Efeu - Die Kulturrundschau

Wir sprachen alle leise

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.11.2022. Die taz bewundert im Victoria and Albert Museum den Glamour afrikanischer Mode. In der Welt erzählt der Theaterkünstler Achim Freyer, was er von Brecht lernte. Die Berliner Zeitung erkennt mit Alfred Ehrhardt die genialen Schöpfungen der Natur. Die taz betrachtet mit Katie Mitchell am Hamburger Schauspielhaus die Schönheit des Kirschgartens. Und natürlich hat Axel Brüggemann in seinem Crescendo noch ein paar Fragen an Teodor Currentzis, zum Beispiel: Wer zahlt die zweite Hälfte des Utopia-Budgets?
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.11.2022 finden Sie hier

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In der großen Ausstellung "Africa Fashion" im Victoria & Albert Museum zeigt sich, "wie die radikale soziale und politische Neuordnung nach der Unabhängigkeit auf dem afrikanischen Kontinent eine kulturelle Renaissance ohnegleichen auslöste", berichtet eine staunende Renata Stih in der taz. Die modehistorische Schau führt von der Welle der Dekolonisierung in den Sechzigern bis heute. "Fotos von Frauen in langen, schmalen Kleidern aus gemusterten, grell bunten Stoffen, die auf Vespas ihre Stadt erobern, verkörpern diesen emanzipatorischen Aufbruch in die Moderne aufs Beste und sie unterscheiden sich deutlich von Europäerinnen in diskret grauen Dior-Kostümen. ... Der Porträtfotografie ist ein eigener Bereich gewidmet, die den Wandel der Menschen in ihrem Lebensraum begleitet und mit der Entwicklung kostengünstiger Filme und Kameras auch möglich wurde. Zu den Highlights dieser Sektion gehören die Studioaufnahmen von Sanlé Sory, Michel Papami Kameni und Rachidi Bissiriou: Die Fotos dokumentieren das Modebewusstsein des Einzelnen, den Willen zur Selbstdarstellung und den Stolz, schwarz und afrikanisch zu sein."

Handschuhe mit Umschlagstulpen, Fa. Maurice Vallet, Paris, Frankreich, 1910/20er-Jahre © Deutsches Ledermuseum, M. Url


Zugegeben, mit solchem geballtem Glam mag die aktuelle Ausstellung im Deutschen Leder-Museum in Offenbach nicht ganz mithalten können. Aber die dort gezeigte Ausstellung über Handschuhe hat auch ihre ganz eigenen Reize, wenn man tazlerin Katharina J. Cichosch glauben darf: Nicht nur "Designerexemplare, die garantiert gar nicht warmhalten", gibt es dort zu sehen, "nicht nur weitere Modelle von Chanel, Hermès, Maison Margiela oder Prada, sondern außerdem cremeweiße Lederhandschuhe mit Seidenrips und Tambourstickerei, prunkvolle Pontifikalhandschuhe aus dem 18. Jahrhundert mit Metallstickerei und Pailletten darauf, gestreifte Fäustlinge aus dem Pelz des Karibu, die Indigene um 1940 herum in den Northwestern Territories anfertigten, Panzerhandschuhe einer echten Ritterrüstung, ein zitronengelb eingefärbter Muff des Kürschners Hans Schwarz oder die Halbfingerhandschuhe 'Tribute to Karl' von Roeckl mit Nappaleder und Metallkettchen, wie sie Karl Lagerfeld selbst gern trug. ...  Herrlich auch die erfolglosen (die Tamponentfernungshandschuhe Pinky Gloves) oder jetzt hoffnungslos historischen Beispiele (wird Nintendo heute nicht mit dem terminatoresken POWER GLOVE, sondern wieder unspektakulär mit Controller gespielt)."
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Bühne

Die Schönheit des Kirschgartens. Foto: Stephen Cummiskey / Schauspielhaus 

Katie Mitchell
erzählt am Hamburger Schauspielhaus Tschechows "Kirschgarten" aus Sicht der Bäume, die gefällt werden sollen. Die Personen Ranjewskaja, Lopachim, Varja und Co. sind in die Nebenrolle verschoben. In der taz bewundert Katrin Ullmann die feine Perfektion dieser Inszenierung: "Oberhalb der beiden Glaskästen, auf einer dreigeteilten Projektionsfläche, wechseln Fuchs und Hase, Biene und Eule, Sonne und Mond einander ab. Feiern Grant Gree (Video Director) und Ellie Thompson (Videodesign) die Schönheit des Kirschgartens und damit der Natur. Führen in höchst eindrucksvollen Nahaufnahmen durch die vier Jahreszeiten, porträtieren wippende Amseln auf blühenden Kirschbaumzweigen, surrende Bienen an roten, prallen Früchten, zeigen faulende Kirschen im Gras und Eichhörnchen auf kahlen, froststarren Zweigen. Die Darsteller*innen erschaffen jeweils die Geräusche dazu. Bald wirkt das Ganze gerade so, als wohne man einer Hörspielaufzeichnung mit Livevideo bei, deren Soundtrack das Streichquartett mit treibenden, atonalen Kompositionen liefert. Diese filmisch-musikalischen Eloge an die Natur ist mehr Installation als anbindendes Theatererlebnis."

Im Welt-Interview mit Jakob Hayner erzählt der Theaterkünstler Achim Freyer, der gerade in Düsseldorf mit dem Faustpreis für sein Lebenswerk ausgezeichnet wurde, von seiner Zeit als Meisterschüler bei Bertolt Brecht: "Ich habe alles gelernt von Brecht. Das war der erste Mensch, mit dem man über die Fragen sprechen konnte, die einen bewegten, ob Malerei oder Literatur. Ich hatte Fragen, die ich allein nicht lösen konnte. Im Studium wurde akribisches Zeichnen gelehrt. Und dass der Impressionismus westliche Dekadenz sei, die Zersetzung des Menschen und des Körpers. Nur Picasso wurde respektiert, weil er die Friedenstaube gemacht hatte. Es war eine große Flucht, die ich vor diesem Studium und seinen Lehren antrat. Ich hatte eine Aufführung im Berliner Ensemble gesehen, mit Ekkehard Schall in 'Mutter Courage und ihre Kinder'. Als seine Figur, er spielte den Eilif, sprach er genau so tonlos und schlecht wie ich. Wir sprachen alle leise in der DDR. Wenn man etwas Kluges sagte, hörte das womöglich noch jemand, das war gefährlich. Heiner Müller sprach auch leise. Er schaute aus dem Fenster, ob ein Abhörwagen auf der Straße stand."

Weiteres: In der SZ sammelt Dorion Weickmann Stimmen zum Streit zwischen John Neumeier und dem Königlichen Ballett Kopenhagen, die Neumeier gegen Rassismus-Vorwürfe in Schutz nehmen. Im Interview mit dem Standard muss Volksopernchefin Lotte de Beer zugeben, dass es für sie einfach gut läuft in Wien. Außerdem meldet der Standard unter Verweis auf APA, dass sich Gregor Bloéb als neuer Intendant der Tiroler Volksschauspiele im Widerstand gegen die "spießige" und "faschistoide" Wokeness sieht.

Besprochen werden Johan Simons' Inszenierung von Dostojewskis Roman "Dämonen" am Wiener Burgtheater (SZ), Herbert Fritschs Fassung von Wagners "Fliegendem Holländer" an der Komischen Oper ("schrill" findet ihn die taz, "albern" die FAZ), Edward Clugs Fassung von Tschaikowskys "Nussknacker" in Suttgart (FAZ, Welt), Alexander Nerlich Bühnenfassung von Tolstois Romans "Anna Karenina" in Mainz (FR).
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Film

Das Recht der Frauen auf ihren Körper: "Call Jane"

Gerade jetzt, da in den USA dem Recht auf Abtreibung immer mehr Steine in den Weg gelegt werden, tut ein Film wie Phyllis Nagys "Call Jane" not, findet Christiane Peitz im Tagesspiegel. Der Film zeigt den Kampf der Frauen, die in den Sechzigern das Recht auf Abtreibung überhaupt erst erstritten haben. Aber anders als andere Filme zum Thema Abtreibung liegt der "Fokus nicht auf der Einsamkeit, der Gefährdung und Verzweiflung betroffener Frauen. Sondern auf der Solidargemeinschaft der denkbar unterschiedlichen Aktivistinnen, zu denen auch eine Nonne gehört. Die Rolle und die Macht der Kirche bei der Abtreibungsfrage wird gleichwohl nicht thematisiert. ... So verquer es klingen mag: Phyllis Nagy hat ein Feel-Good-Movie mit gehörigem human touch über ein kompliziertes, lange tabuisiertes Sujet gedreht." Doch "das macht nichts. Es kann gar nicht genug Publikumsfilme geben, gar nicht genug Popularität für das unverbrüchliche Recht der Frauen auf ihren Körper."

Besprochen werden Emily Atefs "Mehr denn je" mit Vicky Krieps (Zeit), Tim Burtons Serie "Wednesday" (TA) und die Serie "The Bear" (54books).
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Kunst

Alfred Ehrhardt: Spiel der Spiralen, 1951

In der Berliner Zeitung gratuliert Ingeborg Ruthe der Alfred-Ehrhardt-Stiftung, die seit zwanzig Jahren in ihren intimen Räumen in Mitte das Werk des Bauhaus-Fotografen und Naturfilmers zeigt: "Unvergleichlich sind seine Filme in Science-Fiction-Ästhetik, die mit dramatischer, auch mal fröhlicher Musik unterlegt sind und in denen Pflanzen, Blüten, Blätter, Korallen, Muscheln, Schnecken, Fische zu Hauptdarstellern werden. Ehrhardt macht uns Betrachtern einzigartige Formungen der Natur bewusst, deren Nachahmung durch Künstler ja doch immer nur epigonal sein kann. Der Fotograf und Filmer lehrt uns somit auch Hochachtung und Demut vor der Natur und ihren genialen Schöpfungen in Fauna und Flora. Und selten erlebt man eine derartige Schönheit und Lebendigkeit in Motiven von Spiralen, von Kristallen und Mineralien. Ehrhardt beweist, dass auch anorganische Materie nicht einfach tot, sondern ein recht lebendiges Element im Kontext zum Organischen ist."
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Literatur

Auf ZeitOnline erinnert sich Michael Krüger an Hans Magnus Enzensberger. In der Welt erinnert Marc Reichwein an Enzensberges Zeitschriftenprojekt TransAtlantik. Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw.

Besprochen werden unter anderem Roland Barthes' "Proust" (Tsp), Gün Tanks "Die Optimistinnen. Roman unserer Mütter" (SZ), Jeremy Adlers "Goethe. Die Erfindung der Moderne" (NZZ), Mariam Kühsel-Hussainis "Emil" (SZ), Benjamin von Wyls "In einer einzigen Welt" (ZeitOnline), Dinçer Güçyeters "Unser Deutschlandmärchen" (Intellectures), Norris von Schirachs "Beutezeit" (Dlf Kultur), Arnold Stadlers "Mein Leben mit Mark. Unterwegs in der Welt des Malers Mark Tobey" (FR),  und der von Ingrid Sonntag und Marie-Luise Flammersfeld herausgegebene Band "Einem Stern folgen, nur dieses..." über den Verleger Egon Ammann (FAZ).
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Musik

In seinem Crescendo-Newsletter rekapituliert Axel Brüggemann den Trubel rund um seine Recherchen zu den skandalösen Social-Media-Umtrieb einiger Ensemblemitglieder von Teodor Currentzis' MusicAeterna. "Europas Intendanten haben lange unterschätzt, dass Orchester und Chor, geleitet von einem Vorstand aus Zentralbankchefin, VTB-Vorstand und St.-Petersburg-Gouverneur, längst ein Propaganda-Orchester ist und dass Currentzis' Schweigen Methode hat. Es geht nicht um den Schutz seiner MusikerInnen, sondern er pflegt bewusst Putins Indifferenz in der Kultur." Doch "spätestens nach den aktuellen Vorfällen, nach der Beschimpfung von demokratischem Journalismus als 'faschistisch', müsste auch Currentzis als Chef des Orchesters seine Stimme erheben. Doch er schweigt selbst auf Anfrage von Deutschlandfunk oder DPA. Dass musicAeterna nun durch das von Red Bull teilfinanzierte Utopia ersetzt wird, erinnert an den Wechsel von Raider zu Twix. Dass Hinterhäuser oder der SWR weiter an Currentzis festhalten, bedeutet: Bei jedem seiner Konzerte reist die Unsicherheit mit, werden neue Fragen gestellt werden, werden Nachforschungen nötig sein. Fragen wie: Warum berichtet der SWR als Nachrichtensender nicht über die Causa Currentzis? Wer zahlt die zweite Hälfte des Utopia-Budgets? Wie abhängig ist Currentzis von Putins Geld (oder anderen Vorteilen) in Russland?"

Das Diabelli-Projekt von Rudolf Buchbinder stößt bei NZZ-Kritiker Christian Wildhagen auf sehr interessierte Ohren: In Anlehnung an Beethovens Diabelli-Variationen hat der Pianist zahlreiche Kollegen aus aller Welt darum gebeten, ihrerseits Variationen großer Werke zu komponieren. "Seine Komponistenriege ist international und umfasst mit Tan Dun und Toshio Hosokawa auch zwei Künstler mit deutlich hörbaren Wurzeln im fernöstlichen Denken - und mit Lera Auerbach wenigstens auch eine Komponistin. Auerbachs wild und dämonisch ausgreifender 'Diabellical Waltz' ist mit seiner Anlehnung an den Klavierstil von Rachmaninow und Skrjabin zugleich die überzeugendste Fortschreibung der klassisch-romantischen Tradition. Andere brechen damit bewusst, etwa Christian Jost in seiner Variation mit dem einschlägigen Titel 'Rock it, Rudi!' oder Max Richter mit einer schlichten Tonleiter-Studie, die ins Meditative spielt."

Außerdem: Rüdiger Schaper schmunzelt im Tagesspiegel darüber, dass die angeblich handsignierte und für sündhaft teures Geld verkaufte Sonderausgabe von Bob Dylans "Die Philosophie des modernen Songs" von einer Signiermaschine veredelt wurde, was dem sonst so schweigsamen Meister nun tatsächlich eine öffentliche Entschuldigung abgerungen hat. Ebenfalls zum Schmunzeln findet Cornelius Pollmer in der SZ den eher nach hinten losgegangenen Protest der "Letzten Generation" in der Elbphilharmonie: Die an einem Geländer festgeklebten Aktivisten wurden einfach in den Backstage-Bereich verfrachtet, nachdem sich herausgestellt hatte, dass die betreffende Vorrichtung sich schneller austauschen ließ als die Aktivisten davon loszubringen. In der SZ plaudert Joachim Hentschel mit Hardrock-Mastermind Gene Simmons von Kiss unter anderem über das Geheimnis des Erfolgs von Kiss. In der FAZ gratuliert Wolfgang Sandner dem Jazz-Posaunisten Günter Christmann zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden das neue Album von Stormzy (ZeitOnline), ein Auftritt von Little Simz (FAZ), ein von Jakub Hrůša dirigiertes Lutoslawski-Konzert der Wiener Philharmoniker (Standard), ein Konzert des russischen Nachwuchspianisten Alexander Malofeev (Standard), ein Auftritt von Roland Kaiser (Presse) und neue Popveröffentlichungen, darunter das neue Album von A-ha ("die immerjunge Stimme von Morten Hakert hält", muss Standard-Kritiker Christian Schachinger anerkennen).

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