Efeu - Die Kulturrundschau

Einheit von Hand und Hirn

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.02.2016. Die Filmkritiker staunen in "Spotlight" über journalistische Praktiken vor der Digitalisierung. Die FAZ bewundert Francisco Mangados surrealistischen Anbau für das Kunstmuseum in Oviedo. Die FR erliegt dem Reiz der überschwänglichen Ambivalenz des Manierismus. Die taz resümiert das Theaterfestival EuropolyGerhard Richter erklärt in der FAZ, warum man gegenständlich abhebt, aber abstrakt landet. Und: das neue Video von Massive Attack, in dem Rosamund Pike Isabelle Adjanis berühmte U-Bahnszene aus Zulawskis "Possession" nachspielt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.02.2016 finden Sie hier

Film


Ein Redaktionsbüro vor der Digitalisierung. Szene aus Tom McCarthys "Spotlight"

Der Film "Spotlight" über eine Gruppe von Journalisten, die 2001 eine Reihe von Missbräuchen an katholischen Kirchen in Boston aufdeckten, zählt zu den großen Oscarfavoriten in diesem Jahr. Ginge es nach den Kritikern, könnte sich Regisseur Tom McCarthy der Sache bereits sicher sein. Für SZ-Kritiker Fritz Göttler ist der Film auch ein nostalgischer Blick zurück in die Zeit vor der Digitalisierung des Alltags und des journalistischen Handwerks: "Die Reporter dieses Films arbeiten ohne Aufnahmegeräte, viele der von ihnen Befragten haben eine Scheu davor, also schreiben sie mit auf ihren kleinen Blöcken, das Lauschen und das Schreiben wird eine Bewegung, die Einheit von Hand und Hirn, das wahre 'Aufnehmen'. Eine Bewegung von schönster Genauigkeit und Diskretion."

Sehr dankbar ist Frank Junghähnel von der Berliner Zeitung dem Film für seinen Verzicht "auf jede Überemotionalisierung des Faktischen. Seine Perspektive bleibt konsequent journalistisch, so verbietet er sich jeden Abzweig zum Melodram." Gute Besprechungen für "Spotlight" gab es außerdem im Tagesspiegel, Welt und in der taz.

Immer noch beflügelt von Lav Diaz' Wettbewerbsbeitrag für die Berlinale ist Katja Nicocemus in der Zeit unzufrieden mit dem Goldenen Bären für Gianfranco Rosis Dokumentarfilm "Fuocoammare". Denn der erzähle "der Zeitgeschichte hinterher. Und man hat das Gefühl, dass der Regisseur auf die Insel Lampedusa gereist ist, um dort zu erfahren, was er ohnehin schon wusste. Mit einer gewissen Künstlichkeit inszeniert Rosi den Alltag der Inselbewohner nach, als weltabgewandten Rhythmus des Fischens, Kochens, Essens und der Kinderspiele. Unvermittelt zeigt er die Einsätze der Seenotrettung, das Überleben und Sterben der Flüchtlinge auf dem Meer. In dieser Gegenüberstellung bleibt Fuocoammare ein so opportunistischer wie kurzlebiger Reflex auf Schlagzeilen und Nachrichtenbilder."

Weiteres: Im Freitag bricht Andreas Busche eine Lanze für "die amerikanische Komödie als populäre Avantgardeform", auch wenn die neuen Filme "Sisters" und "Dirty Grandpa" enttäuschend bis ärgerlich ausfallen. Doch zum Glück gibt es da noch "Zoolander 2", freut sich der Kritiker, der sich bei diesem "formensprengenden und virtuos grenzdebilen Nummernrevuewahnsinn wieder daran [erinnert fühlt], dass die US-amerikanische Komödie immer dann am besten ist, wenn Einfalt auf Größenwahn trifft." In der FAZ berichtet Max Nyffeler von einem Berliner Branchentreffen der Musikfilmproduzenten.

Besprochen werden Deniz Gamze Ergüvens oscarnominierter Film "Mustang" (Tagesspiegel, taz, FAZ), der auf DVD veröffentlichte Horrorwestern "Bone Tomahawk" von S. Craig Zahler ("bei aller Lust an der Hybridisierung wunderbar unangestrengt", staunt Ekkehard Knörer in der taz), Andreas Maus' Dokumentarfilm "Der Kuaför aus der Keupstraße" über die Opfer des Kölner Nagelbombenattentats (Welt), Michael Moores laut tazler Fabian Tietke "gewohnt hemdsärmliger" Dokumentarfilm "Where to invade next?" (Welt), Florian David Fitz' Komödie "Der geilste Tag" (SZ) und der Dokumentarfilm "Als wir die Zukunft waren" über Jugend in der DDR (SZ).
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Architektur



Klaus Englert hat sich für die FAZ den Erweiterungsbau angesehen, den Francisco Mangado für das Kunstmuseum in Oviedo konzipiert hat. "Der Architekt setzte auf eine Collage der bereits vorhandenen Fassadenteile, die er additiv entlang der Calle Rúa positionierte. Dieses surrealistische Verfahren mündet allerdings in einen theatralischen Bühneneffekt, der den Passanten prima vista verbirgt, was sich hinter der Kulisse schockartig auftut: eine machtvolle, opake Glaswand, die sich wie ein dräuendes Gebirgsmassiv auftürmt. ... Francisco Mangado konstruierte ein architektonisches Palimpsest mit einer äußeren städtischen und einer inneren musealen Fassade."
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Stichwörter: Mangado, Francisco

Literatur

25 Jahre Reprodukt Verlag! Zum Jubiläum des ambitionierten Berliner Comicverlages hat sich Lars Törne für den Tagesspiegel mit Verleger Dirk Rehm unterhalten. Dass das Interesse in Comics gestiegen ist, ist für ihn durchaus ein zweischneidiges Schwert, etwa wenn große Literaturverlage nun ebenfalls in den Markt einsteigen, "die sich eher aus Imagegründen einen Comic leisten wollen und uns bei den Lizenzgebern mit ihren größeren Budgets problemlos überbieten können. So fallen für uns gerade in jüngster Zeit immer häufiger zum Bestehen des Verlages lebensnotwendige - weil gut verkäufliche - Lizenztitel weg." Eiinen Überblick über unsere Rezensionsnotizen zu Reproduktcomics finden Sie hier.

Besprochen werden Ta-Nehisi Coates' Essay "Zwischen mir und der Welt" (NZZ), Peter Stamms Roman "Weit über das Land" (NZZ), Eric Chevillards Neuerzählung des "Tapferen Schneiderleins" (NZZ), Heinz Strunks "Der goldene Handschuh" (Tagesspiegel, mehr dazu hier), Dževad Karahasans "Der Trost des Nachthimmels" (Tagesspiegel), Carsten Gansels Band "Literatur im Dialog: Gespräche mit Autorinnen und Autoren 1989 - 2014" (Freitag),Bruno Ziauddins Medienbetriebsroman Bad News" (Freitag) und Reinhard Jirgls "Oben ist das Feuer, unten der Berg" (FAZ).
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Bühne

In der taz resümiert Annette Walter das Münchner Festival Europoly, das mit explizit politischen Inszenierungen zu den Themen Migration und Sparzwang aufwartete: "Die Haltbarkeit dieser Inszenierungen mag nicht allzu groß sein; es sind vielleicht etwas zu hastig gezimmerte Aufführungen für den Augenblick. Aber muss Theater nicht schnell reagieren, wenn um uns herum alles bröckelt?"

Weitere Artikel: Lilo Weber berichtet in der NZZ vom Holland Dance Festival. Christine Dössel (SZ) und Hubert Spiegel (FAZ) gratulieren Franz Xaver Kroetz zum 70. Geburtstag.
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Musik

Besprochen werden ein Konzert von Piotr Anderszewski (Tagesspiegel-Kritikerin Christiane Tewinkel hat "selten einen so sperrigen Klavierabend erlebt"), ein Konzert des holografischen Manga-Stars Hatsune Miku (Freitag), ein Konzert von Howe Gelb (FR), ein Konzert der Eagles of Death Metal in Zürich (NZZ) und ein Konzert des Jazztrompeters Ibrahim Maalouf (Tagesspiegel).

Und bei Nerdcore entdeckt: Das neue Video von Massive Attack, in dem die Schauspielerin Rosamund Pike eine tolle Hommage an Isabelle Adjanis berüchtigte U-Bahnszene aus Andrzej Zulawskis Berlinfilm-Klassiker "Possession" hinlegt.

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Kunst

Im Interview mit Julia Voss und Peter Geimer in der FAZ erzählt Gerhard Richter, wie es zu seinem neuesten abstrakten Auschwitz-Zyklus kam. Die Bilder beruhen auf Fotos aus dem KZ, die von Gefangenen aufgenommen waren. Richter entschloss sich zunächst, diese Fotos zu malen, "trotz meiner Zweifel, dass das funktionieren würde, dass ich durchs Abmalen 'Bilder' erzeugen könnte. Im Herbst 2014 fing ich an, diese vier Bilder auf die Leinwände zu übertragen, und merkte bald, dass es nicht geht. Also abkratzen und neu malen, so lange, bis ich die vier abstrakten Bilder hatte. Dieser Vorgang ist nichts Ungewöhnliches, also gegenständlich anfangen und abstrakt landen."

Die Kritiker staunen nach wie vor über die große Manierismus-Ausstellung im Frankfurter Städel. Christian Thomas von der FR hat die Ausstellung mit größtem intellektuellen und ästhetischen Vergnügen besucht: "In der Kunstgeschichte als Begriff bis heute umstritten, zeigt Bastian Eclercy als Kurator ein faszinierendes Manierismus-Bild in seiner überschwänglichen Ambivalenz. Denn vor Augen geführt wird das Kultivierte neben dem Kapriziösen, blasierte Eleganz neben affektierter Extravaganz." Auch Gottfried Knapp zeigt sich in der SZ sehr beeindruckt: "Kaum je sind die Anfänge des hier ablesbaren, schroff von der Tradition sich absetzenden neuen Stils, nördlich der Alpen mit mehr beweiskräftigen Hauptwerken vorgeführt worden" als in dieser Ausstellung, die "die Ausbreitung neuer künstlerischer Ideen in Florenz verfolgt und so eine konzentrierte Einführung in die Kunst des Manierismus bietet." (Bild: Agnolo Bronzino, Bildnis einer Dame in Rot (Francesca Salviati?) um 1533)

Weiteres: Bernhard Schulz erinnert an Heinz Ohff, den vor 10 Jahren gestorbenen Kunstkritiker und Feuilletonchef des Tagesspiegels.

Besprochen werden die große Fischli/Weiss-Retrospektive im New Yorker Guggenheim Museum (Welt), Julian Rosefeldts Installation "Manifestos" mit Cate Blanchett im Hamburger Bahnhof in Berlin (Freitag), eine zehnbändige William-Eagleston-Ausgabe (Freitag), Jean-Henri Fabres Kunstband "Pilze" (FR) und Volker Hintz' Buch "In Love with Photography" (FAZ).
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