Efeu - Die Kulturrundschau
Heiteres Inferno des globalen Kapitalismus
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Bühne

Bei den Salzburger Festspielen hat Ulrich Rasche die "Perser" des Aischylos auf die Bühne gebracht. Das Drama erzählt von der verheerenden Niederlage, die das Heer der Perser 480 v. Chr. bei Salamis erlitt. Gewohnt laut und anstrengend fand Andrea Heinz in der Nachtkritik die von Rasche angeworfene Kriegsmaschienerie, aber auch politisches Theater auf der Höhe der Zeit: "Der Mensch als kleines Rädchen in der Maschine des Lebens, so in etwa könnte man das vielleicht zusammenfassen. Ein kleines Menschlein in der großen Masse, ausgesetzt den Parolen, Stimmungen und Emotionen, dem Sog der Menge. Natürlich ist das politisch. Sorgsam wird hier gesprochen, die (sensationellen!) Schauspieler*innen wägen jedes Wort, sprechen es achtsam aus, so dass wieder zu erkennen ist, was für eine Wucht so ein gesprochenes Wort haben kann, was für eine Macht. Aber eben auch, was für eine Gefahr in so einem gesprochenen Wort steckt." Einen Triumph nennt auch Stephan Hilpold im Standard die Inszenierung und den Regisseur "den strammen Chorführer des deutschsprachigen Theaters": "Seit Einar Schleef hat niemand mehr solch machtvolle, den Atem raubende Chöre auf die Bühne gebracht und damit der Masse ein Gesicht gegeben." In der Welt sieht Björn Hayer schon einen neuen Trend zum archaischen Stil: "Wir werden in unserer entfremdeten Spätmoderne wieder sensibel für Jammer und Schauder, zwei Uranliegen des klassischen Theaters." In der FAZ sieht Simon Strauß Rasches "Drang zum Gesamtkunstwerk" allenfalls ein wenig überreizt.
SZ-Kritiker Egbert Tholl macht dagegen grundsätzliche Vorbehalte geltend: "Wenn der Schock wirkt, dann kann man dem Regisseur seine desillusionierte Sicht auf die Welt glauben und an dieser verzweifeln, denn 'Die Perser' erzählen immerwährend gültig von Hybris und Verblendung. Lässt man sich nicht überrumpeln, überwältigen, in seiner Empfindung steuern, dann bleibt nichts. Wie jede gute Propaganda setzt Rasche auf Emotion, nicht auf Intellekt. Vielleicht hat er deshalb momentan diesen Erfolg, weil viele Theatergänger das (postdramatische) Denken satt haben und wegen großer Gefühle und Pathos ins Theater gehen wollen, wo dann die Götter und 'die Vorsehung' ein sensationelles Revival feiern."

Jenseits aller Debatte wurde bei der Ruhrtiennale in Bochum Christoph Marthalers Musiktheater "Universe, Incomplete" nach Charles Ives aufgeführt, in der NZZ bejubelt Daniele Muscionico das Mammutprojekt als "alchemistisches Klangwunderwerk" und "ersten unumstrittenen künstlerischen Höhepunkt der Ruhrtriennale. In der FAZ erlebt Patrick Bahners "den Geist der Gemeinschaftsbildung aus Eigensinn". Überragend findet auch Ulrich Amling im Tagesspiegel den Abend: "Der Regisseur kombiniert aus tiefer musikalischer Einsicht vielerlei Ives' zum unfertigen Universum hinzu, traumverlorene Choräle, angeführt von der wunderbaren Tora Augestad, Ragtime-Einwürfe in Sportuniformen, gewaltige Eruptionen der unsichtbaren Bochumer Symphoniker in extrastarker Besetzung. Musikalisch ist dieser Abend ein großes Glück, weil diesen Aufwand so schnell keiner mehr mit so viel Hingabe betreiben wird."
Weiteres: FR-Kritiker Hans-Klaus Jungheinrich erkennt beim diesjährigen Festivalssommer in Salzburg eine Tendenz zu "aufgedonnerten Bühnenevents".
Architektur
Kunst
Besprochen wird die Ausstellung "Lust der Täuschung" in der Kunsthalle München (SZ).
Design
Literatur
Für den Freitag hat sich Jan C. Behmann mit Christine Becker, der Witwe Jurek Beckers getroffen, um über die Postkarten ihres Mannes zu sprechen, die sie jetzt gesammelt als Buch veröffentlicht hat. Er habe "das Genre des professionellen Postkartenschreibens" in Texas entwickelt, sagt sie. " Er wollte mehr unterhalten als Informationen mitteilen. Die Empfänger bekommen kleine, teils erfundene Geschichten gesendet. Erst in den 90ern, in denen er die meisten Karten verschickte, begann er, die Texte zu konzipieren."
Weitere Artikel: Schriftsteller Burkard Spinnen schildert im Welt-Gespräch Richard Kämmerlings die Schwierigkeiten, von Unternehmern zu schreiben. Sabine Reithmaier hat für die SZ nachgeblättert, wie die Schriftstellerin Ricarda Huch 1919 auf die Ermordung Kurt Eisners reagiert hat. In der NZZ träumt Angelika Brauer schlecht von Türen, die ins Schloss fallen. Schriftsteller Peter Stamm schreibt auf ZeitOnline über einsame Besuche im Schwimmbad.
Besprochen werden unter anderem Hannes Bajohrs "Halbzeug: Textverarbeitung" (taz), Michael Kleebergs "Der Idiot des 20. Jahrhundert" (Tagesspiegel), Franz Hessels wieder aufgelegtes Romandebüt "Kramladen des Glücks" (Jungle World), Maike Wetzels Debütroman "Elly" (SZ), Rodrigue Péguy Takou Ndies "Die Suchenden" (Freitag) und Helene Hegemanns "Bungalow" (SZ).
In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Hans Christoph Buch über Immanuel Weißglas' "ER":
"Wir heben Gräber in die Luft und siedeln
Mit Weib und Kind an dem gebotnen Ort.
..."
Film
Weitere Artikel: Nadine Lange berichtet im Tagesspiegel vom 24. Filmfestvial in Sarajevo. Besprochen werden Gus van Sants "Don't Worry, weglaufen geht nicht" (Freitag), Jan Bonnys gestriger "Polizeiruf 110" mit Matthias Brandt ("eine kluge Variation auf das Krimigenre", urteilt TV-Krimi-Experte Matthias Dell auf ZeitOnline), Norbert Pötzls Buch über den Klassiker "Casablanca" (Tagesspiegel), Jennifer Fox' "The Tale" (ZeitOnline) und neue Veröffentlichungen auf Heimmedien, darunter Raoul Walshs "Die Teufelsbrigade" und André de Toths "Gegenspionage", beide mit Gary Cooper (SZ).
Musik
Weitere Artikel: Stephanie Grimm resümiert in der taz das Berliner Festival Pop-Kultur, wo die Band Die Türen "das Publikum zum Festivalabschluss zu einem Mitsing-Mantra gegen die Angst animierte. Und die ist ja bekanntlich die Wurzel von so viel Hässlichkeit. Trost stiften. Auch das kann Popkultur. Und ganz beiläufig gesellschaftlichen Dialog ermöglichen, jenseits von Fake News und sozialer Spaltung." Gerrit Bartels ärgert sich im Tagesspiegel darüber, dass sich Farid Bang und Kollegah nach der großen Aufregung um den Echo auf ihrem neuen Album uneinsichtig zeigen und die Fans das Album auf Platz 1 der Charts gehoben haben. Für die Welt porträtiert Marion Hahnfeld den Countrysänger John Schmid, der auf Pennsylvania Dutch, einer im Deutschen gründenden Mundart, singt. Von einer sehr enttäuschenden Wiederbegegnung mit Prodigys 1997 veröffentlichtem Album "The Fat of the Land" berichtet Jesse Doris auf Pitchfork. Für die Jungle World spricht David Kirch mit dem syrischen, vor dem IS nach Berlin geflohenen Rapper Don Victory über seine Erfahrungen. Mathias Fiedler ist für die Jungle World nach Bulgarien gereist, wo sich zu den Klängen der derben Schlagersänger Honk und Ikke Hüftgold all jene deutschen Touristen eintreffen, denen es am Ballermann mittlerweile zu gesittet zugeht. Alexander Weidemann gratuliert Robert Plant in der FAZ zum Siebzigsten.
Besprochen werden Mitskis Album "Be the Cowboy" (Pitchfork), Nicki Minajs "Queen" (Tagesspiegel), Carlos Santanas Berliner Konzert (Tagesspiegel, Berliner Zeitung), Justin Timberlakes Wiener Konzert (Standard) und Ariana Grandes Album "Sweetener" (Tagesspiegel), der Berliner Auftritt von Scritti Politti (taz) und ein Konzert des Anke Helfrich Trios (FR).
In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Uwe Ebbinghaus über Snoop Doggs und Pharrells Stück "Drop It Like It's Hot":