuell in der sogenannten "Transition" steckt - der Phase, in der TänzerInnen altersbedingt Abschied vom Bühnenleben nehmen müssen. Besprochen werden Lola Arias' Stück "Mother Tongue" am Berliner Gorki Theater (Tagesspiegel, Berliner Zeitung), Carlos Wagners Inszenierung von Jörg Widmanns Oper "Das Gesicht im Spiegel" im Wiener Museumsquartier (Standard), Armin Petras' Inszenierung "Im Berg" nach Franz Fühmann am Staatstheater Cottbus (nmz) und Nicolas Stemanns Performance-Abend "Ödipus Tyrann" am Zürcher Schauspielhaus (FAZ).
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Kunst

Ulf Erdmann Ziegler würdigt im Perlentaucher William Klein, der im Alter von 96 Jahren gestorben ist (siehe Efeu von gestern): "Erstaunlich ist - und rar in irgendeinem künstlerischen Werk - wie William Kleins filmisches Werk eine solche Kraft entfaltete, nachdem er schon der schwarzweißen Fotografie wichtige Impulse gegeben hatte, und zwar bis nach Japan. Seinen (damals noch) kleinen, ingeniösen, gehässigen Bildband - er hieß "Life is Good & Good for You in New York" - bekam er 1956 beim Literaturverlag Seuil verlegt, wo ein gewisser Chris Marker damals das Segment Reisebuch leitete. In den sechziger Jahren folgten intensive, abenteuerliche, von ihm selbst gestaltete Städtebände über "Rom", "Moskau" und "Tokio" (so hießen die wirklich), die man auch in manchen deutschen Bibliotheken und Antiquariaten findet, weil Henri Nannen und Gerd Bucerius als Ko-Verleger deutscher Ausgaben einsprangen." Weitere Nachrufe schreiben in der SZ Till Briegleb und in der FAZ Freddy Langer.

Nach der Empfehlung des Expertengremiums, den Agitpropfilm "Tokyo Reels Film Festival" nicht mehr zu zeigen und Ruangrupas pampiger Antwort (Unsere Resümees), fordern nun auch die Gesellschafter den "sofortigen Stopp", der Filmvorführung - aber Ruangrupa weigert sich nach wie vor, berichtet unter anderem Judith von Sternburg in der FR: "Daraufhin - inzwischen war es Dienstag - äußerten die Gesellschafter, das Land Hessen und die Stadt Kassel, zumindest halbwegs direkt, sie votierten für einen zumindest vorläufigen Stopp der Filmvorführung. Bis zum Nachmittag war nichts weiter geschehen." Und auch Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, forderte laut dpa: "'Ich erwarte von den Verantwortlichen, dass sie Sorge dafür tragen, dass der hier zur Schau gestellte, staatlich alimentierte Antisemitismus unverzüglich, noch vor dem 25. September beendet wird.'" Claudia Roth schießt sich der Forderung ebenfalls an, wie unter anderem die Jüdische Allgemeine mit dpa meldet: "'Auch für die Kunstfreiheit gibt es eine klare Grenze und das ist die Menschenwürde, das ist Antisemitismus, wie auch Rassismus und jede Form der Menschenfeindlichkeit.'" In der taz schreibt Julia Hubernagel zu den Hintergründen.



Als Kommentar zur "gespenstischen Nähe" des Krieges, aber auch zum baltischen Trauma erlebt Werner Bloch in der FAZ das Kulturfestival "Survival Kit" in Riga: "Höchst bemerkenswert zeigt die Schau das Zusammenspiel von Ökologie und politischem Widerstand in Riga. Die Umweltbewegung wurde in den Achtzigerjahren zum Schirm, unter dem sich der politische Widerstand gegen Moskau zusammenraufte. Die Sowjets planten damals eine U-Bahn durch Riga zu legen, was das historische Zentrum zerstört hätte, und wollten ihren Energiehunger durch ein Kraftwerk am Fluss Düna stillen. Daraus erwuchs von 1986 bis 1990 die Singende Revolution."

Bild: André des Gachons. Foto: Collection Météo-France; Courtesy J.-M. Peyrot des Gachons.

Nicht weniger als eine neue Betrachtungsweise - "vom weitesten Universum bis zur dunklen Materie, vom Grund der Ozeane bis zum Ursprung unseres Bewusstseins", wünscht sich die Astrophysikerin Ersilia Vaudo, die die 23. Triennale in Mailand unter dem Titel "Unknown Unknowns" kuratiert hat, weiß Laura Weißmüller in der SZ - und fragt sich: Ist so viel Eskapismus passend angesichts der aktuellen Krisen? Ja, schon weil allein der Blick auf historische Werke Optimismus versprüht, meint sie. Etwa "die Aquarelle der Himmelvariationen von André des Gachons. Heute traut man sich ja kaum noch, sorgenfroh in einen strahlendblauen Himmel zu blicken - Stichwort: Hitzetage - oder Gewitterwolken zu bestaunen - Stichwort: Starkregen. Bei des Gachons werden die Wetteraufzeichnungen zu zauberhaften Kunstwerken, die an Goethes Wolkendiarien erinnern."

Besprochen werden außerdem die Donatello-Ausstellung in der Berliner Gemäldegalerie (Welt) und die Ausstellung "Jeffrey Lewis's Low-Budget Documentaries" im Bremer Raum404 (taz).
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Literatur

Besprochen werden Anita Harags Erzählungen "Es ist zu kühl für diese Jahreszeit" (NZZ), Maren Wursters Roman "Eine beiläufige Entscheidung" (SZ), literarische Essays von Peter Demetz (FAZ) und Voltaires "Der unwissende Philosoph" (FAZ).
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Musik

Jongmyojeryeak-Aufführung im National Gugak Center. Bild: Musikfest

Auftritt oder Ritual? In der FAZ kann Clemens Haustein nicht mit Sicherheit sagen, was er beim Musikfest Berlin mit dem National Gugak Center erlebt hat, aber er ist tief beeindruckt von der Ahnenzeremonie am Jongmyo-Schrein, dem Gedenkort für die Könige der Joseon-Dynastie: "Wie schaffen es die Musiker, gemeinsam zu spielen, wo sie doch in Reihen hintereinandersitzen und der 'Jipbak', der Orchesterleiter in grüner Robe, nur zu Beginn und am Ende eines Abschnittes eine Holzklapper schlägt, sonst aber reglos dasteht? Es bleibt ein Rätsel, ebenso wie die Tänzer in perfekter Abstimmung ihre sanfte Choreografie hinzufügen. Die Beteiligten scheinen sich in einen tiefen, dem Hörer nicht erkennbaren Rhythmus eingeschwungen zu haben, der in allem Einklang Räume bietet für feine Nuancen." Im Tagesspiegel bewundert Tye Maurice Thomas die große Harmonie von Gesängen und Klangflächen, Farben, Bewegungen und Gesten: "Der schnarrende Klang der Eo, eines Reibinstrumentes in Form eines kauernden weißen Tigers, beendet jeweils die einzelnen Gesänge: Die Farbe Weiß steht für den Osten, den Sonnenuntergang und das Ende."
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