Efeu - Die Kulturrundschau

Schrei ins Leere

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14.08.2020. Die NZZ hört in Salzburg Werke von Salvatore Sciarrino und Georg Friedrich Haas: Mehr Gegenwartsbezug geht nicht, versichert sie. Die Jungle World kommt über Kanye West darauf, dass es ein Milieu schwarzer Alt-Right-Aktivisten gibt. Wie man Sinnlichkeit und Analyse verbindet, lernt der Tagesspiegel in einer Werkschau des Filmregisseurs Hartmut Bitomsky. Der Tagesspiegel ist ganz hingerissen von dem Museum, das David Chipperfield für die Sammlung Würth gebaut hat. Die FR sieht, von Aby Warburg inspiriert, in der Berliner Gemäldegalerie Heilige, die einen Drachen steigen lassen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.08.2020 finden Sie hier

Kunst

anschachtel / Brautschachtel, Inschrift: "Efter Spaadom skal syv Quinder treatte om en mans bure", 1702 © Staatliche Museen zu Berlin, Museum Europäischer Kulturen / Christian Krug 


FR-Kritiker Arno Widmann besucht in der Berliner Gemäldegalerie eine Ausstellung zum "Bilderatlas Mnemosyne" des Kulturhistorikers Aby Warburg, der damit zeigen wollte, wie sich bestimmte Gesten und Mienenspiele in der Kunst seit der Antike ständig wiederholen. Widmann erliegt schnell den Verführungen, die Warburg ihm anbietet: "Aby Warburgs Kunst, die Dinge aus ihrem Zusammenhang zu reißen und in einen anderen zu stellen, wirkt sehr animierend. Vielleicht sogar ein wenig zu sehr. Man traut sich, Sachen zu sehen, die gar nicht da sind. Zum Beispiel einen Heiligen, der einen Drachen steigen lässt. In Wahrheit aber sieht man auf Jacopo del Sellaios Gemälde 'Landschaft mit biblischen Szenen und Szenen aus Heiligenlegenden' den Heiligen Franz von Assisi, wie er auf dem Berg Alverna bei Arezzo von einem Seraphim die Stigmata Christi empfängt. Einen Schritt weiter gibt es ein Reklameplakat aus dem Jahre 1930, ein junges Mädchen, das an der Hand seiner Mutter Fisch kaufen geht, während es an der anderen Hand einen Luftballon hält. Warburg hat Mutter und Tochter voller Freude in seine Sammlung aufgenommen, weil er darin so etwas wie eine Wiedergeburt des antiken Niobe-Motivs sah. Aber: Wem einmal die Augen geöffnet wurden, der sieht nicht mehr nur das, was er sehen soll."

Sonja Zekri unterhält sich für die SZ per Videoanruf mit einigen Künstlern im halb zerstörten Beirut. Verzweifelt sind sie und fast schon jenseits der Hoffnung, es könnte mal besser werden: "Zaatari ist einer der Gründer der Arab Image Foundation, eines Archivs für arabische Fotografie: 'Unsere Sammlung hat das Unglück überstanden, Fotografien, Negative, auch digitale Abzüge, aber unsere Büros sind verwüstet. Die Druckwelle hat Schreibtische und Computer zerstört und die Türen verbogen.' Ein Teil der Sammlung wurde evakuiert und ins Nicolas-Ibrahim-Sursock-Museum in Achrafieh gebracht, aber das Museum für zeitgenössische Kunst - untergebracht in einem venezianisch-osmanischen Palast - wurde selbst beschädigt, die bunten Glasfenster, einzelne Werke, kein Totalschaden, aber auch nichts, was in einem Land wie Libanon ohne Weiteres zu reparieren wäre. Andere traf es schlimmer. Gaia Foudolian, die Direktorin der Letitia Galerie in Hamra, kam ums Leben, ebenso der Architekt Jean-Marc Bonfils, der das Gebäude entworfen hatte, in dem die Galerie Tanit untergebracht war, die ebenfalls beschädigt wurde, so wie auch das Beirut Art Center."

Besprochen wird außerdem die Ausstellung "Down to Earth" im Martin-Gropius-Bau in Berlin (Tsp)
Archiv: Kunst

Musik

Bei den Salzburger Festspielen kam Salvatore Sciarrinos "Agitato cantabile (capriccio sulla lontananza)" ein Solo für Horn durch Christoph Walder zur Uraufführung, das der Komponist im Corona-Lockdown komponiert und als Reaktion auf diesen konzipiert hat, erklärt Marco Frei in der NZZ. Dynamisch und direkt fällt es aus: "Das Horn täuscht eine komplexe Klang-Polyfonie vor, ein Spiel aus Nähe und Distanz", und in dieser "fiktiven Vielstimmigkeit des (an sich einstimmigen) Horns scheint ein Mensch ein Selbstgespräch zu führen: in Einsamkeit zurückgeworfen, mit Verlangen nach Austausch. Dieser Schrei ins Leere prägt ähnlich auch das Stück 'in vain' von Georg Friedrich Haas, wenn auch mit anderen Mitteln. In dem Mammutwerk, den Ausmaßen und dem Anspruch einer Bruckner-Sinfonie vergleichbar, höhlt Haas mit Mikrotonalität, Glissandi und clusterhaften Klangteppichen das tonale Gefüge konsequent aus. ... Mehr Gegenwartsbezug ist in zeitgenössischer Kunst kaum denkbar." In der SZ berichtet Michael Stallknecht.

In der Jungle World meditiert Andreas Strauch über das zwar angekündigte, bislang aber ausgebliebene neue Album von Kanye West und generell über den, diplomatisch gesagt, zum Wunderlichen neigenden Rapper als Popkulturphänomen. Dessen "politische Ideen sind nicht als zusammenhanglose Äußerung eines Wahnsinnigen zu verstehen", meint Strauch, vielmehr sei West "Teil eines Milieus schwarzer Alt-Right-Aktivisten wie Candace Owens, in dem liberaler Politik Rassismus und in machen Fällen sogar ein stiller Genozid unterstellt wird - pro choice als Plan, den Bevölkerungsanteil der Afroamerikaner zu senken."

Außerdem porträtiert Nadja Dilger in der Berliner Zeitung die Berliner Techno-DJ Ellen Allien.
Archiv: Musik

Literatur

Auch der Tagesspiegel spricht mit der Kabarettistin und Romandebütantin Lisa Eckhart, deren Ausladung aus einer Hamburger Wettbewerbslesung nach "besorgten Warnungen aus der Nachbarschaft" in den letzten Tagen die Kulturdebatten bestimmt hat (weitere Gespräche bereits hier). Dass die Satire seit Trump doch ein Goldenes Zeitalter erlebe, hält sie für "Unsinn, weil sich jetzt die Politiker meiner Narrenfreiheit bedienen. Wie soll ich noch Grenzen überschreiten, wenn sie von Politikern längst überschritten sind? Die politische Korrektheit sollten als Erstes Politiker betreiben, doch das war dann plötzlich ein Anspruch, der an die Kunst gestellt wurde, was absolut nicht ihre Aufgabe ist."

Kein gutes Haar lässt SZ-Autor Jens-Christian Rabe - in einem Artikel zum Zustand des deutschen Humors und jenseits der Frage der Cancel Culture- an den Qualitäten Lisa Eckharts: "Eckharts ganzer Act... feiert in der ostentativen Wiederholung die allerbilligsten Klischees. Und typischerweise wird dabei in alter deutscher Kabarett-Tradition der gute alte Alltag der Vergangenheit gegen den degenerierten Alltag der Gegenwart ausgespielt." Rabe lässt übrigens auch die linken Kabarettisten von der "Heute Show" nicht gut wegkommen: "Der deutsche Comedian, die deutsche Comedienne verbünden sich - von den üblichen zarten Pro-forma-Frotzeleien abgesehen - mit dem anwesenden Publikum gegen abwesende Dritte, um diese dann genüsslich zu deklassieren."

In der Berliner Zeitung trauert die Schriftstellerin Tanja Langer um Beirut und wünscht sich nichts mehr, als dass dort die alten Machtstrukturen endlich abdanken und sich Libanon um seiner Bevölkerung willen gegenüber dem westlichen Ausland öffnet: "Man kann sagen, dass unter dem französischen Mandat, als man die Leute machen ließ, mit einer gewissen Unterstützung, das Land durchaus zur Blüte kam."

Weitere Artikel: Daniel Ammann denkt in der NZZ über das Verhältnis des Lesepublikums zu Romanfiguren nach. Lars von Törne (Tagesspiegel) und Andreas Platthaus (FAZ) gratulieren dem Cartoonisten Gary Larson zum 70. Geburtstag. Besprochen werden unter anderem Alan Bennetts "Der souveräne Leser" (FR) und Sally Rooneys "Normale Menschen" (SZ).
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Architektur

Von rationalistischer Perfektion: Das Museum Würth 2 von David Chipperfield


Im Tagesspiegel ist Falk Jaeger ganz hingerissen von dem Museum, das David Chipperfield in Künzelsau für die Sammlung Würth gebaut hat. "Ähnlich wie Chipperfields Literaturarchiv in Marbach thront das Würth-Forum wie eine Akropolis auf der Anhöhe. Mit dem Bau der Glas-Stahl-Moderne in der Nachfolge Mies van der Rohes haben Chipperfield und sein Partner Alexander Schwarz die rationalistische Perfektion auf die Spitze getrieben. Zwei Wangenmauern bilden mit dem kubischen Saalbau einen offenen, steinernen Hof wie eine klassische Agora als Vorplatz und erweitertes Foyer. Über die rechte Mauer lugt der gläserne Überbau der neuen Kunsthalle. Schon im Vorfeld wird der Besucher von prominenten Großplastiken empfangen."
Archiv: Architektur

Film

Das Zeughauskino des Deutschen Historischen Museums in Berlin widmet sich ab heute in einer repräsentativen Werkschau dem Schaffen des Dokumentar- und Essayfilmers Hartmut Bitomsky, der zum legendären ersten Jahrgang der Berliner Filmhochschule dffb gehöre. "Wie für die schlauen Köpfe der Nouvelle Vague war das Filmen und das Denken über Film in Bitomskys Arbeiten unauflöslich miteinander verzahnt", erklärt Andreas Busche im Tagesspiegel. "Er gehörte zum hochpolitisierten Kern des ersten dffb-Jahrgangs, drehte marxistischen Agitprop wie 'Die Teilung aller Tage', aber auch Beiträge für die 'Sesamstraße'. ... Doch Bitomsky erkannte auch früh die Limitierung einer (linken) Ideologiekritik am Kino, die dessen Formensprache gänzlich ignoriert." So "ist das Schöne an den Texten und Filmen von Bitomsky, wie sie Sinnlichkeit und Analyse verbinden; er berichtet sozusagen aus dem Maschinenraum der Bilder." Insbesondere Bitomskys frühe Filme, schreibt Peter Nau in einem kleinen taz-Essay, "werden in ihrer verspielt-wagemutigen, fragmentarischen Erzählweise ihren Reiz nie verlieren." Ein von Frederik Lang, dem Kurator der Filmreihe, verfasstes Dossier über Bitomsky gibt es online im dffb-Archiv.

Weitere Artikel: Christiane Peitz (Tagesspiegel), Harry Nutt (FR) und Lory Roebuck (NZZ) gratulieren Wim Wenders zum 75. Geburtstag. Im Dlf Kultur sprechen Matthias Dell und (der auch für den Perlentaucher tätige) Filmkritiker Jochen Werner ausführlich über das Kino Dieter Hallervordens.

Besprochen werden Sally Potters Demenzdrama "The Roads Not Taken" mit Elle Fanning und Javier Bardem (Tagesspiegel), Leonie Krippendorffs "Kokon" (Freitag), Randa Chahouds "Nur ein Augenblick" (Tagesspiegel), die Netflix-Doku-Serie "Immigration Nation" (Berliner Zeitung) und ein von Juliane Lorenz und Lothar Schirmer herausgegebener Band mit Film Stills aus Rainer Werner Fassbinders Filmen (FAZ).
Archiv: Film

Bühne

"Lulu" von Franz Wedekind in der Inszenierung von Peter Zadek, 1988. Foto © Johannes Grützke / Deutsches Theatermuseum München / Roswitha Hecke


Simon Strauß spaziert für die FAZ in München vom Schuhmann's ins Deutsche Theatermuseum gegenüber, um sich eine Ausstellung zum deutsch-österreichischen Regietheater anzuschauen, die, wie er versichert, jeder Theaterliebhaber gesehen haben muss. Umfassend ist sie nicht, es geht mehr um Antipoden: Reinhardt und Jessen, Gründgens und Kortner, Stein und Peymann (dazwischen Zadek), und ihren Einfluss, erklärt er. "Natürlich fehlen für eine auch nur einseitige Theatergeschichte große Namen wie Klaus Michael Grüber, Luc Bondy, Robert Wilson, Frank Castorf oder Andrea Breth. Aber um Vollständigkeit geht es hier auch nicht, sondern eher um die Suche nach Einflüssen. Das zentrale Charakteristikum des Regietheaters, dass sich nämlich der Gestaltungswille der Inszenierung eigenständig gegenüber dem dramatischen Werk verhält, wird dabei von den Protagonisten selbst auf unterschiedliche Weise konterkariert. Keiner von ihnen ist jedenfalls ein leichtfertiger Dekonstrukteur, keiner lässt poetische Worte zugunsten von plattem Aktivismus untergehen."

Besprochen werden Aufführungen von Ligna, dem Peng! Collective und Florentina Holzinger beim Sommerfestival Kampnagel Hamburg (nachtkritik)
Archiv: Bühne