Efeu - Die Kulturrundschau

Fallstricke der Einfühlung

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14.11.2022. Die FR erliegt der obsessiven, rohen und rätselhaften Wucht der Black-Art-Ikone Jean-Michel Basquiat, dem die Albertina eine Retorspektive widmet. Passend dazu erleben Standard und Nachtkritik mit Tony Kushners "Engel in Amerika" im Burgtheater noch einmal das homophobe und rassistische Amerika der achtziger Jahre. Die Welt meldet nicht wirklich erleichtert eine Einigung zu Hamburger Bahnhof und Rieckhallen.Die taz erkennt einen neuen Mut zum politischen Akzent bei der Duisburger Filmwoche. Die SZ schwebt mit dem Kollektiv Sault im siebten Soul-Himmel.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.11.2022 finden Sie hier

Kunst

Jean-Michel Basquiat: Untiteld, 1982. Bild: Albertina

Die Wiener Albertina prunkt mit einer Retrospektive des gerade wieder sehr angesagten Jean-Michel Basquiat. In der FR erinnert Ingeborg Ruthe daran, dass Basquiat in den achtziger Jahren zur Galionsfigur der Black Art avancieren konnte, zu einer Zeit, in er ohne Begleitung von weißen Freunden in kaum ein Restaurant gekommen wäre: "Oft wird Basquiat als 'Neoexpressionist' bezeichnet, wegen des Schichtenaufbaus der Gemälde und deren Oberflächen. Er erfand Gestalten, Chiffren zwischen androgynen und deutlich zweigeschlechtlichen Körpern, zwischen Gegenständen, Gedicht- und Wortfetzen; der einstige Schüler einer katholischen Privatschule zeichnete bisweilen sogar Epiphanien (Christuserscheinungen). Er liebte den spielerischen Umgang mit Figuren und Sprache, den Rhythmus und die Wiederholung von Wörtern, das Sampeln und Scratchen als künstlerische Methode. Diese Bildwelt entspringt auch der Belesenheit des Autodidakten, die sich in Textfragmenten durch sein gesamtes Werk zieht. Obsessiv, roh und rätselhaft wie Basquiats kurzes Leben zwischen den Extremen."

Hamburger Bahnhof und Rieckhallen sind gerettet, weiß Swantje Karich bereits vorab in der Welt zu melden, der Bund zahlt für den Hamburger Bahnhof etwa 66 Millionen, das Land Berlin für die Rieckhallen 70 Millionen Euro zusammen mit einem weiteren Grundstück am Humboldthafen für 30 Millionen Euro. Erleichtert ist Karich aber nicht: "Eine unglaubliche Zahl von Versäumnissen reihte sich in den Jahren danach aneinander. Unter anderem wurde ein Vorkaufsrecht für einen Bruchteil dessen, was jetzt bezahlt werden muss, schlicht verpennt. Aber auch die Mitarbeiter des Museums nahmen ihr Schicksal achselzuckend hin. Die CA Immo aber hatte immer mit einem Abriss der Rieckhallen geplant, als Eigentümer stand es ihr zu, einen Neubau zu planen. Er war von Anfang an im Bebauungsplan der Europacity hinter dem Hamburger Bahnhof markiert. Interessierte aber niemanden. Man wurde erst darauf aufmerksam, als sich das Ende des Mietvertrags näherte: 2021."

Besprochen werden eine Ausstellung des in die USA emigrierten jüdischen Fotografen Julius Frank im Bremer Fokke-Museum (taz) und die Schau "Paint it all" in der Berlinischen Galerie (Tsp).
Archiv: Kunst

Literatur

Wie weit darf Literatur beim Erfinden von Geschichten gehen? Um diese Frage kreiste Daniel Kehlmanns Marbacher Schillerrede. Der Autor hat sich damit "ins Zentrum der literaturpolitischen Debatten dieser Tage gewagt", hält Jakob Hayner in der Welt fest. Die Rede "ist eine Vermessung der literarischen Welt, die aus dem eigenen Schreiben schöpft und einen klugen Blick auf die Gegenwart wirft." Kehlmann sucht Rat in Schillers "Wallenstein" und stößt darin auf "ein Plädoyer fürs künstlerische Abstandnehmen, das Kehlmann in Schillers Worten erblickt und exemplarisch für sein eigenes Schreiben nimmt. Eine Distanz, die Reflexion ermöglicht, die den Fallstricken der Einfühlung ausweicht und diese ferne Nähe benutzt, um die Mittel des eigenen Schreibens zu hinterfragen.  ... Folgt man Kehlmann, gibt es keine Grenzen. Alles ist möglich. Doch das Mögliche, es ist nur vernünftig, wenn es sich auch als begründet erweist. 'Theoretisch darf man alles, aber praktisch macht man sich lächerlich.'" Außerdem schreiben Andreas Platthaus (FAZ) und Felix Stephan (SZ) über die Rede,

Mbougar Sarr Mohamed. Foto © DR Philippe Rey
Im Perlentaucher stellt Angela Schader in einem "Vorwort" den senegalesischen Autor Mohamed Mbougar Sarr vor, der in seinem Roman "Die geheimste Erinnerung des Menschen" einen Autor erfindet, der an einem Buch arbeitet, das "alle anderen Werke töten würde": "Immer wieder wird Sarr an die Schmerzpunkte der afrikanischen Literatur und ihres Fremd- und Selbstverständnisses rühren. Die zuvor referierte, mit der stumpfen Waffe des Vorurteils geführte Debatte etwa ist Kinderspiel im Vergleich mit dem Massaker, das Diégane und sein kongolesischer Schriftstellerfreund Musimbwa eines schönen Abends in den Gefilden der frankophonen afrikanischen Literatur veranstalten. Gleichsam auf Zehenspitzen, via die 'manchmal angenehmen, oft erniedrigenden Zweideutigkeiten' ihrer eigenen Situation, schleichen sie sich ans Thema an, dann purzeln die Köpfe. Zunächst werden die voraufgehenden Autorengenerationen liquidiert, die nie über 'die Négreries eines gefälligen Exotismus' oder magere Autofiktionen hinausgekommen seien, dann führt man das afrikanische wie auch das weiße Lesepublikum aufs Schafott, als Nachtisch folgt die Kritikerzunft."

Die Académie Goncourt, die den Prix Goncourt verleiht, ist "heillos zerstritten", meldet Niklas Bender in der FAZ: Die diesjährige Auszeichnung für Brigitte Giraud (unser Resümee) konnte am Ende nur per Machtwort des Jurypräsidenten durchgesetzt werden. Doch der Streit zwischen den zwei Fraktionen schwelt mindestens seit letztem Jahr, als ein Interessenskonflikt die Auswahl dominierte: Schatzmeisterin Camille "Laurens' Lebensgefährte François Noudelmann war Kandidat. Man entschied, ihn im Rennen zu lassen - bis Laurens eine Konkurrentin demontierte und France Inter einen Skandal witterte. So viel Krach gab es selten." Und "in diesem Herbst war eine Reise der Académie zur Messe 'Beirut-Bücher' Anlass für Konflikte. Der libanesische Kulturminister Mohammed Mortada hatte am 8. Oktober gegen 'das Gift des Zionismus' gewettert. ... Die eine Hälfte der Académie sagte die Reise ab, vier der 'Offiziellen' hingegen begaben sich nach Beirut und verkündeten dort die diesjährigen Finalisten. Offizielle Kritik an dem antisemitischen Minister übten sie nicht."

Weitere Artikel: Marcus Müntefering spricht für den Freitag mit der feministischen Krimiautorin Sara Paretsky. Sergei Gerasimow schreibt hier und dort in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Der Schriftsteller Rafael Cadenas erhält den Cervantes-Preis, berichtet Paul Ingendaay in der FAZ. FAZ-Kritiker Andreas Platthaus war in Paris bei der Präsentation von Jacques Tardis neuem Comic, mit dem der Comiczeichner seinen Zyklus über Adèle Blanc-Sec abschließt. Außerdem gratuliert Platthaus dem Musil-Experten Karl Corino zum 80. Geburtstag. In der taz gratuliert Susanne Messmer dem auf künstlerisch ambitionierte Comics spezialisierten Avant-Verlag zur Auszeichnung mit dem Berliner Verlagspreis.

Besprochen werden unter anderem Dmitry Glukhovskys "Geschichten aus der Heimat" (FAZ), der von Ingrun Spazier herausgegebene Band "Briefe aus der DDR 1989-1990" (FR), John Jeremiah Sullivans "Vollblutpferde" (BLZ), Martin Mosebachs "Taube und Wildente" (Tsp), Verena Roßbachers "Mon Chéri und unsere demolierten Seelen" (Standard), Jacques Rancières "Zeit der Landschaft. Die Anfänge der ästhetischen Revolution" (taz), Davide Longos Krimi "Schlichte Wut" (Freitag) und J.R.R. Tolkiens "Der Untergang von Númenor und andere Geschichten aus dem Zweiten Zeitalter von Mittelerde" (Welt).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt der Schriftsteller Mirko Bonné über Emma Lews "Tschernobyl: Small Talk":

"Ich glaube, ich kann dir ein Geheimnis anvertrauen:
Mir wurde befohlen, mich in dich zu verlieben,
und ich bin heillos ..."
Archiv: Literatur

Bühne

Tony Kushners "Engel in Amerika". Foto: Karolina Miernik / Burgtheater

Am Wiener Burgtheater hat Daniel Kramer Tony Kushners modernen Klassiker "Engel in Amerika" mit viel Disco-Glamour auf die Bühne gebracht. Es geht um den Beginn der Aids-Pandemie im homophoben, rassistischen Amerika der achtziger Jahre. Im Standard findet Stephan Hilpold Kramers Inszenierung zwar etwas zu historisch angelegt, dennoch zeige sie sehr deutlich, dass queere Ästhetik schon immer Widerspruch und Hedonismus zusammengedacht habe: "Mit 'Engel in Amerika' setzte er der Unsicherheit und Machtlosigkeit, der Angst und der Wut ein literarisches Denkmal entgegen, das genauso vom Stolz und Überlebenswillen der Betroffenen handelte wie von den Anwürfen, denen sie ausgesetzt waren. Den Realismus des amerikanischen Theaters ließ er auf die Phantasmagorien der schwulen Subkultur, die Welt des Drags und Fetischs treffen. Und wenn die Not am größten war, schwebte ein überlebensgroßer Engel von der Decke; allerdings nicht einer, der wie jener von Walter Benjamin auf die Geschichtstrümmer zurückblickte, sondern einer, der sein Antlitz in die Zukunft richtete."

In der Nachtkritik hätte sich Andrea Heinz zwar gewünscht, dass sich die Inszenierung mehr für den politischen Gehalt interessiert hätte, aber wie das Stück "neurotische Machtgier, religiösen Wahn und Bigotterie" behandelt, findet sie auf jeden Fall stark. Und auch die Hauptfigur, den schwulen Anwalt und Gauner Ray Cohn: "Cohn war Chefberater McCarthys, federführend bei der Hinrichtung der Rosenbergs, denen Spionage für die Sowjetunion vorgeworfen wurde, Anwalt von Donald Trump - und starb Mitte der 80er-Jahre an Aids. Oder, in seiner Lesart: Leberkrebs." In der FAZ wird es Martin Lhotzky mitunter zu laut, aber als Abbild eines zerrissenen Amerikas überzeugt ihn die Inszenierung gleichwohl.

Besprochen werden außerdem das Musical "Hyäne Fischer" an der Berliner Volksbühne (das SZ-Kritiker Peter Laudenbach für schlichtweg blamabel hält) und Wu Tsangs "Pinocchio" am Zürcher Schauspielhaus (Nachtkritik).
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Film

"Unrecht und Widerstand" von Peter Nestler

Fabian Tietke resümiert in der taz die Duisburger Filmwoche im ersten Jahrgang unter dem neuen Leiter Alexander Scholz, dem er "Mut zu politischen Akzenten" bescheinigt, der in seiner Auswahl aber auch "mehr Mut zu Formexperimenten" haben könnte. Dennoch sehr beeindruckt hat den Kritiker Peter Nestlers "Unrecht und Widerstand". Der "imposante Film entfaltet anhand der Familiengeschichte von Romani Rose die Geschichte der Bewegung für die Rechte von Sinti und Roma in Deutschland, die zur Etablierung des Zentralrats führte. Ausgehend von der Verfolgung von Roses Großvater, der als Besitzer eines mobilen Kinos in Hessen früh ins Visier der Nationalsozialisten geriet, macht der Film die Traditionslinien der Verfolgung von Sinti und Roma sichtbar, die aus der Zeit vor 1933 in den Nationalsozialismus überdauerten. ... Nestlers Film bedient sich bewusst einer zurückgenommenen Form, die seinen Protagonist_innen den Raum gibt, der ihnen lange vorenthalten wurde." Bereits im Sommer besprach Patrick Holzapfel den Film für den Filmdienst.

Außerdem: Die SZ spricht mit der deutschen Schauspielerin Florence Kasumba über deren Mitarbeit am neuen "Black Panther"-Blockbuster und ihre Forderungen nach mehr Diversität im deutschen Film. Simon Strauß (FAZ) und Margarete Affenzeller (Standard) würdigen den Schauspieler Oskar Werner, der vor 100 Jahren geboren wurde. Besprochen wird die Serie "Memorial Hospital" (ZeitOnline).
Archiv: Film

Musik

Joachim Hentschel hat für die SZ die fünf neuen, zunächst in einer Online-Aktion verschenkten Alben des anonym auftretenden britischen Soul-Kollektivs Sault gehört. "Es klingt zu irre, um wahr zu sein, aber praktisch alles aus dem neuen Sault-Musikkonvolut wirkt unendlich inspiriert, ohrenöffnend, mit simplem Genie um die üblichen Ecken herumgedacht. Es ist Musik, die schlicht darauf bestanden haben muss, endlich gemacht zu werden. ... Das gesamte Werk von Sault, dokumentiert auf mittlerweile elf Alben in drei Jahren, ist zwar von einer oft unerbittlichen Gegenwärtigkeit geprägt, unter anderem durch eingestreute Redeausschnitte. Zugleich scheint es aber immer auch den Anspruch zu haben, die Erfahrungs- und Erinnerungswelten der schwarzen Community so umfassend wie möglich abzubilden, musikalisch und als artikulierte Botschaft." Die fünf verschenkten, derzeit offiziell nicht greifbaren, aber in den nächsten Monaten auch regulär veröffentlichten Alben wurden teils auch auf Youtube hochgeladen. Hier eines davon:



Weitere Artikel: Für die FAS spricht Christian Riethmüller mit der Jazzsängerin Melody Gardot. Andrian Kreye schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Punkmusiker Keith Levene. Nachrufe auf den Popmusiker und -kritiker Kristof Schreuf schreiben Frank Spilker (ZeitOnline), Angela Richter (Welt) und Diedrich Diederichsen (SZ, weitere Nachrufe bereits hier). In der FAZ gratuliert David Geringas der Cellistin Natalia Gutman zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden ein Konzert von Mykki Blanco in Frankfurt (FR), das neue Album des Michael Wollny Trios (FAS, FAZ) und CEO Trayles Hiphop-Album "HH5", das Pitchfork-Kritiker Alphonse Pierre in höchsten Tönen lobt.

Archiv: Musik