Efeu - Die Kulturrundschau

Der letzte Skandal

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23.01.2023. Die taz fragt, was aus dem einstigen Dschihadisten und zu unrecht inhaftierten Guantanamo-Häftling Mohamedou Ould Slahi Houbeini einen guten Leiter für das African Book Festival machen könnte. In der SZ erklärt Marie Creutzer, warum sie nicht bereit ist, sich von Florian Teichtmeister ihren Film ruinieren zu lassen. SZ und FAZ setzt sich auf dem Berliner UltraSchall-Festival stürmischen Klangexperimenten aus. Und die FAZ tröstet sich mit dem letzten Skandal, der einer politischen Kunst noch bleibt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.01.2023 finden Sie hier

Literatur

Bahnt sich beim African Book Festival in Berlin ein handfester Skandal an? Dessen Kurator ist in diesem Jahr Mohamedou Ould Slahi Houbeini, schreibt Andreas Fanizadeh in der taz: Houbeini war in den Neunzigern Mitglied der Terrorgruppe al-Qaida in Afghanistan, soll in mehrere Anschläge verwickelt und auch mit den Attentätern von 9/11 bekannt gewesen sein. 14 Jahre lang saß er zumindest im Hinblick auf 9/11 wohl zu Unrecht in Guantanamo - über seine Erfahrungen hat er ein verfilmtes Buch geschrieben. "So bewegend Slahi Houbeinis Geschichte als Opfer einer nicht rechtsstaatlich orientierten Anti-Terror-Justiz der USA ist, so unklar bleibt seine Rolle als islamistischer Täter in Afghanistan oder anderswo. Auch das African Book Festival blendet die Frage nach Slahi Houbeinis eigener historischer Haltung völlig aus. Es präsentiert den früheren Al-Qaida-Kämpfer ausschließlich als Opfer westlicher Justiz. Und preist seine Schriften als 'Mittel der Revanche gegen Zensur und Unterdrückung'. Kaum vorstellbar, dass dies die von Islamisten Unterdrückten in Iran oder Afghanistan mit einschließen wird."

Weitere Artikel: Sergei Gerasimow setzt hier und dort in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Marc Reichwein erzählt in den "Actionszenen der Weltliteratur" wie Kurt Tucholsky mitten in der Hyperinflation zum Bank-Azubi umsattelte. Und Ernst Jünger reiste einmal einem Kometen hinterher, weiß Jan Küveler in der Welt. Der Standard bringt einen Vorabdruck aus Ljudmila Ulitzkajas Buch "Die Erinnerung nicht vergessen". Die neue Trophäe, die mit dem Booker-Prize verliehen wird, sucht einen Namen, kommentiert Harry Nutt in der Berliner Zeitung - Berliner würden sie wohl "Goldelse" nennen, meint er. In der FAZ gratuliert Andreas Platthaus der Schriftstellerin Christina Viragh zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem eine Ausstellung über Ingeborg Bachmann im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek (online nachgereicht von der NZZ), Ottessa Moshfeghs "Lapvona" (FAS), Michael Köhlmeiers "Frankie" (FR), Hendrik Otrembas "Benito" (taz), Andrea Tompas "Omertà. Buch des Schweigens" (NZZ), Simon Strauß' Novelle "zu zweit" (Zeit), David Edmonds' "Die Ermordung des Professor Schlick. Der Wiener Kreis und die dunklen Jahre der Philosophie" (Standard), Andrei S. Markovits' Autobiografie "Der Pass mein Zuhause" (Standard), Naoya Matsumotos Monster-Manga "Kaiju No.8" (Tsp) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Reto Crameris' Bilderbuch "Alula - Garten / Urwald" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Rüdiger Görner über August Stramms "Wiedersehen":

"Dein Schreiten bebt
In Schauen stirbt der Blick ..."
Archiv: Literatur

Film

Wie geht es weiter mit "Corsage", Marie Kreutzers Sisi-Film (unsere Kritik), in dem Florian Teichtmeister in einer Nebenrolle mitspielt. Teichtmeister hat sich schuldig bekannt, in rauen Mengen kinderpornografisches Material besessen zu haben. Gerüchten zufolge soll dies in der Filmbranche seit langem bekannt gewesen sein. Sie selbst habe von diesen, von Teichtmeister zunächst dementierten Vorwürfen aber erst nach dem Dreh erfahren, beteuert die Regisseurin im SZ-Gespräch. Zurückziehen will sie den klar feministischen Film nicht: "Er ist nicht der Produzent des Films, nicht der Hauptdarsteller, nicht der Regisseur; Teichtmeister ist einer von mehreren 100 Mitarbeitern. Wir würden ihm eine ungeheure Macht geben, wenn wir sagen, man kann diesen Film nicht mehr sehen. Dazu bin ich nicht bereit ... In 'Corsage' stecken jahrelange Arbeit und viel Liebe von vielen Menschen. Deshalb tut es ja auch so weh, dass der Film immer mit diesen grauenvollen Taten behaftet sein wird."

Neuköllner Gangster-Märchen, hardboiled Style: "Asbest" (ARD)

In der ARD-Mediathek
ist die Berliner Gangster-Knast-Serie "Asbest" angelaufen. Fürs authentische Kolorit sorgt als Showrunner und Darsteller der allseits beliebte Kida Khodr Ramadan. Auch die deutschen Stars reichen sich hier die Gitterstäbe in die Hände. Um so etwas auf die Beine zu stellen, braucht es viel "Knastauthentizität", schreibt Oliver Jungen in der FAZ: "Raue Charaktere, rohe Sprache, gnadenlose Handlung. Dass die ARD auf diesem Feld reüssieren will, ist mutig, ihr Einsatz beachtlich." Hier gibt es "Revierkämpfe, Koks, Nutten, Familienehre, Rache, verschwitzte Männerbünde, Jagd auf eine goldene Uhr: Juri Sternburg und Katja Eichinger haben sich zwar von Gerhard Mewes' Knastkicker-Buch 'Fair Play mit Mördern' inspirieren lassen, aber dann doch ein Gangstermärchen im Neuköllner Hardboiled-Stil geschrieben." Die Serie "soll samt Begleitdokumentation und Making-of zum großen Aufschlag der ARD-Mediathek werden. Mehr als Mittelmaß erreicht sie trotz des Aufwands nicht." Zu sehen sind "massenhaft Klischees, eine unoriginelle Handlung und regelrecht alberne Szenen". Die Berliner Zeitung plaudert mit Showrunner Kida Khodr Ramadan, der sich auch zu Menschen äußert, zu denen er aufblickt: "Ein großes Vorbild ist Angela Merkel. Und dann noch Klaus Lemke, Manfred Krug, Klaus Kinski und Harald Juhnke. Das waren Männer mit Eiern."

Außerdem: Die iranischen Behörden wollen bis Freitag darüber beratschlagen, ob Jafar Panahi freigelassen wird, meldet unter anderem die Wiener Presse. David Pfeifer erzählt in der SZ den unwahrscheinlichen Erfolg von Daniel Kwans und Daniel Scheinerts "Everything Everywhere All At Once", der mit wenigen Kopien in die Kinos kam, einen Internethype auslöste und damit richtig Kasse machte - und nun im Streaming zu sehen ist. In seiner Zeit-Kolumne über Serien erinnert Matthias Kalle an "The Americans". Der Regisseur Florian Gallenberger schreibt in der Welt zum Tod der Casterin Simone Bär.

Besprochen werden Damien Chazelles "Babylon" (critic.de, unsere Kritik), Volker Sattels und Francesca Bertins "Tara" (Tsp), Park Chan-wooks "Decision to Leave" (NZZ),
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Kunst

In der FAZ nimmt Patrick Bahners das Gutachten des Verfassungsrechtlers Christoph Möllers unter die Lupe (unsere Resümees), das zwar der Documenta-Leitung Fehler der politischen Aufsicht vorwarf, aber eigentlich auch antisemitische und rassistische Werke von der Kunstfreiheit gedeckt sieht - dies sei der "freiheitliche Skandal der grundgesetzlichen Ordnung". Bahners: "Nachdem Möllers geduldig demonstriert hat, dass sich auch größte moralische Geschmacksfragen juristisch klein arbeiten lassen, frappiert die pathetische Wortwahl. Der freiheitliche Skandal der grundgesetzlichen Ordnung: Das erinnert an die von Möllers unlängst mit dem milden Spott des Nachgeborenen bedachte Formel Ernst-Wolfgang Böckenfördes vom großen Wagnis, das der freiheitliche Staat um der Freiheit willen eingegangen sei. Möllers entnimmt seine Reizvokabel der Sphäre, die er im Gutachten traktiert hat: 'Skandal' ist ein Schlüsselwort der modernen Kunstpolitik. Schon vor der Documenta fifteen konnte man den Eindruck haben, dass die Kunst nur noch wenig hervorbringt, das aus künstlerischen Gründen für einen Skandal gut ist. Vielleicht tröstet es, dass im Zuge der Politisierung der Kunst die Skandalträchtigkeit auf die Spielregeln des Kunstbetriebs übergegangen ist und unter dem kühlen Blick des Rechtsmechanikers die Kunstfreiheit der letzte Skandal bleibt."

Besprochen werden die Ausstellung "Femme fatale" in der Hamburger Kunsthalle, die die Männerfantasie feministisch umdeuten möchte (FAZ) und Wim Wenders' Film- und Fotoarbeiten zu Edward Hopper in der Galerie Bastian in Berlin (Tsp).
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Bühne

Sozialrevolutionäre oder Wutbüprger? Büchners "Leonce und Lena". Foto: Arno Declair

Wenn Ulrich Rasche Georg Büchners "Leonce und Lena" am Deutschen Theater in Berlin inszeniert, dann natürlich nicht als ironisch-romantische Komödie, sondern als Aufmarsch von Höllengeburten, die dem Publikum Kriegserklärungen einprügeln, stöhnt Peter Laudenbach in der SZ: "Was klingt wie aktuelle Wutbürger-Ausbrüche gegen angebliche 'Volksverräter' in den Parlamenten, stammt aus Büchners Vormärz-Kampfschrift 'Der Hessische Landbote', einem revolutionären Manifest gegen die Herrschaft der Fürsten. Dass Büchners Parolen mit gleichem Aggressionspotenzial, in zeitgenössischer Lesart aber mit exakt umgekehrtem politischem Vorzeichen unselige Wirkung entfalten, ist die erste Irritation, die Rasches Inszenierung bereithält. Allerdings verweist sie auch auf das grundlegende Problem seines archaischen Theaters, dem es immer um Konfliktmuster und nie um historische Genauigkeit geht: So wird aus einem demokratischen Manifest eine antidemokratische Wutbürger-Parole, Hauptsache heftig. Die frei flottierende Hassenergie ist in Rasches Theater für jede politische Codierung nutzbar."

In der FAZ sah Kevin Hanschke dagegen drei Stunden welterschütterndes Theater: "'Das Leben der Vornehmen ist ein langer Sonntag', schreit der Chor. 'Das Volk aber liegt vor ihnen wie Dünger auf dem Acker.' Unwiderstehlich inszeniert Rasche den Zynismus, die Langeweile und den Hedonismus des Adels und die gleichzeitige Hoffnungslosigkeit der Bauern, die einfach nicht erlöst werden." In der taz sieht Katharina Granzin auch die Stärken der Inszenierung, warnt aber: "Diese Ensembleszenen, und darin liegt die größte Herausforderung bei der Rezeption dieses Theaterabends, pflegen sich klanglich aufzubauen wie ein akustischer Tsunami. Immer wieder wird es unerträglich laut. Die Inszenierung wird musikalisch live begleitet von vier MusikerInnen, deren elektronische Sounds den Puls des Geschehens bilden. In jenen Momenten, da die Menschen auf der Bühne sich als skandierender, marschierender Chor zusammengefunden haben, steigern sich Sprache und Musik zu einem trommelfellzerfetzenden Inferno."

Weiteres: Die Theater sind wieder voll, verkünden Christine Lutz und Egbert Tholl in der SZ, erleichtert nach den schweren Corona-Knick: "Und was läuft in den Häusern, wo es jetzt wieder besser läuft? Klassiker, Romanadaptionen, Familienstücke." In der FAZ gratuliert Marc Zitzmann dem Pariser Opernintendanten Stéphane Lissner zum Siebzigsten.

Besprochen werden Yana Ross' Inszenierung von Tschechows "Iwanows" am Berliner Ensemble (dessen Aktualisierung Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung allerdings ziemlich platt geraten ist, auch Nachtkritiker Christian Rakow vermisste Tiefe), Christoph Mehlers Inszenierung von Friedrich Wolfs DDR-Klassiker "Professor Mamlock" am Staatstheater Braunschweig (Nachtkritik), der Karnevalsspaß "Life is but a dream" am Schauspiel Frankfurt (FR), Philipp Stölzls Inszenierung von Finnegan Kruckemeyers Stück "Der lange Schlaf" am Schauspielhaus Hamburg (taz), Saar Magals Tanz-Theater-Stück "10 Odd Emotions" im Schauspiel Frankfurt (FR), Julie Cunninghams Choreografie "How did we get here?" mit Spice Girl Mel C in London (FAZ) und das neue Jugendstück des Berliner Gripstheaters mit dem hübschen Titel "Zum Glück viel Geburtstag" (Tsp).
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Musik

FAZ-Kritiker Gerald Felber fragt sich nach dem Berliner UltraSchall-Festival ob es bei den zahlreichen Frequenz- und Klangexperimenten, die hier zu hören waren, "der Sturm der Erneuerung war, der einem da durch Hirn und Sinne pfiff, oder doch eher der schweflige Abwind eines sich unter Sauerstoffentzug selbst verdauenden und auflösenden Systems. ... Neben der elektronischen Hybridisierung der naturerzeugten Klänge erscheinen momentan Joghurtbecher und -gläser besonders en vogue; es begegneten aber, nebst alten Bekannten wie Blechbüchsen und Folien, auch Wäscheklammern, Zahnbürsten oder schwingend sirrende Streifen, die bei Streichinstrumenten zwischen Steg und Saiten geklemmt wurden. Spieltechniken 'zweiter Ordnung' - Überblas- und Flageoletttöne, das Klopfen auf dem Korpus, stumm gedrückte Klaviertasten und vor allem die hoch beliebten und in der Summe des Festivals wahrscheinlich zu einem eigenen Stück synthetisierbaren Glissandi - stellten die konventionelle Tonerzeugung bisweilen in den toten Winkel." Auf der Festivalwebsite lassen sich viele Konzerte nachhören.

Bei den Klangexperimenten auf dem neuen Album des Trios der Saxofonistin Mette Henriette verspürt SZ-Kritiker Andrian Kreye hingegen ein angenehmes Kribbeln auf der Kopfhaut: ASMR (sie wissen schon: diese Entspannungsvideos auf Youtube) ist das Stichwort, mit dem er das Album beschreibt. "Das ist Musik, die manchmal mit so viel Behutsamkeit daherkommt, dass man sich dabei ertappt, das Ohr ganz nahe an den Lautsprecher zu legen, um zu hören, was da noch haucht und klingt und streicht. Und es ist Musik, die genau die Auslöser der ASMR bedient. Ein Luftstrahl zwischen Schilf und Kautschuk. Geharztes Rosshaar auf Silberdraht. Filzhämmer auf Stahl. Die Klänge und Intervalle, die das Trio schichtet und verschachtelt, werden von einer Geometrie der reinen Harmonie bestimmt." Damit reiht sich Henriette ein in eine Erneuerungsbewegung im Jazz, die gerade im "watteweichen Stil" ihr Glück suchen, schreibt Kreye. Ausschnitte aus allen Stücken kann man sich beim Label ECM Records anhören.



Weitere Artikel: Jens Uthoff stellt in der taz die Initiative Save Kabul Musicians vor, die sich gegenüber der Bundesregierung für die Rettung afghanische Musiker einsetzt, die sich noch zu Tausenden in dem von den Taliban besetzten Land aufhalten. Miriam Damev und Ljubiša Tošic hören sich für den Standard in der Klassik- und Opernszene um, ob und wie diese ihren Gender-Gap aus der Welt schaffen will. Man muss mit "wachem Blick ... Tschaikowsky dem Kriegstreiber Putin entreißen", kommentiert Christiane Peitz im Tagesspiegel zur Gretchenfrage nach dem Boykott russischer Kunst.

Besprochen werden der Auftakt des Berliner Ultraschall-Festivals (taz, hier zum Nachhören), Måneskins neues Album "Rush!" (Standard), ein Konzert von Manuel Walser in Berlin (Tsp), ein Auftritt von Loyle Carner in Berlin (Tsp) und Mellies Debütalbum "I Have Ideas, Too" ("inmitten einer weitläufigen und höchst produktiven Indie-Szene eine der stärksten Platten der letzten Zeit", findet Luca Glenzer in der Jungle World).

Archiv: Musik