Efeu - Die Kulturrundschau

Schwafelnd, schwankend und stolpernd

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19.11.2020. Wie wollen wir künftig wohnen? Eine Frage, die die FAZ gern auf einer internationalen Bauausstellung diskutiert sähe. Die NZZ blickt melancholisch auf Kunstsammlung Emil Bührles, die ohne Waffenverkäufe nicht zustande gekommen wäre. Die taz erinnert an die Modefotografin Louise Dahl-Wolfe. Das Van Magazin untersucht die dubiosen Geschäftspraktiken des amerikanischen Musiklabels Orpheus Classical. Dlf Kultur fragt, warum das Monopol Magazin Black Lives Matter an die Spitze der Top 100 der wichtigsten Akteure der Kunstwelt gesetzt hat. Und nicht Donald Trump.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.11.2020 finden Sie hier

Musik

Mit auf den ersten Blick traumhaft wirkenden Bedingungen geht das US-Label Orpheus Classical derzeit auf große Suche nach klassischen Musikern, die sich von dem Deal eine prestigesteigernde CD und Auftrittschancen versprechen: 75 Prozent der Kosten würden durch das Label abgedeckt, den Rest müsse der Musiker selbst aufbringen. Für journalistische Nachfragen ist bei dem Label allerdings kaum jemand aufzutreiben, wie Jeffrey Arlo Brown bei seinen Recherchen für VAN feststellen musste: Ein Knackpunkt bei der ganzen Sache ist nämlich, dass das Angebot bei nochmaligem Hinsehen zunehmend dubios erscheint: Angeblich "koste die physische Herstellung von 1.000 CDs inklusive Distribution 30.200 Euro, ein digitales Release schlage noch mit immerhin 6.200 Euro zu Buche. Der 'Sponsorship'-Anteil von 75 Prozent, den das Label nach eigener Aussage übernimmt, beliefe sich also auf 22.650 Euro bzw. 4.650 Euro. Diese hohen Summen passen nicht zu den Leistungen, die Orpheus Classical anbietet. Das Label vermarktet weder sich noch seine Künstler:innen auf einem Niveau wie die Deutsche Grammophon oder Sony Classical. ... Anbieter wie RecordJet bieten ein Paket zur digitalen Vermarktung eines Albums über die großen Streaming-Plattformen ab 29 Euro an. In Deutschland kostet die Pressung von 500 CDs ungefähr 650 Euro, inklusive Hüllen, Booklet und Cellofanfolie."

Weitere Artikel: Für die SZ porträtiert Peter Münch die israelische Musikerin Liraz Charhi, die entgegen der Gesetzeslage in Iran gemeinsam mit iranischen Musikern ein Album aufgenommen hat. Hartmut Welscher spricht für VAN mit der Geigerin Julia Fischer. Merle Krafeld hat für VAN ein großes Gespräch mit dem Kulturphilosophen Christoph Henning geführt. In VAN gibt Albrecht Selge Bruckner-Tipps. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen schreibt Arno Lücker diesmal über Leonora Duarte. Besprochen wird ein Album mit Raritäten und Unveröffentlichtem von Dave Alvin (Standard).
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Bühne

Urs Bühler berichtet in der NZZ von Plänen für den Abriss des Zürcher Schauspielhaus, das durch einen Neubau ersetzt werden soll. Das ist nicht nur der falsche Zeitpunkt, es ist auch die falsche Politik, findet Bühler: "Dass das vor vierzig Jahren zuletzt umfassend erneuerte Schauspielhaus starken Sanierungsbedarf hat, ist unbestritten. Und es ist völlig legitim, dass seine Crew für noch bessere Arbeitsbedingungen kämpft und das Beste für ihre Kunst herausholen will. Doch die Politik ist keine Fee, die alle Wünsche erfüllt - besonders in diesen Zeiten, in denen kleinere, weniger subventionierte Kulturstätten eher ums Überleben kämpfen, als an eine Optimierung denken zu können. Und so unattraktiv, wie die Promotoren einer kompletten Modernisierung es nun darstellen, ist das Schauspielhaus weder für seine Angestellten noch für seine Besucher. Die Drohung, es werde ohne Neubau bald seine Bedeutung einbüßen, wirkt erzwungen."

Weiteres: In der taz reagiert Barbara Behrendt ähnlich unbegeistert wie ihre Kollegen (nur mit großer Verspätung) auf die Ernennung von Iris Laufenberg zur neuen Intendantin des Deutschen Theaters. Im Interview mit Astrid Kaminski (taz) stellt der Choreograf Christoph Winkler sein "performatives Mixtape" über den Poptheoretiker Mark Fisher vor.
Archiv: Bühne

Architektur

Kürzlich schlug Ursula von der Leyen einen Green Deal für ökologisches Bauen vor und berief sich dabei auf das Bauhaus. In der FAZ denkt Niklas Maak weiter: Eine internationale Bauausstellung wäre gut, eine, die auch überlegt, für wen und für welche Ansprüche heutzutage gebaut werden müsste. "Man muss aufpassen, dass die grüne Revolution nicht die gleichen Kisten noch mal baut, diesmal nur aus Holz. Die Gefahr einer 'Ästhetik des Systemwandels' ist tatsächlich, dass sie Forderungen bloß ästhetisch bedient, deren Erfüllung eine politische sein müsste. Kürzere Wege zwischen Arbeit und Wohnen bringen mindestens so viel wie exzessive Begrünung. Schließlich prägen auch Dinge das Bauen und die Zukunft der Stadt, die nichts mit Dämmwerten, sondern mit Wertvorstellungen zu tun haben. Das Bauhaus, von dem von der Leyen träumt, müsste nicht nur Architekten und Künstler, sondern auch Hacker und Programmierer beschäftigen - der größte Schatz, den die Stadtgesellschaften des digitalen Zeitalters produzieren, sind Daten. Mit ihnen könnte man schneller und präziser Politik machen, wenn man sie nicht wie bisher steuerfrei den Digitalkonzernen zur Verfügung stellt."
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Kunst

Das Kunstmagazin Monopol hat die "Black Lives Matter"-Bewegung an die Spitze ihrer Top100-Liste der wichtigsten Akteure der Kunstwelt gesetzt. Im Dlf Kultur findet Carsten Probst diese Entscheidung reichlich merkwürdig: "Auch einem Kunstmagazin wie Monopol scheint mittlerweile nicht mehr so klar zu sein, wo Kunst anfängt oder aufhört. Wenn Black Lives Matter auf Platz eins steht, müsste dort, nüchtern betrachtet, eigentlich auch Donald Trump stehen. Er schwebt jedenfalls wie ein Elefant im Raum über allem, denn sein Einfluss auf das globale Kunstgeschehen war weltweit sicher nicht geringer als das von, sagen wir, Donna Haraway. Oder das Coronavirus ... Was aber noch nachdenklicher stimmt: Die Liste bezieht sich auf Themen und Namen, über die man eben in Deutschland oder Mitteleuropa so diskutiert. Und das im Namen der Diversität? Wäre die Top100-Liste eine kuratierte Ausstellung, würde ihr Whitewashing vorgeworfen werden: Selbstdarstellung als besonders gerecht und antidiskriminierend auf dem Ticket anderer - und das zu Recht!"

Henri de Toulouse-Lautrec, Zwei Freundinnen, 1895. Aus der Sammlung Emil Bührle


Das Kunsthaus Zürich hat mit der Sammlung Bührle eine großartige Kollektion von Kunst aus dem 20. Jahrhundert. Aber der Sammler Emil Georg Bührle war nicht nur Kunstliebhaber, sondern auch Waffenproduzent. Dem wollte sich das Kunsthaus in den 10er Jahren stellen und stimmte einer - von der öffentlichen Hand finanzierten - Studie über die Entstehung der Sammlung zu, berichtet Philipp Meier in der NZZ. Wirklich neu seien die in der Studie dargebotenen Fakten nicht: "Bührles Sammlung, die bereits in den fünfziger Jahren als eine der bedeutendsten Privatkollektionen weltweit galt und bis zu seinem Tod 1956 über 600 Kunstwerke für rund vierzig Millionen Franken umfasste, wurde nicht nur mit Waffenlieferungen an NS-Deutschland und die Achsenmächte, sondern später auch durch Geschäfte mit den USA während des Koreakriegs finanziert. Das Erbe seiner Kunst steht daher für immer in direktem Zusammenhang mit dem Waffengeschäft." Meier wünscht sich daher, dass diese Geschichte jetzt auch im Kunsthaus vermittelt wird.

Im Standard unterhält sich Katharina Rustler mit Lisa Ortner-Kreil über deren Initiative Art Hoc Projects, die Kunst in den öffentlichen Raum bringen will. Das hat mehrere Vorteile, meint Ortner-Kreil: "Dort müssen nicht die Menschen zur Kunst, sondern die Kunst muss zu den Menschen kommen. Es ist kein organisierter Raum. Man kann eine breite Menge an Menschen erreichen. Hinter der sicheren Haut einer Institution sind die Diskurse viel kalkulierbarer - das ist im öffentlichen Raum überhaupt nicht so. Das macht es kuratorisch auch so reizvoll."

Weitere Artikel: In Berlin haben die Bauarbeiten für das neue Museum der Moderne begonnen, meldet der Tagesspiegel. Besprochen wird die Ausstellung "Total Space" im Museum für Gestaltung in Zürich (NZZ)
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Literatur

Wylie as Wylie can - der berühmt berüchtigte in New York und London ansässige Literaturagent Andrew Wylie macht seinem Spitzenamen "der Schakal" einmal mehr alle Ehre: Der in Valencia beheimatete spanische Verlag Editorial Pre-Textos, seit mehr als vierzig Jahren eine der vornehmsten und kultiviertesten Adressen für die Publikation von Lyrik in der spanischsprachigen Welt, hat, über viele Jahre hin, Übersetzungen von sieben der elf Gedichtbände der frischgebackenen Nobelpreisträgerin Louise Glück veröffentlicht und damit wohl mehr als jeder andere Verlag außerhalb des angelsächsischen Sprachraums. Nun bekam Pre-Textos Post von der Agentur Wylie: die Übersetzungsrechte für Werke Louise Glücks werden ihm nicht verlängert. Gleichzeitig bietet die Agentur sie hinter dem Rücken seiner bisherigen Verleger anderen spanischsprachigen Verlagen zur Veröffentlichung an - Kulturkapitalismus der deprimierendsten Art. El Pais hat mit einem Artikel auf den Vorgang aufmerksam gemacht, zugleich kursiert im Netz ein offener Brief an die Autorin - von der offenbar bislang keine eigene Stellungnahme zu erhalten war - und ihren Agenten. Zur Freude der Verleger aus Valencia haben diese inzwischen Solidaritätsbekundungen vieler ihrer spanischen Kollegen erhalten, denen von Wylie die Rechte am Werk Louise Glücks angeboten wurden, die sie jedoch unter diesen Umständen ablehnten. Spannend wird zu verfolgen sein, ob sich dennoch ein spanischsprachiger Verlag finden wird, der sich auf den unschönen Deal einlässt.

In seinem neuen Roman "Kein Ort ist fern genug" erzählt Santiago Amigorena von seinem Großvater, der in den Zwanzigern aus Polen nach Buenos Aires migrierte und schließlich von Schuldgefühlen geplagt wurde, als er mitansehen musste, was die Nazis in Polen anrichteten. "Ich wusste immer, dass ich eines Tages ein Buch über das Schweigen meines Großvaters schreiben würde", erzählt Amigorena im Gespräch mit dem Freitag. "Bisher hatte ich immer über mein eigenes Schweigen geschrieben. Ich wusste ja, dass er sehr verschlossen war, niemals über die Shoa redete und den Tod seiner Mutter in Treblinka. Den Tod seines Bruders. Das war kein Geheimnis, alle in der Familie wussten über das Schweigen meines Großvaters Bescheid. ... Ich erinnere mich daran, wie wir zusammen in den Straßen von Buenos Aires spazieren gegangen sind, er ist ja niemals nach Europa zurückgekehrt. Ich erinnere mich an einen sehr alten Mann. Er ist nach dem Krieg so schnell gealtert."

Weitere Artikel: Die Schriftstellerin Eva Sichelschmidt schreibt in der SZ, dass sie keine Schuldgefühle mehr plagen, weil sie wegen Corona ziemlich verschlufft. Im Gespräch mit der Berliner Zeitung unterstreicht Jonathan Franzen aufs Neue, wie aussichtslos der Kampf gegen den Klimawandel seiner Ansicht nach mittlerweile geworden sei. In der FAZ berichtet Simon Strauß von Madame Nielsens Poetikvorlesung in Zürich und Hubert Spiegel an dieser Stelle von Monika Rincks Poetikvorlesung in Frankfurt.

Besprochen werden unter anderem der Band "Schreibtisch mit Aussicht" mit Texten von Schriftstellerinnen über das Schreiben (Berliner Zeitung), Wolfgang Welts "Die Pannschüppe" mit postumen Texten (Tagesspiegel), Iain Lawrences Jugendroman "Winterpony" (online nachgereicht von der FAZ) und Georg Trakls "Dichtungen und Briefe" (FAZ).
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Film

Hofnarr in Kulisse: Gary Oldman in "Mank" (Gisele Schmidt/Netflix)

Für Netflix hat David Fincher mit "Mank" ein Biopic über den Drehbuchautor Herman J. Mankiewicz gedreht, der seinerzeit "Citizen Kane" geschrieben hat und sich gegen die Hexenjagd der McCarthy-Ära engagierte. Die Hauptrolle spielt Gary Oldman. An großartigen Momenten gibt es in diesem Film zwar keinen Mangel, schreibt Tobias Sedlmaier in der NZZ. Der "wohl eindrücklichste ereignet sich gegen Ende, als sich ein sehr betrunkener Mankiewicz vor versammelter, hübsch herausgeputzter Hollywood-Gesellschaft komplett zu dem Hofnarren macht, für den er seiner zynischen Bemerkungen wegen ohnehin gehalten wird. Schwafelnd, schwankend und stolpernd skizziert er die Leitmotive für das Meisterwerk, für das er später gemeinsam mit Welles den Oscar für das beste Drehbuch erhalten würde." Doch ist der Film insgesamt "zu vollgestopft mit letztlich ziellosen Erzählsträngen".Die Schweizer können den Film derzeit im Kino sehen, in Deutschland wird er wohl am 4. Dezember online gehen.

Weitere Artikel: Andreas Busche porträtiert im Tagesspiegel Alex Moussa Sawadago, den Kurator des Afrikamera-Festivals. Anke Leweke empfiehlt in der taz die Retrospektive des Filmfestivals Mannheim-Heidelberg, das Filme der Nouvelle Vague zeigt.

Besprochen werden Peter Kahanes auf DVD veröffentlichter Defa-Film "Vorspiel" aus dem Jahr 1987 (taz), Edoardo Pontis Netflix-Drama "Du hast das Leben vor Dir" mit Sophia Loren (FR, mehr dazu bereits hier), die Sky-Serie "The Good Lord Bird" mit Ethan Hawke (taz), Andres Veiels TV-Film "Ökozid" (ZeitOnline, mehr dazu bereits hier), Ulrike Koflers Film "Was wir wollten" mit Elyas M'Barek (SZ) und zwei Filme im Stream: Patric Chihas Doku "Brüder der Nacht" über Roma-Jungen, die in Deutschland als Stricher arbeiten, und Biene Pilavcis Doku "Alleine Tanzen", die nach Erklärungen für die Familienhölle sucht, in der sie und ihre Geschwister aufwuchsen (Perlentaucher).
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Design

Carmela Thiele erinnert in der taz an die Modefotografin Louise Dahl-Wolfe, die vor 125 Jahren geboren wurde. Von den 30ern bis zu den 50ern arbeitete sie für Harper's Bazaar: "Die Kleidung wurde damals lässiger, auch für Frauen. Das entsprach Dahl-Wolfes Lebensgefühl, sie brachte Natürlichkeit und Witz in die festgefahrenen Konventionen der Modefotografie. Sie beschäftigte sich zudem intensiv mit den Möglichkeiten der Farbfotografie, die damals aufkam. Sie erkundigte sich vorab nach den Farben der Kleider und stimmte die Kulisse darauf ab. Es heißt sogar, dass sie den Art Director um die geplanten Seiten-Layouts bat."
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