Efeu - Die Kulturrundschau

Noch nicht zum Export bereit

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29.06.2018. Die NZZ stellt den libanesischen Künstler Raed Yassin vor. Im Standard wundert sich der Postcolonial-Experte Christian Kravagna über den Eifer deutscher Museen, mit der Kritik an eurozentrischer Sammlungspolitik plötzlich ganz vorn zu stehen. Frauenfußball interessiert ihn nicht, Frauen in der Regie auch nicht, erklärt Frank Castorf in der SZ. Die taz amüsiert sich mit einer neuen Funk-Jam-Operette von George Clinton. Im Freitext-Blog auf ZeitOnline erinnert sich die Schriftstellerin Tanja Maljartschuk an die Hungersnot ihrer Großmutter unter Stalin.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.06.2018 finden Sie hier

Kunst

In der NZZ stellt Monika Bolliger den libanesischen Künstler Raed Yassin vor, der einen sehr wachen und gleichzeitig wunderbar spielerischen Zugang zur Kunst hat: "Die eigene Geschichte verarbeiten, indem man sie neu erschafft, mit Traditionen bricht oder Mythen zerstört: Das sind Elemente, die sich in Yassins Werk immer wieder finden. Auf einer Serie chinesischer Vasen unter dem Namen einer fiktiven Yassin-Dynastie bildet der Künstler verschiedene Schlachten aus dem libanesischen Bürgerkrieg ab, den er als Kind erlebte. Die Vasen Yassins zeigen nicht die klassischen Darstellungen einer siegreichen Schlacht; in Libanon gibt es auch gar keine offizielle Version der Ereignisse, auf die sich alle einigen könnten. Die Darstellungen basieren vielmehr auf Gesprächen mit ehemaligen Kämpfern und deren subjektiven Erinnerungen. Einer sagte zum Beispiel, dass es Bomben geregnet habe. Yassin hat das so abgebildet. 'Mich interessierte, was in der Erinnerung hängen bleibt', sagt er. 'Dabei kann es immer auch Lügen geben.'"



Im Interview mit dem Standard erklärt der Postcolonial-Experte Christian Kravagna, warum er wenig hält vom deutschen Förderprogramm "Museum global" oder dem Versuch der Berliner Nationalgalerie, mit der Ausstellung "Hello World" (alle Kritiken) sogenannte "blinde Flecken" in der Sammlung sichtbar zu machen: "Die Formulierung 'blinde Flecken' ist schon merkwürdig. Sie suggeriert, dass der geringere Teil ausgelassen wurde. Aber das Gegenteil ist der Fall: Die große Mehrheit wurde ausgelassen. Der blinde Fleck ist eigentlich die Sammlung selbst. Wenn jahrhundertelang eurozentrisch gesammelt wurde, war das auch eine Praxis des Kolonialismus. Das Versäumnis lässt sich nicht in ein paar Jahren aufholen. Im deutschsprachigen Raum gibt es eine jahrzehntelange systematische Ignoranz gegenüber der Kritik eurozentrischer Sammlungspolitik. Und plötzlich soll es ganz schnell gehen. Es entsteht eine Art Wettbewerb, wer das am schnellsten und breitenwirksamsten macht. Das ist deshalb interessant, weil der Impuls, die Sammlungen zu reflektieren, nicht unbedingt aus den Institutionen selbst kommt."

Weiteres: Georg Imdahl berichtet in der FAZ über die Manifesta in Palermo: "Die Manifesta lüftet nicht nur das staubige Archiv. Sondern auch die verwaisten Paläste und damit auch die gesamte Stadt." Besprochen werden eine Ausstellung der Finalisten zum Deutsche Börse Photography Prize im Frankfurter MMK3 (FR), eine Ausstellung über Gerhard Richters Weg in die Abstraktion im Potsdamer Museum Barberini (Berliner Zeitung), eine Ausstellung von Ella Bergmann-Michel und Robert Michel im Sprengel Museum Hannover (taz) und die Ausstellung "Les villes, la rue, l'autre" im Pariser Centre Pompidou mit Bildern der Fotografin Sabine Weiss aus den Vierziger- und Fünfzigerjahren (denen Joseph Hanimann in der SZ einen "fotografischen Humanismus auf Augenhöhe" bescheinigt).
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Bühne

Im Interview mit der SZ redet Frank Castorf über seinen "Don Juan", der heute abend am Münchner Residenztheater Premiere hat, die Volksbühne und Frauen in der Regie, die ihn nicht die Bohne interessieren: "Unterm Strich: Frauenfußball interessiert mich nicht. ... Ich will nur sagen, dass eine Frau dieselbe Qualität haben muss. Ich war ein großer Verehrer von Pina Bausch, oft kopiert, nie ist einer rangekommen. Nicht jeder, der ein Diplom in Theaterwissenschaft hat, ist dafür prädestiniert, Kunst ausüben zu dürfen und andere Menschen damit zu belästigen. Oder sich schlau hinzustellen und zu sagen: Dieses Stück von Shakespeare geht heute aber gar nicht mehr. Wenn eine Frau besser ist, habe ich nichts dagegen. Nur habe ich so viele nicht erlebt."

In der taz berichtet Susanne Messmer über ein geplatztes Theaterprojekt, weil sieben Tänzern aus der Elfenbeinküste das Visum für die Einreise nach Deutschland versagt wurde. Kein Einzelfall, erfahren wir: Klaus Lederer sagt: 'Es ist schizophren. Der Bund fördert die Projekte und lässt dann aber die Künstler nicht einreisen.' Auch Stephan Behrmann vom Bundesverband Freie Darstellende Künste zeigt sich alarmiert: 'Wir sind mit der Visaablehnung bei dem Berliner Projekt vertraut und vermuten hier ein systemisches Problem.' Darum appelliert Behrmann ans Auswärtige Amt, dass es eine grundlegende Überprüfung der Visapraxis bei internationalen Projekten geben müsse. 'Es ist nicht hinnehmbar, dass künstlerische KooperationspartnerInnen der Unterstellung ausgesetzt sind, die künstlerische Arbeit sei gewissermaßen ein Vorwand, um nach Europa zu migrieren.'"

Weiteres: Petra Kohse stellt in der Berliner Zeitung den ersten Übergangsspielplan der Volksbühne vor, die im wesentlichen, wie Christine Wahl im Tagesspiegel betont, von den Verabredungen Chris Dercons geprägt ist. Besprochen werden Elfriede Jelineks Bearbeitung von Oscar Wildes "Bunbury", die Michael Sturminger bei den Sommerspielen Perchtoldsdorf nur mit Frauen inszeniert hat ("Was für eine Modeschau, und erst die Hüte!", schwärmt Barbara Petsch in der Presse, "Warum so wenig Pep?", fragt dagegen Ronald Pohl im Standard), Calixto Bieitos Inszenierung von Monteverdis Oper "L'incoronazione di Poppea" in Zürich (FAZ).
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Design

In der NZZ geht Philipp Meier der Frage nach, was eine gute Teekanne ausmacht: "'Yixing' müsste es sein. Und beim Klang dieses gleichsam magischen Worts, wenn es um chinesischen Tee geht, sollten einem sogleich zierliche kleine Teepots aus rötlichbraunem Ton vor den inneren Augen tanzen."
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Stichwörter: Teekultur

Musik

Weitgehend ziemlich toll findet Detlef Diederichsen in der taz George Clintons neues Album "Medicaid Fraud Dogg", das erste seit 1980, das Clinton wieder unter dem Namen Parliament veröffentlicht hat. Es geht um die Themen Gesundheit und Selbstoptimierung, erfahren wir: Aber "Auseinandersetzung heißt hier weniger Diskurs als Meditation, Schlüsselsätze werden wiederholt, freigestellt, plötzlich leicht abgewandelt, tauchen in anderen Zusammenhängen wieder auf - ein interessantes, avantgardistisches poetisches Verfahren. ... Zur Formulierung seines Anliegens hat Clinton wieder das Format der Funk-Jam-Operette gewählt", das er bereits in den 70ern genutzt hat. All dies führt "quasi zu einer Mischung aus dem echten P-Funk und seiner retrofizierten Neuinszenierung." Zuvor besprach auch Pitchfork das Album.

Für Skug berichtet Daniil Danilets aus dem Seminarraum, in dem gerade die Texte des deutschen Raps nach Maßgabe der Theorie vom "Drittraum" seziert werden. Akademischer Befund: Die Hybridisierung von Alltag und Identität schlägt sich insbesondere auch dort nieder, wo migrantisch geprägte Biografie und deutsche Sprache musikalisch verschmelzen: "Die deutschsprachige Musik ist tolerant in dem Sinne, dass sie neue Importe aller Art zulässt, aber wohl noch nicht zum Export bereit." Allerdings wird zum Beispiel Gangsta-Rap auch dadurch nicht frauenfreundlicher, nur weil jetzt eine Frau am Mikro steht, wie Beate Scheders Fazit in der taz nach dem neuen Album von Schwesta Ewa lautet: Die Rapperin "bedient nur den altbekannten männlichen Blick. Textlich wie visuell gibt sie sich ebenso maximal vulgär, aggressiv und misogyn wie ihre männlichen Kollegen."

Weitere Artikel: In der Jungle World porträtiert Patsy l'Amour LaLove die junge Gothband Wisborg. Peter Uehling führt in der Berliner Zeitung ein Gespräch mit der Sopranisitin Marlis Petersen. Sylvia Staude amüsiert sich in der FR über die Meldung, dass Archäologen derzeit den Woodstock-Acker durchwühlen. Markus Schneider (ZeitOnline) und Harald Peters (Welt) schreiben Nachrufe auf Michael Jacksons Vater Joe Jackson. In der FAZ gratuliert Jürgen Roth Ian Paice zum 70. Geburtstag. The Quietus empfiehlt einen Mix des Londoner Trüffelschwein-Labels Finders Keepers mit obskurer Popmusik aus der Sowjetunion:



Besprochen werden David Byrnes Berliner Konzert (taz, Tagesspiegel, FAZ), Viechs "Heute Nacht nach Budapest" (Skug), das neue Album der Death Grips (Pitchfork), der Berliner Auftritt von Beyoncé und Jay-Z (Berliner Zeitung), ein Konzert der Violinistin Julia Fischer mit Dirigent Herbert Blomstedt (NZZ), ein Konzert der Jazzpianistin Aki Takase (Tagesspiegel), ein Konzert des RIAS-Kammerchors unter Chefdirigent Justin Doyle (Tagesspiegel), ein Konzert der Ensembles Hewar und Gurdjieff (Tagesspiegel) und neue Popveröffentlichungen, darunter "Voids" von Martyn - "eine tolle und vor allem fabelhaft tanzbare Platte", schreibt Jens Balzer auf ZeitOnline.

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Literatur

Im Freitext-Blog auf ZeitOnline erinnert sich die Schriftstellerin Tanja Maljartschuk unter der Überschrift #FreeSentsov daran, wie sie als kleines Kind in der Ukraine das Essen für sich entdeckte und ihre Großmutter von den Hungersnöten im Land unter Stalin erzählte: Später "aß sie schnell und ohne Genuss, sie verschluckte Teigtaschen oder Kartoffelpuffer, ohne den wirklichen Geschmack zu bemerken, egal, ob kalt oder heiß, frisch oder bereits verdorben. Nach der Mahlzeit wischte sie mit Ehrfurcht Brotbröseln vom Tisch, schmiss sie in den Mund und befahl mir, dasselbe zu machen. Ich weinte, da ich nicht mehr hungrig war. ... Ich dachte manchmal, sie selbst sehnte sich nach einer erneuten Hungersnot, vielleicht wollte sie wieder eine Katastrophe erleben, die ihr Wesen bestimmte. Es ist erniedrigend an Hunger zu sterben, es ist auch erniedrigend zu sehen, wie die anderen an Hunger sterben."

Weitere Artikel: Die FAZ hat Lena Bopps Gespräch mit der arabischen Literaturagentin Yasmina Jraissati online nachgeliefert. Besprochen werden Christian Y. Schmidts "Der letzte Huelsenbeck" (Freitag, taz), William T. Vollmanns Reportagen "Arme Leute" (Berliner Zeitung), Hiltrud Leenders' "Pfaffs Hof" (FR), Arthur Koestlers "Sonnenfinsternis" (SZ) und Jhumpa Lahiris "Mit anderen Worten" (FAZ).
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Architektur

Ein begeisterter Gottfried Knapp besucht für die SZ die frisch renovierte Münchner Residenz: "Wer jetzt nicht hingeht, sollte es für immer bleiben lassen." Besprochen wird die Otto-Wagner-Ausstellung im Wien-Museum (FAZ).
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Stichwörter: Wien-Museum

Film

Im Freitag stimmt Ekkehard Knörer mit ein in den allgemeinen Jubel über Carlo Chatrians Berufung zum künstlerischen Leiter der Berlinale, wo er ab 2020 wirken wird, und wirft ein kurzes Schlaglicht auf eine bislang kaum beleuchtete Facette der Festival-Personalien: Auch das Berlinale-Forum sucht schließlich eine neue Spitze: "Gut, dass Chatrian bei der Entscheidung über die Nachfolge von Christoph Terhechte mitsprechen kann. Das Verhältnis des Wettbewerbs zum Forum, das sich traditionell aufs Widerständige kapriziert, wird unter einem cinephilen Festivalchef nämlich zugleich spannender und prekärer, weil die Differenzen unklarer werden. Darin liegt aber ohnehin die Tendenz der Entwicklung einer sich zusehends ausdifferenzierenden Kino- und Bewegtbildlandschaft. Carlo Chatrian ist jemand, der sich in die Diskussionen darüber intellektuell-lustvoll einmischen kann."


"Leto" von Kirill Serebrennikow

In der FAZ berichtet Reinhard Veser von einer bitteren Posse in Russland: Dort steht der Regisseur Kirill Serebrennikow noch immer unter Hausarrest, während sein neuer Film "Leto" (über den in Russland populären Musiker Viktor Tsoi) nach der Premiere in Cannes (unser Resümee) nun den russischen Festivalbetrieb abklappert. Gerade erst eröffnete der Film in Sotschi "Russlands größtes Filmfestival. Finanziert wird es vom Kulturministerium, eröffnet wurde es von Kulturminister Wladimir Medinski - dem Mann, der vermutlich die treibende Kraft hinter dem Verfahren gegen Serebrennikow ist. Angriffe auf 'Leto' gab es von offizieller Seite nicht. Die staatliche Nachrichtenagentur Ria Nowosti veröffentlichte sogar eine lobende Besprechung, freilich ohne das Schicksal des Regisseurs zu erwähnen."

Weitere Artikel: In der SZ schreibt Sonja Zekri über Joachim Langs mit Lars Eidinger in der Hauptrolle besetztes Bertolt-Brecht-Biopic "Mackie Messer", das gestern das Filmfest München eröffnet hat. Im Tagesspiegel würdigt Andreas Busche Don Coscarellis "Phantasm"-Horrorfilme aus den 70ern und 80ern, die jetzt wieder in die Kinos kommen. Kracauer-Stipendiat Lukas Foerster schreibt im Filmdienst-Blog über Popmusikfilme.

Besprochen werden Marco Petrys Teenager-Komödie "Meine teuflisch gute Freundin" (Tagesspiegel), Michael Kreishls "Die Wunderübung" (online nachgereicht von der FAZ) und die zweite Staffel der Wrestlerinnen-Serie "Glow", die die #MeToo-Debatte aufgreift (NZZ).
Archiv: Film