Efeu - Die Kulturrundschau

Im bläulichen Rund der Gedächtniskirche

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.11.2022. Die FAZ lernt von ukrainischen Schriftstellern, dass der Krieg ihnen das belletristische Schreiben unmöglich macht. FR und FAZ streiten mit Wagners "Meistersingern" in Frankfurt, was gute Kunst ist. Mit angehaltenem Atem verfolgt die taz Rahul Jains Doku "Invisible Demons" über die Umweltverschmutzung in Delhi. Im Tagesspiegel erklärt Max Hollein die Open-Access-Politik des Metropolitan Museums. Im Standard beklagt Peter Nachtnebel die Kommerzialisierung der Clubszene
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.11.2022 finden Sie hier

Literatur

Katrin Hillgruber berichtet in der FAZ vom deutsch-ukrainischen Schriftstellerprojekt "Eine Brücke aus Papier", das in Weimar getagt hat: "Der Krieg hat sich in die Gesichter gegraben und die Züge verhärtet. Natalya Kulabucha, eine der bewährten Dolmetscherinnen, hat einen mehrmonatigen Einsatz als Sanitäterin hinter sich." Und "eine übereinstimmende Erkenntnis lautet, dass der Krieg belletristisches Schreiben unmöglich macht. Der Übersetzer Juri Durkot aus Lemberg und der russischsprachige Literaturwissenschaftler Andrej Krasnjaschtschich von der Universität Charkiw haben sich seit dem 24. Februar auf lakonische Notizen wie 'Teppichklopfen in der Feuerpause' verlegt. Sein altes Ich habe sich mit der Evakuierung aus Charkiw gehäutet, so Krasnjaschtschich. ... 2017 hatte er die Teilnehmer der 'Brücke aus Papier' voller Stolz durch die architektonisch kühne Hauptstadt der einstigen Sowjetukraine geführt, deren geistige Elite im Stalinismus ausradiert wurde. Offenbar empfinde Putin russischsprachige Ukrainer als 'Verräter' und wolle sie bestrafen, ist mehrfach in Weimar zu hören."

Weitere Artikel: Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Für den Standard porträtiert Adelheid Wölfl den kroatischen Schriftsteller Miljenko Jergović.  Im Intellectures-Blog spricht der Verleger Andreas Rötzer über die "Nature Writing"-Reihe seines Verlages Matthes & Seitz. Joseph Wälzholz erzählt in den "Actionszenen der Weltliteratur" davon, wie August von Kotzebue 1800 aus heiterem Himmel nach Sibirien verbannt wurde. Und eine traurige Nachricht: Der Comiczeichner Kevin O'Neill, der über viele Jahre hinweg mit dem Autor Alan Moore zusammengearbeitet hat, ist gestorben. Vor wenigen Wochen hat Andreas Platthaus in seinem Comicblog noch deren gemeinsame Reihe "Cinema Purgatorio" besprochen.

Besprochen werden unter anderem Stefano Massinis im Versmaß abgefasster Roman "Die Lehman Brothers" (SZ), Édouard Louis' "Anleitung ein anderer zu werden" (Jungle World), Volker Kutschers Krimi "Transatlantik" (taz), Amartya Sens Memoir "Zuhause in der Welt" (taz) und Ian McEwans "Lektionen" (FAZ). Mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr.
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Bühne

Die Meistersinger und ihre Gesellen. Bild: Monika Rittershaus / Oper Frankfurt 

In Frankfurt haben Regisseur Johannes Erath und Dirigent Sebastian Weigle Wagners "Meistersinger von Nürnberg" neu auf die Bühne gebracht. Musikalisch lässt FR-Kritikerin Judtih von Sternburg auf die Inszenierung nichts kommen: "Jedenfalls ist das Ergebnis federnd strahlend im Detail. Feines Gewirk statt Klangmasse, das glänzend aufgelegte Orchester bietet das komplette Gegenteil einer Ohrenbetäubung... Es geht in Frankfurt nicht um Kleinformat, es geht um Transparenz. Das Pathetische, weitgehend selbst das ironisch Gravitätische hat sich verabschiedet, nicht weil die Musik banalisiert, sondern weil sie sublimiert wird." In der FAZ jubelt Jan Brachmann auch über die Inszenierung: "Das Stück hat uns mit seiner Geschichte über eine traurige, ausweglose Liebe, aber auch dem Streit darüber, was gute Kunst sei, noch viel zu sagen. Am Ende hält Hans Sachs seine berüchtigte Ansprache über das, 'was deutsch und echt' in der Kunst sei, vor dem geschlossenen Vorhang. Beckmesser steht ihm bei. Im bunten, vielfältigen Volk hinter ihnen ist für beide kein Platz mehr. Ihre Kunstanschauungen sind nicht inklusionsfähig. Zum Nachspiel leuchtet über dem Volk das Wort 'Germania' auf, bis die drei ersten Buchstaben verlöschen. Wenn man also, 'was deutsch und echt', aus der bunten Vielfalt streicht, bleibt 'mania' übrig. Wahnsinn, diese tollkühne Inszenierung!"

Besprochen werden Emre Akals "Göttersimulation" an den Münchner Kammerspielen (SZ), Dušan David Pařízeks Inszenierung von Anne Webers "Annette, ein Heldinnenepos" am Schauspiel Stuttgart (taz), Jonathan Meeses neues Stück "Barrier Reef" (in der Welt grübelt Jacob Hayner noch immer, was ihm diese "Mischung aus clowneskem Nazi-Karaoke, öffentlicher Therapiesitzung und absurder Propaganda-Dauerschleife" sagen soll) und Fritz Wittenbrinks "Pippi Langstrumpf" an der Komischen Oper Berlin (Tsp, FAZ, Nachtkritik).
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Film

Die Kraft der Bilder: "Invisible Demons"

Sehr beeindruckt bespricht Fabian Tietke in der taz Rahul Jains Dokumentarfilm "Invisible Demons" über die immer krasser werdende Umweltverschmutzung rund um Delhi und die Folgen des Klimawandels. Jain "zeigt den Preis, den Indien für den wirtschaftlichen Aufstieg an Umweltschäden und Krankheiten zahlt. Nur in wenigen Bildern ist die Luft über der Stadt halbwegs klar, meist verhängt dichter Dunst den Himmel. Die lokalen Probleme verbinden sich mit den globalen Klimaschäden zu einem katastrophalen Kreislauf. ... Die Kraft von 'Invisible Demons' besteht in den Bildern, die Jain findet. Von den weiß blitzenden unsichtbaren Dämonen der Luftverschmutzung, die sich in den Lungen der Menschen ablagern, bis in die Weite der Landschaften. Als der Film per Kameradrohne dem Fluss Yamuna aus Delhi heraus folgt, wird das Wasser immer trüber."

Außerdem: In der taz empfiehlt Michaela Ott das Berliner Filmfestival Afrikamera. Matthias Kalle ärgert sich auf ZeitOnline, dass Olli Dittrichs "Dittsche" nun im Vorabendprogramm der ARD für müde Satire-Auftritte verheizt wird.

Besprochen werden Claude Zidi Juniors "Tenor" über einen Hiphopper aus den Banlieues in der Pariser Oper (Welt) sowie Milena Czernovskys und Lilith Kraxners auf DVD erschienener Film "Beatrix" (Jungle World).
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Kunst

Im Interview mit Ronja Merkel bei Tagesspiegel+ erklärt Max Hollein, Leiter des New Yorker Metropolitan Museums, die Digitalstrategie des Hauses: "Unsere Open-Access-Policy ist sicherlich eine unserer wichtigsten Einführungen: Sämtliches Bildmaterial zu den Objekten unserer Sammlung, sofern es nicht Copyright geschützt ist, wird durch uns kostenfrei zugänglich gemacht. Das gesamte Bildmaterial kann heruntergeladen und genutzt werden - und das wird es durchaus. Gleiches gilt für unsere Publikationen. Ausnahme sind auch hier bloß die zeitgenössischen Werke, die gesonderten Urheberrechtsregeln unterliegen. Aber auch so ist es ein riesiges Konvolut an Informationen, die wir zur Verfügung stellen und die weltweit online abrufbar sind. Nicht nur zum Anschauen, sondern wirklich zum Verwenden."

Besprochen werden die Doppelschau "Imi Knoebel. Barbara Kasten", mit der die mittlerweile dem Freitsaat Bayern gehörende Sammlung Goetz nach dreißig Jahren Schließung in München wieder öffnet (FAZ), Ausstellung zu den Gewinnern des Sony World Photography Awards im Berliner Willy-Brandt-Haus (Tsp).
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Stichwörter: Hollein, Max, Halter, Jürg

Architektur

Auch mit kleinem Budget lassen sich für die Kunst stimmige Räume schaffen, freut sich Laura Helena Wurth in der NZZ über den Erweiterungsbau des Josef-Albers-Museums in Bottrop, für den das Schweizer Architekturbüro Gigon/Guyer die Möglichkeiten schön und effizient genutzt haben: "In den letzten Jahren sind die Museumsbauten immer monumentaler geworden und mit ihnen die Kunst, die darin gezeigt wird. Das tut weder der Kunst noch den Gebäuden gut. In Bottrop kann man jetzt sehen, dass acht wohlproportionierte und durchdachte Räume reichen, um einen neuen Blick auf ein Werk zu ermöglichen."
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Musik

Als der Saxofonist John Surman, der Bratschist Mat Maneri und der Pianist Lucian Ban beim Jazzfest Berlin ihr von Bartok inspiriertes Album "Transylvanian Folk Songs" spielten, schwebte FAZ-Kritiker Tobias Lehmkuhl im siebten Himmel: Zu genießen "waren Klänge von schwebender, universeller Schönheit. So stark die einzelnen Musikerpersönlichkeiten dieses Trios sind, so erscheint es doch sinnlos, den an sich unverwechselbaren, auch im hohen Alter von 78 Jahren mit äußerster Präzision gesteuerten Saxophon- und Klarinettensound Surmans hervorzuheben, die Kunst Maneris, gleichsam in den Zwischenräumen der Töne eine Welt zu erschaffen, in der sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu berühren scheinen, oder den zurückhaltenden Feinsinn Lucian Bans - selten hat man erlebt, wie drei Musiker zu einer derartigen Einheit verschmolzen und einen Raum öffneten, der von den nackten Realitäten des irdischen Lebens erzählte und zugleich jene himmlischen Sphären berührte, die der gekreuzigte Jesus, der im bläulichen Rund der Gedächtniskirche über den Musikern hing und golden schimmerte, symbolisierte." Dazu passend hat die FAZ Wolfgang Sandners Besprechung des von Markus Müller herausgegebenen Buches über die Geschichte des legendären Jazzlabels "Free Music Production" online nachgereicht.



Im Standard spricht Ex-Booker Peter Nachtnebel darüber, warum ihn die fortschreitende Professionalisierung der Clubs und damit die Marktzwänge seinen Job hat kündigen lassen. Auch Underground-Clubs sind davon betroffen: "Dem ursprünglichen Anspruch, ein egalitärer, antikapitalistischer, antirassistischer Freiraum zu sein, stehen hohe Ticket- und Getränkepreise gegenüber sowie die Abweisungen von Männergruppen mit Migrationshintergrund. ... Man hat nur zwei, drei Tage pro Woche, um innerhalb weniger Stunden Geld zu verdienen, deshalb sind die Getränke an der Leistbarkeitsgrenze. Auch sind die Produktionskosten von Konzertabenden stark gestiegen, die Kartenpreise gehen durch die Decke. Weibliches oder queeres Publikum will man schützen. A-priori-Verurteilungen von Menschen, die sich diesem gegenüber intolerant verhalten könnten, finden somit schon an der Eingangstür statt. So wird der Club schleichend zum 'Klub' für uns europäische Wohlstandskinder in der Experimentierphase."

Weiteres: Die Meinungsfreiheit "schützt auch Verrücktheiten", tadelt Jürgen Kaube im FAZ-Kommentar die Bestrebungen diverser Bürgermeister im Land, geplante Konzerte von Roger Waters zu verhindern. Patrick Bahners schreibt in der FAZ einen Nachruf auf die Low-Schlagzeugerin Mimi Parker. Vor wenigen Monaten spielte sie mit ihrer Band noch beim Pitchfork Festival:



Besprochen werden ein Bruckner-Konzert des Tonhalle-Orchesters unter Paavo Järvi (NZZ), Dry Cleanings Album "Stompwork" (Tsp), eine Apple-Doku über den Popstar Selena Gomez (taz), Nikki Lanes "Denim & Diamonds" (FR) und Rihannas Soundtrack-Song "Lift Me Up" zum neuen "Black Panther"-Superheldenfilm (NZZ).

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