Efeu - Die Kulturrundschau

Tanzen heißt geschmeidig werden

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13.07.2019. Die SZ verschlingt die Körperbilder der Miriam Cahn in München. Die Berliner Zeitung schwelgt im Potsdamer Museum Barberini lieber in barocken Leibern. Die nachtkritik folgt Christiane Mudra auf dem Weg eines Attentäters durch München. Jungle World amüsiert sich über Vanessa Paradis als Pornoregisseurin. Und die taz tanzt mit Yabby You und King Tubby durch ein leidendes Kingston dem Weltuntergang entgegen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.07.2019 finden Sie hier

Kunst

Miriam Cahn. fleischbild/familienbild. 29.11+06.12.2017. Galerie Meyer Riegger and Galerie Jocelyn Wolff. Foto: Markus Mühlheim

Pure Körperlichkeit und Bilder, die als Kommentar zur "MeToo"-Debatte gelesen werden könnten, entdeckt SZ-Kritikerin Susan Vahabzadeh in der großen Miriam-Cahn-Ausstellung im Münchner Haus der Kunst: "Es gibt auch detaillierter ausgearbeitete Gesichter, da ist beispielsweise eine Frau mit einem blauen Schleier, die ein Mann im Würgegriff hat, während ein zweiter ihr unter den Rock greift. Und dann kommt es einem, an einer anderen Wand, fast so vor, als würde man ihr wiederbegegnen: in 'le milieu du monde, schaut zurück' starrt einen eine Frau hinter dem blauen Schleier frech an, während sie dem Betrachter ihren entblößten Unterleib entgegenstreckt. Der Schleier, der ihren Kopf verhüllt, ist eigentlich dazu, ihre Sexualität zu negieren; in Cahns Gemälde bricht sie sich Bahn."

Ganz überwältigt kommt Ingeborg Ruthe (Berliner Zeitung) aus dem Potsdamer Museum Barberini, das in der Ausstellung "Wege des Barock" derzeit Werke der italienischen Nationalgalerien Barberini Corsini zeigt und schon dank der technischen Projektion im ersten Saal mit einem Knall eröffnet: "Das Barock-Konzept Urban VIII. wird deutlich, zeigt des Malers Pietro da Cortonas meisterlich inszenierte Größe, den Machtanspruch der Barberini. Allegorien der Tugenden flankieren die der göttlichen Vorsehung, Papst- Tiara und der Schlüssel Petri sind präsentiert. Und immer wieder, in allen Bildvarianten, das Trio der drei großen Bienen, die Wappentiere der Barberini-Familie. Die starken Lichteffekte und die kräftigen Farben wirken magisch, illusionierend die dynamische Bewegung der realistischen, üppigen Leiber. Der Übergang vom gebauten zum gemalten Raum und jedes Detail fügen sich zum überbordenden Fest für die Augen."

Weitere Artikel: Mit der neu eröffneten Berliner James-Simon-Galerie ist Nikolaus Bernau in der Berliner Zeitung durchaus zufrieden, rät aber dazu, lieber das Bode-Museum zu besuchen: "Dort ist nämlich das 1904 erstmals eingeweihte Simon-Kabinett wiederentstanden, eine Sensation der Berliner Museumslandschaft. Exquisite Bronze- und Terrakottaskulpturen, die Elfenbeinmadonna Pisanos und das Porträt Bronzinos, angeordnet wie in einem Sammlerkabinett, so weit wie möglich wie auf den von dem Kurator Neville Rowley detailliert ausgewerteten Dokumenten. Großartig!" Im Standard erinnert Olga Kronsteiner daran, dass sich das Vermögen, mit dem die Milliardärin und Mäzenin Heidi Horten ihr 700 Werke umfassendes Privatmuseum in Wien finanziert, nicht zuletzt der NS-Arisierungspolitik verdankt, durch die ihr erster Ehemann Helmut Horten zum Kaufhausmagnaten aufsteigen konnte.
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Literatur

Nur wärmstens empfehlen kann Marion Detjen in der "10 nach 8"-Reihe auf ZeitOnline Mustafa Khalifas Buch "Das Schneckenhaus", das sich in Syrien seit seiner Erstausgabe in Französisch im Jahr 2007 per Raubdruck und Raubdigitalisat zum "wichtigsten Werk der syrischen Exilliteratur" entwickelte und "während der Revolution als Metapher für den Zustand des Landes unter Assad gelesen" wurde. "Die westliche Lager- und Gefängnisliteratur des 20. Jahrhunderts besaß noch als ein prägendes Merkmal, dass es irgendwann, irgendwo noch eine diesseitige, bessere Welt gibt, auf die Hoffnung gesetzt werden, aus der Befreiung kommen und die erinnert werden kann. Bei Primo Levi und bei Solschenizyn entsteht, während unter der totalitären Gewalt des Lagers die Gesellschaft vollständig zusammenbricht, in der Erinnerung und in der Literatur die Ethik des Humanismus, des schützenswerten Individuums und seiner Subjektivität neu. Diese humanistische Ethik prägt auch Khalifas Roman, doch sie konfrontiert sich in Tadmor damit, was eigentlich passiert, wenn überhaupt kein weltliches Heil mehr existiert, wenn es keine Rettung und keine Befreiung und keine bessere Zukunft und keine Fluchtmöglichkeit in ein besseres Land mehr gibt, wenn die Despotie allumfassend wird und die Zivilgesellschaft völlig vernichtet ist."

Bei einem Abend in Greifswald wurde Welt-Redakteur Jan Küveler noch einmal schmerzlich der Unterschied zwischen der von Christian Kracht und Eckhart Nickel herausgebenen Literaturzeitschrift Der Freund und der heutigen Literaturzeitschrift Das Wetter bewusst: "Während im Freund elegantes Parlando vorherrscht, ist der Ton im Wetter bitterer, härter und selbst in den Ausflügen Richtung Surrealismus realistischer und hemmungslos politischer. Die Kunst zu leben, der sich 'Der Freund' widmet, wird bei Sternburg explizit ersetzt durch eine 'Kunst zu sterben'. Ohne das Motto 'Irony is over' kommt keine Sammlung von Gemeinplätzen zum Thema Popliteratur aus. In Greifswald schien es, als habe es erst in der nächsten Generation seine Berechtigung gefunden."

Mit Kummer stellt die Literarische Welt fest, dass das New Yorker Flat Iron Building, lange Zeit Sitz des Macmillan-Verlags, derzeit wegen Sanierung, vor allem aber wegen der teuren Mieten literarisch leer steht: "Wer findet, das sei als Metapher für den heutigen Zustand des Verlagswesens schon beinahe übertrieben deutlich, der könnte durchaus recht haben."

Weiteres: Literatur, ja das Schreiben an und für sich ist alles andere als klimaverträglich, tadelt Andreas Rosenfelder in einer Kolumne in der Literarischen Welt. Im Dlf Kultur spricht der Comichistoriker Guido Weißhahn sehr ausführlich über die Geschichte des Comics in der DDR. Im Feature für Dlf Kultur befasst sich Sigrid Brinkmann mit neuer Literatur aus den französischen Randgebieten. In den "Actionszenen der Weltliteratur" erinnert Rainer Moritz daran, dass Albert Camus in jungen Jahren Torwart war. Im "Literarischen Leben" der FAZ schreibt Jochen Hieber über den vor 200 Jahre geborenen, Schweizer Schriftsteller Gottfried Keller.

Besprochen werden Zadie Smiths Essayband "Freiheiten" (NZZ), Catherine Laceys "Das Girlfriend-Experiment" (Literarische Welt), Violaine Huismans "Die Entflohene" (SZ), Simon Strauß' "Römische Tage" (NZZ, Dlf Kultur hat mit dem Autor gesprochen), Jewgeni Wodolaskins "Luftgänger" (taz), Herman Melvilles Essayband "Die große Kunst, die Wahrheit zu sagen" (taz), Jonathan Robijns "Kongo Blues" (Jungle World), Michael Rutschkys "Gegen Ende. Tagebuchaufzeichnungen 1996 - 2009" (Freitag), Georges Simenons "Maigret im Haus der Unruhe" (Dlf Kultur) und Corinna T. Sievers' "Vor der Flut" (FAZ).
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Musik

Sehr verzückt ist tazler Detlef Diederichsen über die Wiederveröffentlichung von Yabby Yous und King Tubbys "Walls of Jerusalem", auf dem sich mit "Fire Fire Dub" ein zentrales Stück des letztgenannten findet: Es handelt sich um einen "Rundgang durch ein leidendes Kingston in fünf Strophen, im Zuge dessen das Feuer seine Bedeutung wandelt: vom Horror, den der Erzähler in der Stadt erlebt oder bezeugt, zum Feuer, das in Babylon brennt und nun für dessen verdientes, nahes Ende steht.  ... Wie sich der zarte, aber sehr melodiöse Bass das untergangsgeweihte Babylon erschließt, entspricht genau der Subjektivität der leicht klagenden, aber auch minimal amüsierten Aufzählung der verschiedenen Runden, die Yabby You durch Kingston dreht."



Mit Deep House, dessen Protagonisten mittlerweile auch in Ehren ergraut sind, lässt sich gut alt werden, meint Tobi Müller auf ZeitOnline, der sich selbst als "Raver Ende 40" zu erkennen gibt, der im Club immer häufiger von deutlich jüngeren Mitmenschen umgeben ist. "Tanzen ist ein gutes Trainingsprogramm gegen die geistige Verengung. Neugier statt Rechthaben, Zuhören statt Reden, Offenheit für das, was anders ist man selbst. Tanzen heißt geschmeidig werden, den Körper den Beats überlassen, den Geist der Menge anvertrauen. Sich nicht so wichtig nehmen. Der Spaß beginnt da, wo die Selbstbestimmtheit aufhört. ... Es gibt kein Rezept für das betreute Tanzen im Alter. Es kann peinlich werden. Oder göttlich. Oder beides, wie jenseits der Clubmauern. Raven bedeutet Realness. Noch deckt das keine Lebensversicherung ab."

Der Schriftsteller Jaroslav Rudiš gratuliert in der FAZ Karel Gott zum 80. Geburtstag, der in seiner Heimat Tschechien politisch gesehen zwischen Stütze des einstigen Regimes und Symbol des politischen Wandels eine eher ambivalente Figur gewesen ist: "Ganz gleich, ob Regimes untergehen und Machthaber gestürzt werden oder wie es mit uns weitergeht - Karel Gott singt heute noch von einer Schönheit namens Lady Carneval."



Weitere Artikel: Christel Burghoff ist für die taz ins mittelfränkische Wolframs-Eschenbach gereist, dem vermutlichen Geburtsort des Minnesängers und "Parzival"-Autors Wolfram von Eschenbach. Besprochen werden Ed Sheerans neues Album (SZ) und ein von Riccardo Muti dirigiertes Beethoven-Konzert in Athen (FAZ).
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Bühne

Politisches Theater at its best erlebt Nachtkritikerin Anna Landefeld bei Christiane Mudra, die sich in ihrem Stück "Kein Kläger. NS-Juristen und ihre Nachkriegskarrieren" bereits zum dritten Mal den rechtsextremen Kontinuitäten in der deutschen Justiz seit dem Nationalsozialismus widmet und die Zuschauer dafür quer durch München an Originalschauplätze wie das OEZ schickt, wo ein Achtzehnjähriger im Jahr 2016 einen fremdenfeindlichen Anschlag verübte: "Wenn Sebastian Gerasch vor dem Gerichtsgebäude in der Nymphenburger Straße, in dem gegen Beate Zschäpe verhandelt wurde, plötzlich lautstark-fanatisch als Hitler auftritt, dann sorgt das nicht nur beim Publikum für Unbehagen, sondern auch bei den Passant*innen, die sich dem Geschehen nicht entziehen können. (…) Sogar Entscheidungen dürfen oder müssen getroffen werden, so beispielsweise eine sehr unheimliche: Folgt man am OEZ dem Weg des Attentäters durch die Einkaufspassagen, oder geht man mit den Schauspieler*innen einen anderen Weg. Das heißt: Nimmt man die Perspektive des Attentäters ein, durchlebt die Strecke zwischen Parkdeck und McDonalds und sieht die Orte, die auch er sah - oder geht das alles womöglich schon zu weit?"

"Wie kann eine solche Gesellschaft sich zu so viel Körperfeindlichkeit aufpeitschen lassen, wie es seit der Präsidentschaft des offen rassistischen und homophoben Präsidenten Jair Bolsonaro passiert?", fragt Astrid Kaminski in der taz brasilianische TänzerInnen und ChoreografInnen, darunter auch Júlia Rocha und Eduardo Fukushima: "Die gesellschaftliche Polarisierung, die in Bezug auf die moralischen Werte einer pluralistischen Gesellschaft sichtbar wird, sehen sie zum großen Teil als Bildungsproblem. Der momentan arretierte Lula da Silva gilt ihnen als der erste Präsident (2003-2011), der sich um Bildungs-, Sozial-, Diversitäts- und Genderpolitik gekümmert hat. 'Es war die Zeit, in der Tanzstudiengänge an den Unis aufgemacht wurden. Wir haben, anders als unsere Lehrer_innen, ein Universitätsstudium abgeschlossen. Sie gingen ins Ausland, um sich ein Leben als Künstler_innen aufzubauen, wir blieben. Wir sind die Generation Lula.'"

Besprochen werden Nicole Claudia Webers Inszenierung von Felix Mitterers "Brüderlein fein" bei den Raimundspielen Gutenstein (nachtkritik), Carolin Pienkos' und Cornelius Obonyas Inszenierung von Mozarts "Zauberflöte" in der Oper im Steinbruch in St. Margarethen (Standard), Leonard C. Prinsloos Inszenierung von Franz Lehars "Land des Lächelns" bei den Seefestspielen Mörbisch (Standard) und Romeo Castelluccis Bühnen-Inszenierung von Mozarts Requiem beim Festival in Aix-en-Provence ("Welch eine modische Kopfgeburt!", ruft Anja-Rosa Thöming in der FAZ)
Archiv: Bühne

Design

Sarah Pines meditiert in der NZZ über die Geschichte von Camp und wie Camp in der heutigen Modeszene wieder ein Comeback feiert: "Der Weg, den der Camp beschritt - von der Aristokratie zuerst zum dekadenten Großbürger, dann zu den Kreativen und schließlich als Businessmodell des Mainstreams -, war am eindrücklichsten an der Met Gala zu sehen. ... Die exklusiven Gäste des amerikanischen Showbiz waren angehalten, in campy Kleidung zu erscheinen. Das Resultat: kostspielige Mode auf einer Skala von schrill-karnevalesk bis fad. 'Intending to be camp is always harmful', hat Susan Sontag schon vor Jahrzehnten geschrieben. Das Problem des Camp war stets die Kluft zwischen der hippen Szene und dem Rest der Gesellschaft. Er wandelte sich, er war immer neu, anders, frivol, aber großzügig und sensibel nur sich selbst gegenüber. Ist Lady Gaga denn ebenso campy wie Oscar Wilde?"

Für das ZeitMagazin plaudert Louis Lewitan mit dem Modedesigner Paul Smith, der überhaupt nur durch einen Unfall zu seiner Profession fand.
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Film

Die Spielfreude des Undergroundkinos: "Messer im Herz"

Viel Spaß hat Jungle-World-Kritiker Holger Heiland mit Yann Gonzalez' queerem "Messer im Herz" - ein Film über eine lesbische, von Vanessa Paradis gespielte Pornoregisseurin in den 70ern, in dem sich diverse Entwürfe aus dem subkulturellen Fundus des Kinos vereinen: "Mit vorwiegend in Blau, Rot und Blond gehaltenen Bildern huldigt Gonzalez dem cineastischen Pornofilm und - mehr noch - dem heute weitgehend bedeutungslosen Genre des Giallo, das in den siebziger Jahren im italienischen Kino seine Blüte erlebte. ... Vor allem mit seinem schrägen Humor verweist 'Messer im Herz' immer wieder auch auf die Unterschiede zwischen gegenwärtigem Filmemachen und den Praktiken des alten Underground-Kinos."

Weiteres: Sehr zu seinem Bedauern hat er die Serie "Chernobyl" nicht selbst geschrieben und ist sie auch nicht in Russland entstanden, sagt der derzeit mit der dritten Staffel von "Deutschland 83" beschäftigte Drehbuchautor Michael Idov im ZeitOnline-Gespräch. Joachim von Gottberg, langjähriger Leiter der FSK und FSF, blickt im Filmdienst auf 70 Jahre FSK zurück. Sophia Zessnik empfiehlt in der taz eine dem Schriftsteller Jörg Fauser gewidmete Berliner Filmreihe. Netflix reagiert auf laut gewordene Kritik, in den Serien des Online-Fernsehsenders werde zu viel geraucht, schreibt Andreas Thamm auf ZeitOnline.

Besprochen werden eine neue Version von Francis Ford Coppolas Vietnamfilm-Klassiker "Apocalypse Now" (taz), Mariano Llinás knapp 14-stündiger, im Berliner Kino Arsenal gezeigter Film "La Flor" (Berliner Zeitung) und Allan Mauduits "Rebellinnen" (Standard).
Archiv: Film