Efeu - Die Kulturrundschau

Ironie, Blödsinn oder Ernst?

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20.03.2023. Größtes Opernglück erlebt die SZ in Paris mit Francis Poulencs schräger Minioper "Les Mamelles de Tirésias" und Sängergroßmeisterin Sabine Devieilhe. Tagesspiegel und FR baden an der Deutschen Oper in Berlin im Schlagsahnenklang von Richard Strauss' "Arabella". In der NZZ beschreibt Konstantin Akinsha, wie in Russlands Kunstbetrieb die Zensur durchgesetzt wird. In der FAS erzählt die Schriftstellerin Tsitsi Dangarembga, wie Simbabwes Obrigkeiten sie einzuschüchtern versuchen. Die taz huldigt dem DIY-Ethos der japanischen Punk-Musikerin Phew.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.03.2023 finden Sie hier

Bühne


Arabella in der Deutschen Oper Berlin. Bild: Thomas Aurin.


Auch wenn für Udo Badelt im Tagesspiegel einige Fragen zur Strauss-Oper "Arabella" offenbleiben, lobt er die Bemühungen des Regisseurs Tobias Kratzer, "dreieinhalb Stunden mit üppig blühendem Strauss-Sound" auf die Bühne der Deutschen Oper zu bringen, "mit einem Schlagsahnenklang, der bei allen Kalorien eine gewisse Schlankheit bewahrt, der nicht alles zuckrig zukleistert. So eine Balance ist beim späten Richard Strauss gar nicht so einfach zu finden." In dem Vexierspiel um Liebe, Geschlecht und Rollenbilder "fangen die Geschlechtsidentitäten an zu erodieren wie Sandskulpturen während eines Gewitterschauers", was allerdings nicht allen im Publikum gefällt. Es gibt Buhrufe, lesen wir. In der SZ ist Helmut Mauró zwiegespalten: Einerseits erscheint ihm die Regie einfallslos und zu pathetisch. Doch dann blitzt ein "Gender-Rührstück vom Feinsten" auf, "das zeigt, wie menschlich es zugehen kann, bevor das Spielerische in Ideologie aushärtet". FR-Kritikerin Judith von Sternburg lernt: "Ironiefreies, aber gutgelauntes Liebesglück ist möglich."

Sabine Devieilhe in "Les Mamelles de Tirésias". Foto: Vincent Pontet

Beglückt zieht SZ-Kritiker Reinhard Brembeck durch die Pariser Opernhäuser. Gar nicht fassen kann er, was ihm das Pariser Théâtre des Champs-Élysées präsentiert: die schräge Kurzoper "Les Mamelles de Tirésias" von Francis Poulenc und Guillaume Apollinaire, in der die Frage geklärt werden soll, ob Frauen oder Männer mehr Spaß am Sex haben: "Diese Minioper ist hinreißend, überwältigend, doppelbödig, rasant. Warum wird sie so gut wie nie gespielt? Vielleicht, weil es dafür eine Sängergroßmeisterin wie Sabine Devieilhe braucht, aber die gibt es eben weltweit nur einmal. Es braucht auch ein genauso geniales männliches Gegenstück, im Text schlicht 'mari' (Ehemann) genannt. Jean-Sébastian Bou sing-albert hinreißend den 'mari', der, von Thérèse verlassen, komisch wutentbrannt zur Frau wird und als Mutter an einem Tag 40 049 Kinder gebärt. Die ihn, Marketing ist alles, im Gegensatz zu allen anderen kinderreichen Existenzen, reich machen. Kein Wunder, dass der im Stück und erst recht im Finale zu hörende Aufruf an die Franzosen 'faites des enfants', macht Kinder, penetrant wiederholt wird. Ist das Ironie, Blödsinn oder Ernst?"

Szene aus Johnsons "Jahrestagen". Foto © Rolf Arnold


Fünfzig Jahre nach dem Erscheinen des ersten Bandes kommen Uwe Johnsons monumentale "Jahrestage" in einer Inszenierung von Anna-Sophie Mahler im Schauspiel Lepizig zum ersten Mal auf die Bühne: Andreas Platthaus zeigt sich in der FAZ nicht ganz einverstanden mit der Praxis, das Leben Gesine Cresspahls im Jahr 1967 mit Beatles-Musik zu unterlegen. So "bekommt Johnsons Roman in Leipzig den Charakter eines Thesenbuchs verliehen, während seine literarische Bedeutung doch darin liegt, die Gemeinsamkeiten repressiver Strukturen in den unterschiedlichen ideologischen Systemen erzählerisch vermittelt zu haben. Das leistet Mahlers Inszenierung gerade nicht, und eine Nummernrevue ist auch kein Montagekunstwerk à la Johnson." Auch Nachtkritiker Matthias Schmidt befällt das Gefühl, "als habe bereits das Eindampfen des enormen Stoffes so viel Energie gekostet, dass keine Kraft mehr blieb, den Johnson-Sound herauszuarbeiten".

Besprochen werden außerdem Andrea Breths Theatercollage "Ich hab die Nacht geträumet" am Berliner Ensemble (taz) und das Anatomiestück "Katharsis" des Regie-Duos Dead Centre im Wiener Akademietheater (Standard)
Archiv: Bühne

Kunst

Der ukrainisch-amerikanische Kunsthistoriker Konstantin Akinsha, der in Madrid die Aufsehen erregende Ausstellung "Im Auge des Sturms" über den ukrainischen Modernismus kuratiert hat, beschreibt in der NZZ, wie Russland seinen Kunstbetrieb säubert: "Im Juli 2022 gab das russische Kulturministerium den Museen die Anweisung, dass ihre Ausstellungen mit der 'Strategie der nationalen Sicherheit der Russischen Föderation' übereinstimmen müssten. In der Praxis bedeutete diese Regel die Wiedereinführung der Zensur. Die Museen wurden verpflichtet, Daten über die Teilnehmer von Ausstellungen zu liefern, einschließlich ihrer Biografien sowie Informationen über Auslandsreisen in den letzten drei Jahren. Außerdem mussten sie ihren Aktivitäten auf den sozialen Netzwerken nachgehen, um über die Einstellung der Künstler zum Krieg Klarheit zu erlangen."

Jenny Holzer, Protect me From What I Want, 1982. Installation über dem Times Square. Bild: Kunstsammlung Nordrhein Westfalen

Großartig findet Alexander Menden in der SZ die Arbeiten der amerikanischen Konzeptkünstlerin Jenny Holzer, der das K21 in Düsseldorf eine große Ausstellung widmet. Subtil und eindrücklich sei ihre durch und durch politische Kunst, in der sie die Jugoslawienkriege ebenso verarbeite wie den Irakkrieg: "Besonders gegenwartsrelevant ist die eigens für die Düsseldorfer Ausstellung entstandene LED-Wandarbeit 'Ukraine' (2023). Sie zeigt in Laufschrift Auszüge aus Berichten der Vereinten Nationen über Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen im russischen Angriffskrieg gegen das Nachbarland. Sie mischt Interviews mit zivilen Opfern und Augenzeugenberichte über Vergewaltigungen, Folter, Mord durch russische Soldaten mit persönlichen Statements ukrainischer Künstler und Autoren aus den ersten Monaten der Invasion.  Es ist politische Kunst, die Aufmerksamkeit verlangt, sie aber eben auch zu erregen vermag, weil sie sich oft der Mittel bedient, mit denen auch alle anderen Botschaften des Alltags an unseren Sinnen zerren."

Weiteres: SZ-Kritiker Reinhard Brembeck entnimmt der zu Ende gegangenen Max-Beckmann-Ausstellung der Münchner Pinakothek der Moderne die Vorzüge leichter Sprache.
Archiv: Kunst

Film

Lars Kraumes "Der vermessene Mensch"

Bei Lars Kraumes "Der vermessene Mensch", der für sich in Anspruch nimmt, als erster deutscher Film den Genozid an den Herero und Nama zu thematisieren und im Zuge dessen kürzlich auch im Bundestag gezeigt wurde (unser Resümee), muss Bert Rebhandl in der FAS sehr ächzen: Der Film erzählt doch wieder vor allem von einer weißen Figur, die schwer an der Bürde des Kolonialismus zu tragen hat - und Kraume gehe dabei bar jeder "Darstellungsskepsis" mit reiner Ausstattungsstrategie vor: "Das Kino, ein kapitalintensives Medium, ist bei Kraume ein Instrument der deutschen Selbstverständigung, und das heutige Namibia kann dazu beitragen, dass in den Kulissen alles so halbwegs stimmt. Dabei stimmt gerade an den Rändern der Bilder überhaupt nichts, und wenn man sich die Mühe macht, ab und zu vom Plot ein wenig wegzuschauen auf das, was insgesamt zu sehen ist, ist man sofort wieder in einem Menschenzoo, nur in einem halb aufgeklärten."

Im Gespräch mit der Berliner Zeitung beziehen der Regisseur und die namibische Schauspielerin Girley Jazama Stellung zu den (auch beim Screening im Bundestag laut gewordenen) Vorwürfen, der Film reproduziere Rassismus. Kraume findet "nicht, dass man Rassismus automatisch reproduziert, wenn man von Rassismus erzählt. Außerdem sollte ein historischer Film meiner Meinung nach der Zeit, in der er spielt, entsprechen. Wie soll man sonst den Rassismus zur Kolonialzeit erzählen?... Und ja, der Film reproduziert rassistische Ereignisse, aber damit verfolgt er den Zweck, einer großen Zuschauerschaft eine verdrängte Geschichte zu erzählen." Laut Jazama sei der Film in Namibia "gut aufgenommen worden. Das ist das erste Mal, dass die Menschen in den Dörfern einen visuellen Eindruck von der Geschichte bekommen, die sie sonst nur aus mündlicher Überlieferung kennen."

Weitere Artikel: Andreas Busche freut sich im Tagesspiegel, dass das Berliner Kino Arsenal in nahezu letzter Sekunde Sara Gómez' "De cierta manera" aus dem Jahr 1977 - "ein Meilenstein des postkolonialen und feministischen Kinos" - durch eine digitale Restaurierung vor dem Verschwinden gerettet hat. Christiane Peitz wirft für den Tagesspiegel einen Blick auf die Geschichte der Oscar-Dankesreden. In seiner Serienkolumne für die Zeit erinnert Matthias Kalle an den 80s-Klassiker "Miami Vice". Dass rund um die Oscars und generell im Film-Business fortlaufend Altersdiskriminierung angeprangert wird, hat mittlerweile selbst einen ziemlichen Bart, findet Peter Praschl in der Welt: Er sieht darin vor allem eine Boomer-Strategie, die eigene Position zu verteidigen.

Besprochen werden Hirokazu Kore-Edas "Broker" (Jungle World, unsere Kritik), die Serie "Tulsa King" mit Sylvester Stallone als Mafiaboss (BLZ) und Vasilis Katsoupis' "Inside" mit Willem Dafoe als in einem Luxusappartement um sein Überleben kämpfender Kunstdieb (FAZ).
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Literatur

Angela Schader hat für ihre "Vorworte"-Reihe im Perlentaucher den neuen Roman des britischen Autors Tom McCarthy gelesen, "Der Dreh von Inkarnation". Es geht tatsächlich um einen Science-Fiction-Film, "Inkarnation", eine Tristan-und-Isolde-Liebesgeschichte auf einem Raumschiff, das für den Film mit allen technischen Raffinessen nachgebaut wird, erzählt sie: "Wie der eingangs erwähnte Windkanal gehört das Seegangsbecken zu den Versuchsanlagen, die Inputs für die sachgerechte Gestaltung des großen Raumschiff-Fracas am Ende von 'Inkarnation' liefern sollen, denn der technische Berater des Filmteams verteidigt mit Biss und Witz den Primat der wissenschaftlichen Korrektheit gegen die Extravaganzen des Drehbuchs. Für die schwerelose Sex-Szene wiederum wird das Unternehmen Pantarey Motion Systems konsultiert, das auf Bewegungsstudien spezialisiert ist: Die Tätigkeit der Firma reicht von der medizinischen Forschung bis zum Sicherheitsbereich, vom Städtebau bis zur Rüstungsindustrie. Der erstgenannten Disziplin verdanken sich auch die im Motion-Capture-Verfahren hergestellten Aufnahmen eines kopulierenden Paars in allen möglichen und unmöglichen Positionen, aus denen dann die Filmszene konstruiert wird; entstanden sind sie ursprünglich im Blick auf die Entwicklung möglichst vielseitig belastbarer künstlicher Hüftgelenke."

Im Interview mit der FAS spricht die Friedenspreisträgerin Tsitsi Dangarembga über die Folgen des Urteils, das in ihrer simbabwischen Heimat über sie verhängt wurde, weil sie auf einer Demonstration das Schild "Für ein besseres Simbabwe" hochgehalten hat. Der (mit dem Zahlen einer moderaten Geldstrafe verbundene) Urteilsspruch war für sie zwar keine Überraschung, "aber ein Schock war es trotzdem. Es hat gedauert, ihn zu überwinden. Jetzt bin ich immer noch sauer, aber wieder die Alte und habe meine Energie zurück." Doch "falls ich ein ähnliches Vergehen in den nächsten fünf Jahren noch einmal begehe, komme ich automatisch ins Gefängnis. Aber die Frage ist: Was ist 'ähnlich'? Könnte mir ein Tweet so ausgelegt werden, dass ich die Menschen anstacheln wolle? Man weiß es nicht." Der Regierung geht es "immer auch darum, ein Signal an die Bevölkerung zu senden. Eine Festnahme ist das erste Signal, dass jemand schuldig sein muss. Und wenn du tatsächlich schuldig gesprochen wirst, denken die Menschen: Dann muss sie wirklich schuldig sein, sonst würde sie ja nicht verurteilt."

Weitere Artikel: Ilma Rakusa schreibt in der NZZ einen Nachruf auf die kroatische Schriftstellerin und mutige Kämpferin gegen nationalistische Verblendung Dubravka Ugrešić: Ihre Essays gehören zum Stärksten, was über das jugoslawische Kriegsdesaster und den nationalistischen Irrsinn geschrieben wurde." Sergei Gerasimow setzt hier und dort in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Für die NZZ spricht Nadine A. Brügger mit Megan Phelps-Roper, die sich aus der Hass-Kultur einer radikalen Christensekte emanzipiert hat und nun mit dem Podcast "The Witch Trial of J.K. Rowling" für Aufsehen sorgt (unser Resümee). Mit seiner "Bibliothek von Babel" hat Jorge Luis Borges K.I.-Apps wie ChatGPT im Grunde schon vorweggenommen, schreibt Jan Küveler in der Welt. In der "10 nach 8"-Reihe auf ZeitOnline erzählt die Schriftstellerin Antonia Baum von ihrer an eine Phobie grenzenden Angst, umgebracht zu werden. Der Standard spricht mit Bestseller-Autor Daniel Glattauer, der nach neun Jahren Pause mit "Die spürst du nicht" einen Roman veröffentlicht hat. Lothar Müller berichtet in der SZ von der Potsdamer Tagung der Karl-May-Stiftung zum Thema "Kulturelle Repräsentationen im Werk Karl Mays im Brennpunkt aktueller Diskurse" (hier die Abstracts als PDF). In der Welt erinnert Marko Martin an Ralph Giordano, der heute vor 100 Jahren geboren wurde.

Besprochen werden unter anderem Friedrich Christian Delius' Erinnerungsband "Darling, it's Dilius" (Standard), Michael Lentz' Gedichtband "Chora" (Standard), Liv Strömquists Comic "Astrologie" (Standard), Jeffrey Jerome Cohens Essay "'Stein'. Ökologie des Nichthumanen" (online nachgereicht von der FAZ), Percival Everetts Krimi "Die Bäume" (Freitag), Peter Stamms "In einer dunkelblauen Stunde" (Standard), Adam Silveras "More Happy Than Not" (online nachgereicht von der FAZ), und neue Hörbücher, darunter eine Lesung von J.R.R. Tolkiens "Der Untergang von Númenor und andere Geschichten aus dem Zweiten Zeitalter von Mittelerde" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Hans-Joachim Simm über Novalis' "Kenne dich selbst":

"Eins nur ist, was der Mensch zu allen Zeiten gesucht hat;
Überall, bald auf den Höhn, bald in dem Tiefsten der Welt -
Unter verschiedenen Namen ..."
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Musik

Für die taz porträtiert Stephanie Grimm die japanische Musikerin Phew, die man gut und gerne als Urgestein der japanischen Punk- und Underground-Szene bezeichnen kann. Eben wurde ihr 1992 in Köln gemeinsam mit Jaki Liebezeit von Can und Chrislo Haas (um 1980 kurzzeitig bei DAF) aufgenommenes Album "Our Likeness" wiederveröffentlicht. Anekdoten konnte Grimm der Musikerin allerdings kaum entlocken. "Die Gegenwart ihres Musikschaffens interessiert Phew mehr. Sie lebt inzwischen am Rande der Metropole Tokio und schwört auf den Spirit der Independentszene. Dass es in Japan kaum Unterstützung für experimentelle Musiker:innen gibt, sieht sie eher positiv. Auch im fünften Jahrzehnt ihres Musikschaffens feiert sie den DIY-Ethos von Punk, ohne Ermüdungserscheinungen." Auf dem eben wiederveröffentlichten Album "steht jeder Song für sich: der schleppende Groove von 'Depth of the Forehead', bei dem sie den schneidenden Drive der Gitarre mit dem Gesang bremst. Die klackerige Kakophonie von 'Our Element'. Der luftige Überschwang des Titelsongs." Für Pitchfork rezensierte Matthew Blackwell die Wiederveröffentlichung.



Außerdem: Daniel Ender wirft für den Standard einen kurzen Blick auf die Feierlichkeiten des Wiener Arnold Schönberg Centers zum 25-jährigen Bestehen. Für die SZ porträtiert Jakob Biazza die auf TikTok groß gewordene Sängerin Nina Chuba.

Besprochen werden das Album "Les Cadences du Monde" des Louis Sclavis Quartetts (FR), der Auftritt der Prinzen in Berlin (BLZ), das neue Album von U2 ("das Dokument einer Selbstüberschätzung", winkt Andrian Kreye in der SZ ab) und die Schubert-Aufnahmen des zwischenzeitlich verstorbenen Pianisten Lars Vogt (Welt).

Archiv: Musik