Efeu - Die Kulturrundschau

Etwas derart Eckiges

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09.12.2020. Nach dem Verkauf seiner Songs an Universal Music feiern taz, FR und Tagesspiegel Bob Dylan jetzt als Singer, Songwriter und gerissenen Rechteverwalter. Der Standard bewundert, wie einladend rechtwinklig Adolf Loos bauen konnte. Die SZ bangt mit Florenz um sein ikonisches Stadio Artemio Franchi. Die taz stellt das Carrefour Théâtre von Ouagaoudou vor, das SchauspielerInnen eine ähnliche Zukunft wie Fußballern eröffnen möchte. In der FAZ meldet der Kunsthistoriker Harold von Kursk Zweifel an der These, dass eigentlich Charlotte Perriand die Cobusier-Liege erfunden hat. ZeitOnline weint dem Ikea-Katalog Tränen der Jugend nach.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.12.2020 finden Sie hier

Musik

Für tazler Julian Weber ist Bob Dylans Move, die Autorenrechte seiner rund 600 Songs an Universal Music - und nicht etwa an sein veröffentlichendes Label Columbia - zu verkaufen, ziemlich gerissen: Wenn Dylans Songs "im Radio, im Fernsehen, auf der Bühne und im Netz gespielt werden, schlagen sogenannte Aufführungsrechte zu Buche und bei den Tonträgerverkäufen sogenannte mechanische Rechte. In der riesigen Umlaufbahn, in der die Songs von Dylan zirkulieren, ist es ein geschickter Schachzug des Künstlers und seines Managements, die Publishing-Rechte bei einem anderen Konzern als dem Publishing-Arm seiner Plattenfirma auszulagern." Das Verhältnis zwischen Singer-Songwriter und Rechteverwaltung hatte Dylan ohnehin schon einmal revolutioniert, indem er auf die Einheit von Autor und Interpret pochte, erinnert Harry Nutt in der FR: Nun beweise der Musiker erneut, "dass das Masterpiece seiner Karriere nicht allein im unermüdlichen Schreiben neuer Songs bestand, sondern auch in der sach- und marktgerechten Verwaltung seines musikalischen Erbes. Der Dichter ist nicht bloß Dichter, früh hat er auch den Ruf erworben, ein guter Geschäftsmann zu sein."

Neben dem Geldsegen dürften wohl auch rein praktische Erwägungen Dylan zu diesem Deal bewogen haben, meint Gerrit Bartels im Tagesspiegel: Um die Rechteverwaltung hat sich der Musiker zumindest in den USA bislang selbst gekümmert. "Der Aufwand dafür dürfte gewaltig gewesen sein." Zudem erreicht Dylan langsam ein Alter, in dem "man die eigenen Angelegenheiten geordnet haben sollte: im Hinblick auf ein bedeutendes Werk, das nun in seiner Gesamtheit von einem Verlag verwaltet wird. Und nicht zuletzt hinsichtlich eines komplizierten Erbes, um das es jetzt bei Dylans Nachkommen womöglich zu weniger Streitigkeiten kommt."

Die großen Konzerne kaufen derzeit eh im großen Stil große Rechtepakete ein, weiß Daniel Gerhardt auf ZeitOnline. Die Milliarden sitzen locker. "Das liegt einerseits daran, dass sich das Tonträgergeschäft gerade endgültig zum Streaminggeschäft wandelt: eine Entwicklung, die durch die Corona-Pandemie nochmals verstärkt und beschleunigt wurde. Während mit dem Verkauf von Classic-Rock-Platten vielleicht noch auf Vinyl in Ausnahmefällen größere Umsätze zu machen sind, kommen die Boomer langsam auf Spotify oder Apple Music an. Dort streamen sie nicht Billie Eilish oder Capital Bra, sondern ihre Boomermusik - und verhelfen den Verlagsrechten von Dylan und Co. zu neuer Attraktivität."

Weitere Artikel: In der NZZ gratuliert Marco Frei dem Ensemble Modern zum 40-jährigen Bestehen, das heute Abend online sein 40-jähriges Bestehen feiert.

Besprochen werden eine Hommage-Compilation zu Ehren von Ton Steine Scherben und Rio Reiser (taz), Mariah Careys Autobiografie (NZZ) und neue Popveröffentlichungen, darunter James Blakes neue EP "Covers", auf der sich der Künstler laut SZ-Popkolumnist endgültig als "Elton John für die Generation Klimawandel" entpuppt.
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Architektur

Pier Luigi Nervis Stadio. Foto:

Das 1932 von Pier Luigi Nervi gebaute Stadio Artemio Franchi ist eine Ikone des italienischen Rationalismus, doch der neue Klubbesitzer Rocco Commisso will das Stadion abreißen, wie Oliber Meiler in der SZ berichtet, und eine neue Arena mit VIP-Lounges errichten. Italien steht Kopf, aber der Investor gefällt sich in seiner Rolle : "Commisso ist Italoamerikaner aus New York, Medienunternehmer und Multimilliardär. Er hat den Verein vor zwei Jahren gekauft und gefällt sich seitdem in seinem alles andere als dezenten Auftreten, das mitunter Prollige ist sein Stil. Commisso passt damit gut in die Galerie selbstgefälliger italienischer Klubpräsidenten. Als man ihm vorwarf, er verkenne die kulturhistorische Bedeutung des Stadions, sagte er: 'Man nennt mich jetzt auch Attila, den Zerstörer. Dabei will ich ja nicht das Kolosseum oder den Palazzo Vecchio abreißen.'"

Adolf Loos: Villa H. Konstandt, Olmütz, Tschechien. 1922. Foto: Martin Gerlach, 1930 / Albertina Wien
Zum 150. Geburtstag von Adolf Loos feiert das Wiener Mak den Architekten, der luxuröse Bauten für eine wohlhabende Klientel ebenso rational wie seine Sozialprojekte für den Wekbund. Im Standard staunt Michael Hausenblas noch immer über die Wirkung, die Loos mit seiner Ökonomie des Raums entfalten konnte: "Die Pläne und Modelle wirken oft hart rechtwinklig und streng, ebenso wie die Physiognomie und der Blick des Architekten auf diversen Fotos. Aufs erste Hinschauen sehen die Entwürfe oft so aus, wie das Wort Reißbrett klingt. Dabei ist es erstaunlich, einmal mehr entdecken zu dürfen, wie etwas derart Eckiges und Verwinkeltes so einladend wirken kann, dass man stante pede hindurchwandeln möchte, um sich auf gute Art und Weise schwerzutun, sich für eine der wunderbaren Wohnecken zu entscheiden."
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Design

Wenn Möbel-Klassiker der Moderne seit kurzem reihenweise nicht mehr Le Corbusier, sondern Charlotte Perriand zugeschrieben werden (mehr hier oder hier), erweist man der an sich wichtigen Aufgabe, übergangene Designerinnen aus dem Schatten der Geschichte zu holen, einen Bärendienst, meint der Kunsthistoriker Harold von Kursk in der FAZ: Belege für eine eigentliche Autorenschaft Perriands lägen jedenfalls nicht vor, vielmehr sei das gegenwärtige Narrativ schon in den 60ern von Perriand selbst gestreut worden. Nun drohe es sich im Zuge kommerzieller Ausstellungen und hagiografischer Veröffentlichungen als historisches Faktum zu verfestigen: "Darf jemand, der am Prototyp arbeitet, Rohrdicken bestimmt, sich nach dem Ableben des Erfinders Ko-Autor nennen, nur weil er viel Zeit mit der Umsetzung der Idee des Entwerfers verbracht (und vielleicht ein paar Details adjustiert) hat? Ist die intellektuelle 'Entwurfsleistung' die Erfindung oder auch die mühsame praktische Umsetzung? Le Corbusier, so die Innenarchitektik Heidi Weber, 'war mit Gabriel Voisin befreundet, der in seinen Flugzeug- und Rennwagen-Designs Stahlrohr einsetzte, um das Gewicht zu reduzieren'. Hier liege die Quelle der neuen Möbelkonstruktionen. ... Le Corbusiers Skizzen und Forschungen zum Thema Stahlrohr weisen darauf hin, dass er die Arbeit an den Entwürfen beendet hatte, bevor Perriand kam. Es gibt keine Beweise, dass Perriand mit dieser Idee an Le Corbusier herantrat oder vorher Vergleichbares geleistet hätte. Perriand selbst hat später nie wieder Möbel entworfen, die den vier Möbelmodellen auch nur entfernt ähnelten."

Im ZeitMagazin verabschiedet sich Sara Tomšić vom gedruckten Ikea-Katalog, den er früher träumend durchblättert hatte: Aber "wie träumt die heutige Jugend jetzt vom Erwachsensein, ohne dich? Auf Instagram macht das ja nur halb so viel Spaß, weil die tolle Couch meistens zu einem Hochglanz-Leben passt, das man selbst gar nicht führt. Die moosgrüne Küche, das zwei Meter hohe Boxspringbett und der Mahagonischrank in meinem Insta-Feed gehören schon jemandem. Bei dir, im Ikea-Katalog, war das anders. Du warst eine weiße Leinwand, ich konnte mich mit genug Fantasie selbst reinsetzen, alles gehörte mir oder niemandem." Kein Wunder, dass die Welt Tränen um diesen Katalog weint, schreibt Gerhard Matzig in der SZ: Immerhin ist der jährliche Ikea-Wälzer "nun mal kein Katalog, sondern ein Werk, das uns die Welt erklärt und darin Halt gibt. Ausgerechnet in einer pandemischen Neobiedermeier-Ära, in der das virensichere Wohnen zur letzten Bastion gerät, das Aus zu verkünden: der reinste Frevel."

In der Jungle World bespricht Larissa Kunert Diana Weis' kulturwissenschaftliche Studie "Modebilder. Digitale Bildkulturen" über die Rolle von Instagram und Influencern in der Modewelt.
Archiv: Design

Bühne

Katrin Gänsler stellt in der taz das CITO vor, das Carrefour International de Théâtre Ouagaoudou, das einzige feste Theater in Westafrika. Sein aktuelles Stück "La Patrie ou la Mort" über den Terrorismus im Norden von Burkina Faso musste es jetzt etwas früher als geplant vom Spielplan nehmen, weil das Geld ausgegangen ist: Geschrieben hat es "der Dramatiker und Schauspieler Mahamadou Tindano als Auftragsarbeit für das CITO... Er erinnert sich gut daran, dass das Theater, Kunst generell, lange als Metier ohne Zukunft und Perspektiven galt. 'Eine Einstellung, mit dem auch der Fußball zu kämpfen hatte. Heute zahlen Eltern sogar für den Besuch einer Fußballschule.' So gut angesehen oder gar lukrativ sei das Geschäft für Schauspieler*innen keinesfalls. Dennoch würde ein Umdenken einsetzen. 'Eltern akzeptieren die Berufswünsche ihrer Kinder, verlangen aber, dass diese trotzdem die Schule beenden.'"

Weiteres: In der FAZ staunt Klaus Georg Koch, wie schnell sich Italiens Opernhäuser unter dem Druck der Corona-Pandemie technisch erneuern. Besprochen wird Andreas Homokis Inszenierung von Giuseppe Verdis Oper "Simon Boccanegra" in Zürich und auf arte (die sich SZ-Kritiker Reinhard Brembeck aber auch gut im "bürgerliche Opernmuseum der Belanglosigkeit" vorstellen könnte).

Archiv: Bühne

Kunst

Simone Reber besichtigt für den Tagesspiegel eine Ausstellung des inzwischen 89-jährigen Zero-Künstler Heinz Mack, der in der Gießerei Noack seine Grazien in drei neuen Bronzen zeigt: "'Aglaia', die Strahlende streckt großzügig ihre Arme aus, bereit die Welt zu umfangen. 'Thalia', die Blühende ist gerade dabei sich zu entfalten. Und 'Euphrosyne', der Frohsinn balanciert würdevoll seine angekratzte Krone."

Besprochen wird Abe Frajndlichs Band "Bukowski" mit Fotografien des Schriftstellers (FR).
Archiv: Kunst
Stichwörter: Mack, Heinz, Frajndlich, Abe

Literatur

Jan Jekal berichtet in der taz von einer Berliner Online-Lesung zu Ehren Hölderlins. In den "Actionszenen der Weltliteratur" erinnert Rainer Moritz an Ernst Jüngers Glückszahl. Daniele Muscionico spricht für die NZZ mit dem Schriftsteller Franz Hohler über den ÖPNV der Schweiz.

Besprochen wird unter anderem Barbey d'Aurevillys "Ein verheirateter Priester" (SZ).
Archiv: Literatur
Stichwörter: Moritz, Rainer

Film

Kein Wunder, dass die Netflix-Serie "The Crown" sich im Hinblick auf die Geschichte des britischen Königshauses alles Mögliche hinzuerfinden muss, was in Großbritannien gerade zu erheblichen Wallungen führt, schreibt Thomas Kielinger in der Welt: Die Royals halten sich ja nun auch traditionell bedeckt, was die für Dramen so attraktive Krisen des Hauses betrifft. Autor "Peter Morgan hatte gar keine andere Wahl, als die dürftigen Primärquellen, die wie ein Vorhang vieles Private verschleiern, zu ergänzen und sich dabei an die poetische Lizenz zu halten: Er muss erfinden. ... Schon das allein kennzeichnet die Serie als literarisches Werk sui generis." Schließlich haben auch Shakespeare und Schiller sich bei ihren Königsdramen nicht durchweg dem Druck des Faktischen ergeben.

Für die NZZ unterhält sich David Signer mit Völker Schlöndorff, der sich in Afrika quasi nocheinmal neu erfunden hat und derzeit einen Dokumentarfilm über die austrocknende Sahelzone dreht. Dem soll eine "grüne Mauer" abhelfen: "Damit ist das große Projekt gemeint, mit dem Pflanzen von Bäumen den Vormarsch der Wüste im Sahel aufzuhalten. Mitte November machte Schlöndorff in Dakar Station; bei einem Treffen in der Friedrich-Naumann-Stiftung erzählt er voller Begeisterung von seinem neuen Werk, das nächstes Jahr fertig werden soll. In Niger, Mali, Ghana und Burkina Faso hat er bereits gedreht, aber auch in Indien und Australien. 'Es ist ein Langzeitprojekt', sagt er, 'da man den Bäumen ja schließlich nicht beim Wachsen zuschauen kann.'"

Besprochen wird Alan Balls "Uncle Frank" mit Paul Bettany (SZ).
Archiv: Film