Efeu - Die Kulturrundschau

Aschenputtelbutterbrot

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04.02.2016. Die Sowjetunion lebt noch! Jedenfalls in der Sprache des russischen Autors Sergej Lebedew, dem Per Leo in der FAZ ein Ständchen bringt. Ulla Lenze lernt in Basra, dass auch konservative Frauen im Irak Entwicklungsspielräume fordern. Der Freitag begutachtet kopfschüttelnd neue deutsche Serien. Warum machen wir keinen Skandal, fragt sich der Filmemacher Christoph Hochhäusler in seinem Blog. Kein einziges 'klassisches' Repertoirestück figuriert unter den zehn 'bemerkenswerten' Aufführungen des diesjährigen Theatertreffens, notiert die NZZ.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.02.2016 finden Sie hier

Literatur

In einem schönen FAZ-Text berichtet der Schriftsteller Per Leo von der Faszination, die die Romane über die Sowjetunion und das Russland der neunziger Jahre des jungen Autors Sergej Lebedew auf ihn ausüben: "Lebedews Sprache hat wenig Tonlage. Sie gibt sich nicht lakonisch hart, ironisch verspielt oder episch präzise. Wenn sie trotzdem auffällig ist, dann weil sie zu Metaphern und Vergleichen neigt, zu Pathos und Dramatisierung, ja sogar zum Gebrauch von Adjektiven ... [Seinen Büchern fehlt] der Sicherheitsabstand des historischen Romans, der selbst in das schrecklichste Geschehen mit dem Versprechen lockt, dass all das ja längst vorbei sei. Lebedews Vergangenheit lebt. Er beschreibt sie nicht wie der Historiker seine Epoche oder der Pathologe eine Leiche. Er jagt sie."

Ziemlich unbehaglich, fremd und peinlich fehl am Platz fühlte sich die Schriftstellerin Ulla Lenze als einzige Deutsche auf einer Konferenz irakischer Schriftstellerinnen in Basra, den die im Irak lebende Journalistin Birgit Svensson organisiert hatte. Aber dann kommt es doch zu echten Erfahrungen, erzählt Lenze in der Zeit, etwa in dem Moment, als die eher konservativen Frauen in Basra sich trauen, bei der Veranstaltung zu sprechen: "Sie reden ins Mikrofon mit klarer Stimme und lassen, während die Bagdader Frauen teils ein bisschen die Augen verdrehen, sich nicht die Butter vom Brot nehmen. Auch wenn es ein bescheidenes ist, ein Aschenputtelbutterbrot: Die klare Rollenverteilung sei schon richtig, aber gewiss gebe es innerhalb dieser Rolle noch Entwicklungsspielräume. Man spürt, welchem Druck diese Frauen ausgesetzt sind. Wie viel Mut es kostet, auch nur so etwas zu ssagen. Die Diskussion spinnt sich noch lange fort."

Besprochen werden Cormac McCarthys nun auch auf Deutsch vorliegendes Debüt "Der Feldhüter" aus dem Jahr 1969 (FR), F. Scott Fitzgeralds "Die Straße der Pfirsiche" (online nachgereicht bei der FAZ), Gertrude Bells "Das Raunen und Tuscheln der Wüste" (FAZ), neue Bücher über die Alpen (Freitag), ein Band über die Geschichte des Peter-Szondi-Instituts an der Freien Universität Berlin (Freitag), eine Comicadaption von Wim Wenders' Filmklassiker "Der Himmel über Berlin" (Tagesspiegel), Hartmut Langes Erzählband "Der Blick aus dem Fenster" (NZZ) und eine Ausstellung zu Leben und Werk Friedrich Glausers im Zürcher Museum Strauhof (NZZ).

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Kunst

Außerordentlich angeregt kommt Guido Kalberer aus der Ausstellung "Dada Universal" im Landesmuseum Zürich. Das Ausstellungskonzept hat es in sich, schreibt er im Tagesanzeiger: "Die Ausstellungsmacher Juri Steiner und Stefan Zweifel haben zusammen mit dem Gestalter und Szenografen Alex Harb ein raffiniertes Konzept erarbeitet. Den Dadaismus stellen sie nicht als eine klar definierbare Kunstrichtung vor, die man nur verstehen kann, wenn man sie unter das analytische Seziermesser legt. Vielmehr ziehen die frankophilen Kuratoren eine rhizomartige Methode vor: Sie fächern die in verschiedene Richtungen ausstrahlende Bewegung anhand von Begriffen wie Maske, Tanz, Dionysos, Traum, Splitterbombe, Mystik usw. in insgesamt 18 Vitrinen auf. Damit werden sie nicht nur der Ästhetik des Dadaismus gerecht, sondern eröffnen dem Besucher je nach Wissensstand ganz andere Bedeutungshöfe."

Weitere Artikel: In der taz erinnert Cara Wuchold an die Ursprünge von Dada in Zürich und Berlin vor hundert Jahren. Nicola Kuhn bringt im Tagesspiegel Informationen zu dem von Ai Weiwei in Berlin geplanten Schwimmwesten-Mahnmal für Flüchtlinge in Berlin. Und in Berlin sind zehn Bilder des Fotografen Ottomar Anschütz entdeckt worden, meldet Giacomo Maihofer im Tagesspiegel.

Besprochen werden die Klanginstallation "Night and Fog" der schottischen Turner-Preisträgerin Susan Philipsz im Kunsthaus Bregenz (Standard), Werner Buschs Studie zu Adolph Menzel (NZZ), eine von Nina Hoss kuratierte Werkschau Christian Jankowski in der Berliner Galerie Contemporary Fine Arts (Freitag) sowie die Ausstellungen "Pierre Huyghe: Orphan Patterns" in Hannover und "Images" in Kassel (FAZ).
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Architektur

Im Freitag porträtiert Lennart Laberenz den chilenischen Architekten Alejandro Arevana, der in diesem Jahr mit dem Pritzker-Preis ausgezeichnet wurde. In der NZZ stellt Michel Kessler kurz die Villa Allém des Bündner Architekten Valerio Olgiati vor.
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Film

In seinem Blog fragt sich der Filmemacher Christoph Hochhäusler anlässlich einer Diskussionsveranstaltung bei der 2. Woche der Kritik, woher eigentlich die protestantische Bravheit des deutschen Kinos rührt: "Warum leben wir nicht wild und gefährlich? Warum gehen wir nicht aufs Ganze? Warum machen wir keinen Skandal? Vielleicht, weil das Gesten von Gestern sind. Weil es nicht unsere Art ist. Aber sicher auch, weil niemand auf uns wartet."

In online nachgereichten Texten befasst sich der Freitag mit den neuen deutschen Serien, die hoffnungsvoll an Erfolgsmodelle aus dem Ausland anschließen wollen: Die ARD-Politserie "Die Stadt und die Macht", die sich "Borgen" zum Vorbild genommen hat, kann Dieter Leder schon mal nur auf halber Strecke überzeugen: Warum eigentlich besinnen sich die Sender eigentlich nicht auf jene verschüttete hiesige Tradition, "als das westdeutsche Fernsehen pointiert vom Leben in der Bundesrepublik erzählte", etwa in den Serien von Dieter Wedel und Helmut Dietl, fragt er sich (hier gibt es alle Episoden der Serie in der Mediathek).

Und Sarah Khan weiß, woran es der lose an "Breaking Bad" angelehnten ZDF-Serie "Morgen hör ich auf" (hier komplett online) mit Bastian Pastewka mangelt: Wo sich die US-Serie an die Lebensrealität ihres Publikums in vielerlei Hinsicht als anschlussfähig erscheint, bleibt das deutsche Pendant diffus und hasenfüßig: "Die Unverbundenheit mit unserer Gegenwart, mit den Widersprüchen und Schwierigkeiten unserer Zeit, ist ein Problem, das weit über diese einzelne Produktion hinaus im deutschen Fernsehen existiert. Man favorisiert eine künstliche Alltagswelt, voll individueller Sorgen und Nöte, aber ohne Genauigkeit, ohne die Historie des Ortes, der Geschichte oder der Menschen. Dieses Ausblenden von Gegenwart ist gewollt und geradezu ideologisch, weil man meint, dass die Produktionen dann weniger altern würden, länger frisch bleiben für die Verwertung. Doch letztlich werden sie nie satisfaktionsfähig, nie erwachsen."

Weitere Artikel: Im Standard berichtet Dominik Kamalzadeh vom Filmfestival in Rotterdam. Den Berliner taz-Lesern empfiehlt Fabian Tietke die im Kino Arsenal gezeigten Filme von Cecilia Manginis. Im Tagesspiegel schreibt Christian Schröder über die Retrospektive der kommenden Berlinale und Gunda Bartels hier über Filme aus der Perspektive Deutsches Kino. Auf ZeitOnline bringt René Martens Hintergründe zu Jerry Lewis' verschollenem Holocaust-Film "The Day the Clown Cried", über den die ARD gestern Abend eine Doku zeigte (mehr dazu auch bei Michael Hanfeld in der FAZ). Anke Westphal plaudert mit Berlinale-Chef Dieter Kosslick über das Berlinale-Programm.

Besprochen werden Sarah Gavrons "Suffragette" ("meisterhaft", meint Anke Westphal in der Berliner Zeitung, NZZ, Perlentaucher, Welt, mehr im gestrigen Efeu), Alexis Alexious Thriller "Mittwoch 04:45" (Perlentaucher, Welt, taz), die Netflix-Serie "Scream" (NZZ), Mano Khalils Gesellschaftsdrama "Die Schwalbe" (NZZ), Stéphane Brizés Film "La loi du marché" über den Kreuzweg eines französischen Arbeitslosen (dem Patrick Straumann in der NZZ eine lesenswerte Kritik widmet) und Hendrik Löbberts Dokumentarfilm über die Jagd "Grenzbock" (Welt).
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Musik

"Das Leichteste am Dirigieren ist das Schlagen", erklärt der Wiener Pianist und Dirigent Stefan Vladar im Interview mit dem Standard. "Sergiu Celibidache hat gesagt, das kann er jeder Klofrau beibringen. Die Probenökonomie ist viel kniffliger: Wie viel kann ich fordern, wie viel verändern, und wo übe ich mich in Verzicht? Dann haben verschiedene Orchester unterschiedliche Gewohnheiten: Es gibt Chefdirigenten, die fast nur durchspielen lassen, solche, die sofort abbrechen und ewig erklären. Darauf muss man sich einstellen."

Weitere Artikel: Alexander Odefey resümiert in der NZZ die Mozartwoche in Salzburg, bei der Händels Schäferspiel "Acis and Galatea" in drei Fassungen aufgeführt wurde: von Händel, Mozart und Mendelssohn. Nachdem das Gürzenich Orchester aus Köln seinen instantanen Live-Mitschnittservice 2015 eingestellt hat, wird es seine Konzerte live und kostenfrei im Internet übertragen, meldet Josef Oehrlein in der FAZ.

Für die taz unterhalten sich Franziska Buhre und Julian Weber mit den Chicagoer Post-Rockern von Tortoise über deren neues Album "The Catastrophist" Tazlerin Fatma Aydemir porträtiert die portugiesische Künstlerin Nídia Minaj, deren "adrenalingeladener, basslastiger und zugleich melodischer Sound" auf dem "angolanischen Musik- und Tanzstil Kuduro" basiert. Ihre taz-Kollegin Laura Aha schreibt über die japanische Pop-Kunstfigur Hatsume Miku, die tatsächlich nur als holografische Projektion existiert: "Ewig schön, für immer 16 Jahre jung und vom Laster der Sterblichkeit entbunden - Hatsune Miku löst das Versprechen von Popmusik, die immer für einen da sein wird, in fast schon unheimlicher Konsequenz ein."

Besprochen werden ein Konzert mit zwei Werken für Streichorchester von Britten und Tippett in Winterthur (NZZ), ein neues Album von Suede (Standard) und ein Album des Rappers Knackeboul (NZZ).
Archiv: Musik

Bühne

"Kein einziges 'klassisches' Repertoirestück figuriert unter den zehn 'bemerkenswerten' Aufführungen des diesjährigen Theatertreffens", notiert Barbara Villiger-Heilig kommentarlos in der NZZ und zählt die Auserwählten (darunter aus Berlin Herbert Fritschs "der die mann", Yael Ronens "The Situation" und Daniela Löffners "Väter und Söhne") auf. Im Tagesspiegel scheint Rüdiger Schaper ganz zufrieden: In der Auswahl "mischen sich die Stile, Formen, das Große und das Kleinere, Pop und Politik" (eingeladen sind unter anderem aus Berlin ). In der Berliner Zeitung rät Dirk Pilz angesichts der beispiellos dichten Theaterlandschaft in Deutschland, den Ball etwas flach zu halten: Denn "Trends, irgendwelche validen Aussagen über den Zustand des Theaters, sind aus dieser Liste nicht ablesbar. Natürlich nicht. Berlin ist mit drei Inszenierungen vertreten, so oft wie keine andere Stadt. Schön, aber ist Berlin deshalb wieder Theaterhauptstadt? Wer derlei glaubt, macht sich der Einfältigkeit verdächtig." SZ-Kritikerin Christine Dössel findet die Auswahl "ziemlich enttäuschend".

Weitere Artikel: Urs Bühler porträtiert in der NZZ die Theaterschauspielerin und angehende Regisseurin Manon Pfrunder. Im Tagesspiegel meldet Rüdiger Schaper, dass Adolphe Binder ab 2017 die Leitung des Tanztheaters Wuppertal übernimmt.

Besprochen werden Barrie Koskys Inszenierung von Tschaikowskis "Jewgeni Onegin" (Tagesspiegel, SZ, hier eine Aufnahme der Aufführung) und Michael Eberths Theatertagebücher 91-96 (Standard).
Archiv: Bühne