Efeu - Die Kulturrundschau

Ein kohlenglühendes Stimmungsbild

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06.09.2017. Atlantic entdeckt die italienische Künstlerin Carol Rama, die dem weiblichen Körper Zähne,  Klauen und Riesenpenisse wachsen ließ. Die Presse erlebt im Wiener Musa die Entstehung der Kunstgeschichte aus der Bürokratie. Die taz beugt sich mit Ulrich Schreiber über den Kostenplan für das Literaturfestival. In Venedig sorgt Darren Aronofsky mit seinem Filmmonster "Mother!" für ein bisschen Kontroverse unter den Kritikern, die zuvor einhellig Frances McDormand zu Füßen gelegen haben.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.09.2017 finden Sie hier

Film


Endlich wieder eine Hauptrolle für Frances McDormand. Szene aus "Three Billboards Outside Ebbing, Missouri"

Die nach Venedig geschickten Kritiker liegen Martin McDonagh und dessen "Three Billboards Outside Ebbing, Missouri" zu Füßen: "Ein kohlenglühendes Stimmungsbild der amerikanischen Befindlichkeiten" ist dem irischen Regisseur geglückt, schreibt etwa Tim Caspar Boehme in der taz. Es geht um eine von Frances McDormand gespielte Frau in der Provinz, die Jagd auf die Vergewaltiger und Mörder ihrer Tochter macht. "Endlich wieder eine Hauptrolle für die oscarprämierte Heldin von 'Fargo', endlich wieder ihr konsterniertes Gesicht, ihr bezwingender Blick, ihre minimalistisch-beredte Mimik, ihre Schlagfertigkeit", freut sich auch Christiane Peitz im Tagesspiegel und konstatiert dem Festival knapp nach Halbzeit "im Zeichen großer Schauspielerinnen" zu stehen, nachdem hier bereits Judi Dench, Helen Mirren, Julianne Moore und Jane Fonda glänzten. Ähnlich sieht das Susanne Oswald, die in der NZZ eine erste Zwischenbilanz zieht und in einem weiteren Artikel einen Stimmungsbericht vom Lido schickt.

Dein ist mein ganzes Herz! Plakatmotiv zu Darren Aronofskys "Mother!" (Detail)

Und dann ist da noch Darren Aronofsky, der mit "Mother!" alttestamentlichen Furor aufs Publikum niederprasseln lässt, wie uns Beatrice Behn auf kino-zeit.de versichert: Im Kino zu rechnen sei demnach mit "einer Schrotflinte, deren Munition einem direkt ins Gesicht geschossen wird und dessen Blei vorher in existenzialistische Säure ganzer Philosophengenerationen getaucht wurde". Es geht, verkürzt gesagt, um eine Frau die ihrem unter einer Schreibblockade leidenen Schriftsteller-Mann, das Leben leichter machen will. "Du liebe Zeit, was ist das denn für ein Dreck", stöhnt da Dietmar Dath in der FAZ auf, der den Regisseur des Films als "einen der lästigsten Filmemacher unserer Zeit" abkanzelt.

Auch Susan Vahabzahdeh von der SZ fand den Film schlimm: "Die Rolle, die Aronofsky Jennifer Lawrence zuweist - inspirieren, gebären, Nest bauen -, ist fürchterlich misogyn gestrickt." Hanns-Georg Rodek von der Welt konnte dem Film etwas abgewinnen: Dieser sei "der große Entwurf unbestimmter westlicher Zukunftsängste, ungeordnet, unreflektiert, unverdünnt, und Aronofsky lässt selbst den kleinsten gemeinsamen Nenner, auf den sich das Kino sonst gern zurückzieht, nicht mehr gelten: die Liebe. ... 'Mother!' ist das heilige Monster dieser Festspiele."

Klassisch und ultramodern: Sienna Miller in "The Private Life of a Modern Woman" von James Toback

Den besten Film am Lido hat unterdessen Rüdiger Suchsland ausfindig gemacht: In "The Private Life of a Modern Woman" verbindet James Toback "ganz Klas­si­sches mit Ultra­mo­der­nität", erklärt Suchsland auf Artechock. "Ein Film der Fragmente und Vignetten, der nie geschlossen ist, sondern offen und neugierig. Es kann alles passieren. Und es passiert viel. ... Dies ist vor allem ein Film über Angst, die Angst sich zu verlieren, die das unter­grün­dige Thema des Films ist. Die Handlung ist die einer Kurz­ge­schichte, das philo­so­phi­sche Gewicht das eines Romans - von Dosto­je­wski oder Dickens. Oder Flaubert. Mit anderen Worten: Old-school-Existentialismus."

Besprochen werden Emin Alpers "Abluka" (Perlentaucher), die Verfilmung von Dave Eggers' Roman "The Circle", den die meisten Kritiker (SZ, Welt, FAZ) mit Ausnahme von Nicolai Bühnemann (Perlentaucher) im wesentlichen für missraten halten, Adrian Goigingers "Die beste aller Welten" (Standard) und Werner Herzogs von 3sat zum Geburtstag des Regisseurs online gestellter Essayfilm "Wovon träumt das Internet?" (Berliner Zeitung). Der Bayerische Rundfunk bietet aus demselben Anlass derzeit Herzogs Kinski-Doku "Mein liebster Feind" online an.
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Literatur

Für die taz porträtiert Susanne Messmer Ulrich Schreiber, den Veranstalter des Internationalen Literaturfests Berlin, dessen mittlerweile erarbeitetes Renommee - "eine Art Berlinale der Literatur" - im argen Kontrast zur Finanzierung steht: "Seit über fünfzehn Jahren bezieht Schreiber dieselbe finanzielle Unterstützung aus dem Hauptstadtkulturfonds: Wie auch das Poesiefestival im Frühling bekommt auch das Internationale Literaturfestival 350.000 Euro im Jahr. Jedes Jahr muss er dieselben Anträge ausfüllen, denn er bekommt nur eine projektbezogene Regelförderung und daher, wie er sagt, zu wenig Planungssicherheit. Hinzu kommt, dass die Gesamtkosten des Festivals derzeit etwa das Doppelte betragen - und die Ticketeinnahmen bei 70.000 bis 90.000 Euro liegen. Man kann sich vorstellen, was es heißt, allein die vielen Flüge für die Autoren zu bezahlen, die wirklich aus aller Welt anreisen. In diesem Jahr sind es 297 Autoren aus 58 Ländern, die 285 Veranstaltungen bestreiten. 26.000 Besucher allein im Jahr 2016."

Weiteres: Jens Uthoff und Ulrich Gutmair plaudern für die taz mit Sven Regener über dessen neuen Roman "Wiener Straße". Andreas Merkel berichtet im Freitag von seinem Versuch, in diesem Sommer keine Literatur von Männern zu lesen, sondern stattdessen neue Bücher von Linda Boström Knausgard, Yasmina Reza und Sonja Heiss - was ihn allerdings auch nicht recht zufrieden gemacht hat.

Besprochen werden Salman Rushdies "Golden House" (Tagesspiegel, mehr dazu im gestrigen Efeu), Robert Stockhammers Studie "Afrikanische Philologie" (Tagesspiegel), Mathieu Riboulets "Und dazwischen nichts" (Freitag), Wu Mings "Kriegsbeile" (Freitag), Reinhard Kleists Comicbiografie über Nick Cave (Tagesspiegel, Berliner Zeitung), Petra Morsbachs "Justizpalast" (SZ), Michail Schischkins "Die Eroberung von Ismail" (FR) und José Eduardo Agualusas "Eine allgemeine Theorie des Vergessens" (FAZ).
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Design

Bei der Mode Swiss, der Schau der großen Zürcher Modelabels, erfährt Antje Stahl, dass die Schweizer zu selbstbewusst für Hipstertum und Trends sind und sich nicht für "schlechte" Kleidung schämen: "Gleich zur Eröffnung des Marathons schlafwandelten Models über den Steg, stellten sich wie verbrannte Bäume im Wald in schwarzen Kutten auf, Mönchsgesanggedröhne ertönte im Saal, Christa de Carouge und Deniz Ayfer wollten unsere traurige Welt mit einer Beerdigungsfeier umarmen. Mir leuchtete das sofort ein." (Bild: Adrian Ehrat, Florian Kalotay, Mode Suisse)
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Bühne

Besprochen werden die Saisoneröffnung der Wiener Staatsoper mit Verdis "Trovatore" aus dem Repertoire (die Daniel Ender im Standard dann auch "behäbig und altbacken" fand) und Andrea Breths Inszenierung von Harold Pinters Psychokomödie "Geburtstagsfeier" (Standard).
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Musik

Udo Badelt porträtiert im Tagesspiegel Daniele Gatti, den Leiter des Amsterdamer Concertgebouw-Orchesters, mit dem dieser heute in der Berliner Philharmonie Wolfgang Rihms "In-Schrift" aufführen wird. Für das Musikfest Stuttgart hat Alexander Grychtolik Bachs verschollene Köthener Trauermusik rekonstruiert, berichtet Michael Stallknecht in der SZ. Sarah Pines gibt in der SZ Nachhilfestunden in Sachen Troubador.

Marcel Anders unterhält sich sich in der SZ mit Dave Grohl von den Foo Fighters. Für die Spex spricht Sonja Matuszczyk mit Jane Weaver.  Die Welt-Autoren erinnern sich an Glanzstunden mit den Rolling Stones. Robert Baumanns meldet im Kölner Stadtanzeiger den Tod des Can-Bassisten und -Gründers Holger Czukay. Hier ein Konzert von 1970:



Besprochen werden der zweite Teil aus John Eliot Gardiners Berliner Monteverdi-Zyklus (Tagesspiegel), zwei CDs mit Tango-Aufnahmen von Astor Piazzolla (Freitag),  das Abschlusskonzert des Rheingau Musik Festivals mit Musik von Edward Elgar (FR), der Abschluss von Young Euro Classic in Berlin mit dem Cuban-European Youth Orchestra (Tagesspiegel) das Comeback-Album, bzw. das Berliner Konzert von LCD Soundsystem (Welt, Tagesspiegel, taz), Zola Jesus' "Okovi" (Pitchfork), ein Konzert von DAF (The Quietus) und das neue Album von Casper (Welt).
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Kunst


Carol Rama: Dorina, 1944

Staunend entdeckt Jane Yong Kim (Atlantic) im New Museum in New York die italienische Künsterlin Carol Rama, der dort - nach Venedig und Barcelona - die dritte große Ausstellung in jüngster Zeit gewidmet ist. Rama, die 2015 im Alter von 97 Jahren starb, war in den sechziger Jahren, in denen sie Kunst machte, geradezu geradezu atemberaubend einfallsreich: "Sie benutzte Zähne, Klauen, Sackleinen und Gummi; klebte Augenbälle aus Plastik und Spritzen auf Leinwände und malte geisterhafte Brüste und Hoden. Einmal fertigte sie eine Bronzeskulptur mit einem Penis, der sich in einen Damenpumps schmiegte - sie ignorierte so mit einem Schwung die oberflächliche Distanz zwischen zwei verzwickt symbiotischen Symbolen und machte sich daneben noch über Freud lustig. In all ihren Arbeiten benutzte Rama Weiblichkeit als Linse, durch die sie alles betrachtete, von kulturellen Normen und Sehnsüchten bis zu Krankheit und Hysterie."


Ausgeräumt: Elisabeth Grübl, Studio # 15. Esther Stocker, 2010

Intelligent und witzig findet Almuth Spiegler in der Presse die Schau "ba ≠ b+a", mit der Wiens städtische Galerie Musa ihr zehnjähriges Bestehen feiert. Besonders unterhaltsam findet sie das Kapitel "Bürokratie": "Wollte Kurator Thalmair doch mit seiner Auswahl zeigen, wie Künstler in ihren Werken auf das System von Sammlungen und Institutionen, also auf das Entstehen von Kunstgeschichte, reagieren. Was oft ironisch ausfällt - etwa wenn Ulrike Königshofer die Auswahl von Archiven aufs Korn nimmt, indem sie 'zufällige Prozesse', die sie beim Wachsziehen gewinnt, nummeriert und in Vitrinen sammelt. Wenn Maria Anwander und Ruben Aubrecht ihren Förderungs-Absagebrief des Kulturamtes einrahmen - und dem Kulturamt für seine Sammlung schenken (auch das geht nur einmal)."

Peter Richter war für die SZ im Bundestag, wo Gerhard Richters Bildzyklus "Birkenau" präsentiert wurde, um künftig den Gang ins Parlament zu säumen. Sehr würdevoll, findet er. Nur schade, dass Bilder von Sigmar Polke zur Restauration in die Werkstatt mussten. "Wie zwei bundesrepublikanische Kultur-Karyatiden flankierten Polke und Richter da jahrelang den Eingang zum Parlament. Es hatte auch etwas von Demokrit und Heraklit, dem lachenden und dem weinenden Philosophen, dem Gegensatz von Komödie und Tragödie oder jedenfalls von Ironie und Pathos."

Weiteres: Sehr eindrücklich findet Andreas Kilb in der FAZ die Seestücke des Malerfürsten Andreas Achenbach, die das Museum Kunstpalast in Düsseldorf zeigt. Im Tagesspiegel greift Frederic Jage Bowler noch einmal die Debatte um Dana Schutz' Porträt "Open Casket" auf.
Archiv: Kunst