Efeu - Die Kulturrundschau

Radierspuren im wohltuenden Vergessen

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21.12.2018. Der Filmdienst betrachtet gerührt eine Filmruine: Dennis Hoppers Regiearbeit "The Last Movie" von 1971. Zeit online sucht den Schlager von heute. Der Tagesspiegel möchte es gern der Tate Britain nachmachen, und ein Jahr lang nur Kunst von Frauen im Museum zeigen. Die Berliner Zeitung möchte es gern britischen Bühnen nachmachen und Fördergelder künftig an "Diversity" knüpfen. Wohin ist die Magie des deutschen Feuilletons verschwunden, fragt traurig der Umblätterer.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.12.2018 finden Sie hier

Film



Dennis Hoppers
Regiearbeit "The Last Movie" von 1971 galt lange Zeit als mythenrumrankte Apokryphe aus dem New-Hollywood-Kontext. Unter haarsträubenden Bedingungen in Peru entstanden, im Schnitt aus Produzentensicht kaum zu retten, galt der Film, der von den schlecht verlaufenden Dreharbeiten eines von Sam Fuller gespielten Regisseurs in Lateinamerika handelt, als chaotische, im Grunde nicht vorweisbare Ruine, die lange Zeit kaum zugänglich war. Am 27. Dezember kommt nun eine digital restaurierte Version des Films auch in die deutschen Kinos: Wiederzuentdecken gibt es "ein zerstückeltes Machwerk, in seinen besten Augenblicken hypnotisch und nachdenklich, in seinen schwächsten albern und selbstverliebt", schreibt Patrick Holzapfel im Filmdienst. "Selbstverständlich liegt es nicht fern, die Wiederaufführung dieses Films mit der erschreckenden Wiedergeburt des kapitalistischen, alles überfahrenden Macho-Cowboys in den USA kurzzuschließen. Allerdings wirkt 'The Last Movie' zu sehr in seiner spezifischen Zeit verankert. Mehr als die große politische Geste liest man in den Augen von Hoppers Kansas eine Sehnsucht nach Freiheit und Frieden, die in einer zum Teil selbstverschuldeten Hölle aus Gewalt und Fremdheit erwacht."

Weitere Artikel: Samuel L. Jackson wird 70 Jahre alt - Verena Lueken (FAZ) und David Steinitz (SZ) gratulieren. Besprochen werden Rob Marshalls "Mary Poppins"-Sequel (Tagesspiegel, FR), das "Transformers"-Prequel "Bumblebee" (Tagesspiegel), Nicolas Bedos' Komödie "Die Poesie der Liebe" (Tagesspiegel) und die Serie "The Bodyguard" (NZZ).
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Literatur

Update: Die FAZ meldet, dass F.W. Bernstein im Alter von 80 Jahren gestorben ist. Der Lyriker zählte neben Robert Gernhardt, Eckhard Henscheid, F.K. Waechter, Chlodwig Poth, Bernd Eilert, Peter Knorr und Hans Traxler zu den Mitbegründern der Neuen Frankfurter Schule, aus der die Satirezeitschrift Titanic hervorging.

Den Umblätterer packt die Wehmut: Betrauert werden Brillanz und Glanz, die das Feuilleton noch vor einigen Jahren ausgestrahlt hat. Zwar gibt es von liebgewonnenen Autoren auch heute noch hie und da ein Lebenszeichen, "doch die Magie, das Unmittelbare des Feuilletons ist verschwunden. Ab und zu blitzt sie noch mal auf, wenn zum Beispiel Danilo Scholz dieser Zeit in der taz hinterherschreibt oder Max Scharnigg etwas Platz gegeben wird. Doch größtenteils schreiben die Leute (schon wieder? immer noch?) über Ernst Jünger, führen seltsame Interviews oder Ein-Themen-Experten, schreiben irgendwas Blitzgescheites über China und ich sehe die Überschriften, sehe die Autorennamen, die meist öde Bildersprache und denke, ja, superschlau, gelehrt und gelernt, und der eigentliche Text erst, - oh, wow."

Kaum gelesen, schon vergessen - so geht es vielen bei der Lektüre von Georges Simenons derzeit neu aufgelegten Maigret-Romane, schreibt Erhard Schütz im Freitag. Wobei dies insofern von Vorteil ist, als man die Bücher so immer wieder neu entdecken kann. Auch Simenon selbst ging es so: "Er vergesse seine Romane, sobald sie geschrieben seien. Zurück bleibe nur ihre Atmosphäre. Federico Fellini bekannte, ihm bleibe von der Lektüre stets nur 'ein unverwechselbares, sehnsüchtiges Gefühl'. Radierspuren im wohltuenden Vergessen. Es ist wohl die Wirkung eines Verfahrens, das bei weiten Wechseln des Milieus, großer Bandbreite des Personals und der Konfliktkonstellationen auf ein Muster hinauslief: Das saugende, sehnsüchtige Gefühl, von dem Fellini sprach, ist ein elementar religiöses, erscheint gewissermaßen als Epiphanie, Kommunion und Beichte in eins."

Weitere Artikel: Im Logbuch Suhrkamp berichtet der Schriftsteller Paul Brodowsky davon, wie er durch Tiflis schlendert, in einer Bar landet und dort ein unerquickliches Gespräch mit einer Barsängerin über die politische Situation Europas führt. Die Welt hat in Erfahrung gebracht, welche Bücher die Kritikerin Mikaela Blomqvist liebt, die künftig bei der Vergabe des Literaturnobelpreises beratend mit zur Seite stehen wird - ihr Herz gewonnen haben unter anderem Emily Brontes "Sturmhöhe" und Roberto Bolanos "2666". In der NZZ redet Daniel Haas allen jenen ins Gewissen, die damit liebäugeln, ihren Lieben Bücher des Schriftstellers und Grünen-Chefs Robert Habeck unter den Weihnachtsbaum zu legen: Dessen politische Essays und Jugendromane seien zwar wunderbar dafür geeignet, doch bei der Belletristik für etwas reifere Leser knarzt es beträchtlich im literarischen Gebälk, meint er. Stefan Michalzik hat für die FR eine Lesung von Max Goldt besucht. Die Welt hat Denis Schecks Würdigung von Cervantes' "Don Quijote" online nachgereicht.

Außerdem geben die tazler Geschenktipps für die letzte Minute: Andreas Fanizadeh etwa empfiehlt das mit "toll gezeichneten Karten" versehene Buch "Die Seidenstraße: Eine Weltgeschichte für Kinder". Der Perlentaucher rät Kurzentschlossenen für letzte Inspirationen zu unserer Zusammenstellung der besten Bücher der Saison beziehungsweise der jüngsten Bücherbriefe, letzte Tipps gibt auch Arno Widmann, der im Perlentaucher Bücher vom Nachttisch räumt, Krimiempfehlungen finden sich in Mord und Ratschlag, Lyrikempfehlungen in der Tagtigall und Fotobücher werden im Fotolot vorgestellt.

Besprochen werden unter anderem Felicitas Hoppes "Prawda - Eine amerikanische Reise" (Freitag), zwei neue Romane von Gabriela Adameşteanu (online nachgereicht von der FAZ), Selahattin Demirtaş' Storyband "Morgen Grauen" (mit Empfehlung von Günter Wallraff in der Zeit) und eine "Peanuts"-Ausstellung im Somerset House in London (SZ).
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Design

Besprochen werden Lorna Tuckers Kino-Dokumentarfilm über Vivienne Westwood ("Einmal Punk, immer Punk", meint Marcus Weingärtner in der Berliner Zeitung) und eine Luigi Colani gewidmete Ausstellung im Museum für Badekultur in Zülpich (Welt).
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Kunst

Für ein Jahr hängt die Tate Britain alle Werke männlicher Künstler ab - zumindest in der zeitgenössischen Abteilung - und ausschließlich die weiblicher auf, berichtet Inga Barthels im Tagesspiegel: "Auch die Alte Nationalgalerie in Berlin plant 2019 eine Schau nur mit Künstlerinnen. Das Problem: Frauen in der Kunst werden als Special-Interest-Sujet behandelt, während Kunst von Männern weiterhin als universal betrachtet wird. Die Tate-Initiative ist radikaler, weil es sich nicht um eine Sonderschau handelt, sondern Künstlerinnen selbstverständlich die britische Kunstgeschichte repräsentieren. Zunächst mögen solche Maßnahmen übertrieben erscheinen. Doch sie könnte Vorbild auch für deutsche Institutionen sein, denn viel zu lange hing fast ausschließlich Kunst von Männern in den Museen. Das Ab- und Umhängen könnte zum Gegengift werden in einem immer noch toxischen System."

Besprochen werden eine Ausstellung der Fotografin Annette Kelm in der Kunsthalle Wien (Standard) und eine Ausstellung von Bildern aus Ernst Ludwig Kirchners Schweizer Jahren im Brücke-Museum in Berlin-Dahlem (taz).
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Bühne

In der Berliner Zeitung schlägt Kevin Rittberger vor, "Diversität" an Berliner Bühnen ähnlich wie in England zu pushen: über Geld und Vorschriften. "Das britische Modell liegt hier auf der Hand. Mit dem Arts Council England ist den Theatern eine Instanz übergeordnet, die das Gelingen einer progressiven Diversitätsentwicklung der Theater über Fördertöpfe direkt honorieren kann. ... Der britische Autor Hassan Mahamdallie, der für den Arts Council England den Creative Case for Diversity, eine Handlungsanleitung für die Umsetzung von Diversität und Inklusion geschrieben hat und zur letzten Tagung in Berlin eingeladen war, misstraut langsamen und freiwilligen Veränderungen. Das immer noch als normal empfundene Zentrum der weißen, männlichen, mittelständischen Mehrheit betrachtet Randgruppen in Projekten oder Events von oben herab als Abweichungen oder Exotismen." (Frauen gehören nicht zum Mittelstand? Die Mehrheit in Berlin ist nicht tatsächlich "weiß"? Fragen über Fragen.)

Besprochen werden Philippe Quesnes "Crash Park" im Berliner Hau (Berliner Zeitung, nachtkritik), Robert Lepages "Kanata" in Paris (Tagesspiegel) und "Dirty Dancing" am Staatstheater Braunschweig (taz).
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Musik

Eine schwere Bürde hat sich Jana Gioia Baurmann aufgelastet: Für eine große, leider hinter einer Paywall versteckten Zeit-Reportage hat sie sich durch das hiesige, immens erfolgreiche und darin längst nicht mehr nur auf Helene Fischer einschränkbare Schlager-Segment durchgearbeitet. Für ZeitOnline abgefallen sind dabei immerhin noch ziemlich umfangreiche Interview-Snippets mit Protagonisten aus der Szene. Dass Pop und Schlager in Deutschland so rigoros getrennt werden, erklärt sich etwa Jürgen Drews so: "Die Öffentlich-Rechtlichen haben das befeuert. Deren Sendungen waren festgefahren, da war kein Platz für Experimente. Ich beispielsweise kam dort kaum vor, weil meine Songs zu poppig waren. ... Der herkömmliche Schlager, den man jahrzehntelang beigebracht bekommen und blind gekauft hat, stirbt aus. Auch weil die Käufer sterben. Das Internet hat Schlager zu dem gemacht, was er heute ist. Ich freue mich, dass Pop und Schlager sich annähern, manchmal sind sie auch identisch. Tim Bendzko, zum Beispiel, oder Mark Forster, Max Giesinger - deren Songs könnte ich auch singen." Dann käme immerhin zusammen, was zusammengehört.

Weitere Artikel: Die Spex meldet: Ab Februar 2019 geht es weiter - als Online-Magazin mit kleiner Zahlschranke, hinter der auch der Zugriff aufs historische Archiv des Magazin lockt. Besprochen werden Roger Willemsens Essaysammlung "Musik" (NZZ, FAZ) und ein Konzert von Feine Sahne Fischfilet (FR).
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Stichwörter: Drews, Jürgen, Schlager, Paywalls