Efeu - Die Kulturrundschau

Von einem sicheren Sitzplatz aus

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28.12.2018. In Monopol denkt Ulf Erdmann Ziegler über den sexuellen Körper in der Kunst nach. Hyperallergic erinnert an die Welt der jüdischen Rentner in Miamis South Beach, die die Fotografen Gary Monroe und Andy Sweet festgehalten haben. Der Standard berichtet, wie russische Bürokraten das Kino im Land bevormunden. Die Welt wünscht sich wieder mehr Härte im Kinderbuch. Die taz kaut an der Tatsache, dass subversive Musik ohne fördernde Konzerne nicht überlebt. Und Frankreich erwartet sich vom neuen Houellebecq einen Serotoninstoß.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.12.2018 finden Sie hier

Kunst

Emmet Gowin "Edith, Danville, Virginia", 1971. Foto: Yale University Art Gallery, © Emmet Gowin


In einem schönen Essay für Monopol macht sich Ulf Erdmann Ziegler Gedanken über den sexuellen Körper in der Kunst. Einst tabuisiert und versteckt, steht er seit den sechziger Jahren im Mittelpunkt und wird mit Bedeutung aufgeladen. So auch in diesem Bild des Fotografen Emmet Gowin: "In 'Edith, Danville, Virginia' von 1971 steht seine Frau in der geöffneten Tür eines Holzschuppens breitbeinig, ihr Nachthemd anhebend, und pisst auf den Boden. Die Pfütze läuft nach innen ab, in Richtung des Betrachters. Dass das Bild aus dem Inneren der Scheune gemacht wurde, ist entscheidend: erstens, weil der Wildwuchs im Hintergrund die Figur trägt und definiert - Edith ist Natur -, und zweitens, weil der Betrachter im Innenraum genau das entscheidende Stück mehr zur Zivilisation gehört, wie er muss, um in der Übertretung eine erotische Delikatesse zu erblicken. Die kleine Scheune steht metaphorisch für die Kamera. Setzen wir die Fotografie gleich mit der Zivilisation, wird der zivilisierte Raum insofern kulturell definiert, als er nicht dazu dient, Natur auszuschließen, sondern, im Gegenteil, das Nichtzivilisierte hineinzulassen, zumindest bis an die Schwelle des Bewusstseins."

Heji Shin, XRays, 2018
Plötzlich sprechen in der Kunst alle von den weiblichen Geschlechtsteilen, notiert eine zufriedene Daniele Muscionico in der NZZ anlässlich einer Ausstellung von Heji Shin in der Kunsthalle Zürich: "Weibliche Kunst findet eine Bestätigung und Erfüllung darin, das Private und das Sexuelle zu veröffentlichen und als Stärke zu benennen. Sie zeigt: Unter der Oberfläche der Haut liegt die Kraft, die Welten verändert und schafft. Künstlerinnen bewerten das Weibliche neu und führen es der Öffentlichkeit vor Augen als eine schöpferische Quelle."

Szene aus "The Last Resort". Foto: Gary Monroe

South Beach in Miami war jahrzehntelang ein Paradies für jüdische Rentner, erzählt Bedatri D. Choudhury in Hyperallergic. Daran erinnert derzeit ein Film, "The Last Resort", der auf den Fotografien von Gary Monroe und Andy Sweet aus den Siebzigern und frühen Achtzigern beruht: "Sweet mit seiner bunten Palette und Monroe mit seinem formelleren und steiferen Schwarz-Weiß, fotografierten besessen die ältere jüdische Bevölkerung von South Beach. Während sich die jüdische Gemeinde längst in andere Stadtviertel in Miami verstreut hat, erinnern die Fotos an die hellsten Tage der Gemeinde. Sweet fotografierte die sich selbst so nennenden 'Verandahocker' in der Sonne - mit Hut, plaudernd, Zeitung lesend. Verbunden mit der Welt, von einem sicheren Sitzplatz aus, während der Rest des Landes mit Anti-Kriegs- und Bürgerrechtsbewegungen beschäftigt war. Miami, das den Spitznamen Little Jerusalem erhielt, blieb eine Blase."

Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Real Pop 1960-1985" im Brandenburgischen Landesmuseum für moderne Kunst in Frankfurt an der Oder (taz), eine Ausstellung über die Königsschlösser und Fabriken Ludwigs II. in der Münchner Pinakothek der Moderne (Welt), Grafiken und Fotografien zu Gedichten von Johannes R. Becher aus dem Kunstarchiv Beeskow, ausgestellt im Schloss Biesdorf (FR), die Schau "Mantegna und Bellini" in der National Gallery in London (SZ) und eine Ausstellung des Malers Ed Ruscha in der Wiener Secession (FAZ).
Archiv: Kunst

Bühne

Besprochen werden Evgeny Titovs Inszenierung von Molières "Der eingebildete Kranke" am Staatstheater Wiesbaden (FR) und Herbert Fritschs Inszenierung von de Sades "Philosophie im Boudoir" am Schauspielhaus Bochum (SZ).
Archiv: Bühne

Film

Im Standard berichtet Herwig G. Höller, wie die russische Bürokratie das Kino gängelt - unter anderem das Dokumentar-Festival Artdocfest, das sich der Kulturminister Wladimir Medinski besonders vorgeknöpft hat: "Angesichts gesetzlicher Verschärfungen, die nur Vorführungen von Filmen mit staatlicher Vertriebslizenz erlaubten, musste Festivaldirektor Manski kürzen: Während er das vollständige Programm in der lettischen Hauptstadt Riga präsentierte, ließ er im Moskauer Oktoberkino nur lizenzierte Filme laufen. Vor jeder Vorführung wurde jedoch über jene 71 von 127 Filmen informiert, die ausschließlich im Internet gezeigt werden konnten. Wären die Filme im Kino präsentiert worden, hätte das Festival mit Geldstrafen zwischen 1.300 und 2.600 Euro pro 'illegaler' Vorführung rechnen müssen."

Im Artechock-Interview spricht Christoph Terhechte, langjähriger Leiter des Berlinale-Forums, über seine neue Arbeit als Leiter des Filmfestivals Marrakesch, das sich weniger an den allgemeinen Festival-Jetset richtet, sondern die Bevölkerung vor Ort zum Kinogang animieren soll. Von Zensur betroffen sei seine Arbeit dort im übrigen nicht, sagt er und stellt außerdem fest, "dass sich was verschiebt in den arabischen Kinematographien, dass neue Arten von Kino - die es natürlich als Marginale immer gegeben hat - immer mehr nach oben drängen. Und dass es in verschiedenen Ländern der arabischen Welt geradezu eine neue Welle an Filmemachern gibt. Im Programm haben wir zum Beispiel vier ägyptische Filme einer jungen Generation, die nicht mehr das traditionelle ägyptische Melodram vertritt, sondern eine völlig andere, modernere Art der Erzählung. Etwa Yomeddine, der auch in Cannes im Wettbewerb gezeigt wurde. Solche Filme, die so einen frischen, manchmal rebellischen Geist verströmen, gibt es regelmäßig in letzter Zeit, in vielen arabischen Ländern."

Weitere Artikel: Dem Zürcher Publikum empfiehlt Geri Krebs in der NZZ eine dem Schweizer Dokumentarfilmer Tobias Wyss gewidmete Retrospektive im Lunchkino. Besprochen werden Hirokazu Kore-Edas "Shoplifters" (FR, Welt, mehr dazu hier), Jafar Panahis "Drei Gesichter" (FAZ, unsere Kritik hier), Haifaa Al Mansours Biopic "Mary Shelley" (Standard, Tagesspiegel), Caroline Links Verfilmung von Hape Kerkelings Kindheitserinnerungen "Der Junge muss an die frische Luft" (Tagesspiegel), Çazla Zencircis und Guillaume Giovanettis "Sibel" (Tagesspiegel) sowie die auf Sky Atlantic gezeigte Serie "Escape at Dannemora" (FAZ).
Archiv: Film

Literatur

In ein paar Tagen erscheint in Frankreich "Sérotonine", der neue Roman von Michel Houellebecq. Der Verlag hat den Journalisten ein Besprechungsverbot vor dem heutigen Tag auferlegt, das einige Medien aber schon gebrochen haben. Laurence Houot vom Radiosender Franceinfo (deren Text, anders als die der Printkollegen online zu lesen ist) hat sich an die Frist gehalten: "Florent-Claude ist ein houellebecquianischer Held' reinsten Wassers. 46 Jahre alt, Beamter im Landwirtschaftsministerium, für das er Berichte an die Adresse der Verhandlungsführer in EU-Fragen schreibt. Er trinkt eine ganze Menge, träumt von jungen Frauen, zerstört die Rauchmelder in Hotels, trennt seine Abfälle nicht, liebt Tiere. Er lebt in der Stadt, liebt aber Waldspaziergänge über alles. Und der starke Raucher ist auch stark depressiv." Und dann kriegt er es auch noch mit Monsanto zu tun!

Die SZ hat sich im Kulturbetrieb nach den besten Büchern des Jahres umgehört. Eine kleine Auslese: Für Terézia Mora ist Michael Hvoreckys "Troll" ein Roman "in der besten Tradition der europäischen Groteske". Maxim Biller staunt über Oliver Guez' "Das Verschwinden des Josef Mengele", dem es gelingt, "Mengele nicht als außerirdisches Monster zu beschreiben, sondern als deutschen Prototyp" - und trotzdem wurde das Buch auch in Deutschland zum Bestseller. Für Diedrich Diederichsen ist Virginie Despentes' "Vernon Subutex"-Trilogie das Romanprojekt zur Gegenwart der Musikjournalismuskrise, zudem gelingt der Autorin ein "post-subkulturelles, so plausibel wie plastisch inszeniertes Pariser Panorama". Kulturhistoriker Thomas Macho stößt in Elias Canettis Briefesammlung auf einen "Schatz von mehr als sechshundert Zeugnissen aus 62 Jahren". Und in Andrea Scrimas "Wie viele Tage" erkennt Esther Kinsky "ein Bild aus Fragmenten brüchiger Orte, subtil und eindringlich dargestellt. Beeindruckend ist die Dichte der Stimmungen, die Wetter, Licht, Gerüche, Farben physisch erlebbar werden lassen."

Überall nur weichgespülte Ware: In der Welt plädiert Marlen Hobrack für wieder mehr Härte und Grausamkeit in Kinderbüchern: "Märchen und Gruselgeschichten schildern menschliche Urängste. Ihre Bildsprache wirkt unmittelbar aufs Unbewusste und hilft gerade kleinen Kindern, die ihre Ängste nicht in Worte fassen können, bei der Bearbeitung derselben. ...  Solche Geschichten haben eine psychische Entlastungsfunktion für Kinder."

Weitere Artikel: Im Standard führt Michael Wurmitzer durch die Welt des boomenden Alpenkrimis. Die FAZ dokumentiert Christoph Ransmayrs Dankesrede zur Verleihung des Kleist-Preises. Der DLF bringt eine Hörspieladaption von J.A. Bakers Erzählung "Der Wanderfalke", erklärtermaßen da absolute Lieblingsbuch von Werner Herzog (worüber der Filmemacher in diesem Podcast ausführlich spricht).

Besprochen werden unter anderem Adam Zamoyskis Napoleon-Biografie (NZZ), J.K. Rowlings neuer, unter dem Pseudonym Robert Galbraith veröffentlichter Thriller "Weißer Tod" (Welt), neue Comics von Birgit Weyhe (Tagesspiegel), Markus Lusts Debüt "Semmelmenschen" (Standard), eine Ovid-Ausstellung in der Scuderie del Quirinale in Rom (NZZ), ein Band mit Michael Köhlmeiers politischen Texten (FR) und Thøger Jensens "Ludwig" (NZZ).
Archiv: Literatur

Musik

In einem großen Überblick in der taz skizziert Philipp Rhensius die Problematiken und Herausforderungen, die sich daraus ergeben, dass auch explizit coole und unabhängige, sich subversiv und marginal gebende Musik heute längst in den Fängen großer Konzerne hängt: "Wir hören morgens von Werbung unterbrochene Musik auf Soundcloud, posten mittags Songs auf den Websites internationaler Medienmonopole und gehen abends auf Konzerte, die von Energy-Drinks oder hippen Schuhmarken finanziert werden. ... Doch warum stellen sich etliche Künstler*innen nach wie vor hinter die Red Bull Music Academy? Es steht womöglich viel mehr auf dem Spiel als ein bisschen Kohle eines fragwürdigen Unternehmens. Womöglich hat das immense Kapital von Red Bull und Co. eine prekäre, von staatlichen Förderungen weitgehend ignorierte Musikindustrie künstlich am Leben gehalten - und damit nicht nur für das Überleben der Künstler*innen, sondern auch des eingangs beschriebenen Mythos gesorgt."

Weitere Artikel: Werner Block berichtet in der NZZ etwas sehr nachgereicht vom Berliner Festival Female Voices of Iran, das bereits im November stattfand (unser Resümee). In der Popmusik ist es immer angesagter, sich zu psychischen Krankheiten zu bekennen, schreibt Amira Ben Saoud im Standard. Uli Krug wirft in der Jungle World einen Blick zurück in die Achtziger, als die Popmusik auf die Panik- und Weltuntergangsstimmung in den Medien reagierte. In der taz lässt sich Dirk Schneider von Josefine Fosters Album "Faithful Fairy Harmony" reich beschenken. Wer im Kino Avantgardemusik erleben will, muss Horrorfilme schauen, schreibt Christian Schachinger im Standard in seinem Jahresrückblick über die besten Horrorsoundtracks, von denen ihm insbesondere Colin Stetsons Musik zu "Hereditary" begeisterte. Wir schaudern ein wenig mit:

Archiv: Musik