Efeu - Die Kulturrundschau

Ein regelrechter Stimmbruch

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27.05.2021. Der Standard feiert den Erfinder der radikal subjektiven Ich-Fotografie: Nobuyoshi Araki. Die NZZ bewundert die Verflechtung zweier Hochkulturen in der Miniaturmalerei der Moguln. In der SZ überlegt die Schriftstellerin Ruth Herzberg, wie man nach Corona ein Gespräch beginnt. Die neue musikzeitung denkt über Gender und Stimme in den Opern Aribert Reimanns nach. Amazon hat MGM gekauft, berichtet die Welt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.05.2021 finden Sie hier

Kunst

Nobuyoshi Araki, Untitled, Japan, 2020. Aus der Serie "Paradise".

Im Standard zeichnet Stephan Hilpold den Weg des japanischen Fotografen Nobuyoshi Araki nach, dessen 80. Geburtstag Wiener Museen - die Albertina, Westlicht und Ostlicht - mit gleich drei Ausstellungen feiern: "Araki war es, der beginnend in den 1970er-Jahren eine radikal subjektive Sichtweise in der Fotografie propagierte und damit eine Haltung aufs Podest hob, die später genau so von Feministinnen bis hin zu all den Instagrammern von heute eingenommen wurde. Mit den Worten 'Ich kann es nicht mehr ertragen' beginnt das Manifest, das Araki seinem Opus magnum Sentimental Journey voranstellte. 1971 war das. Araki arbeitete damals noch in einer Tokioter Werbeagentur und schoss Fotos im Stile der neorealistischen Filme eines Vittorio de Sica. Als er mit seiner Frau Yoko in die Flitterwochen aufbrach, hatte er auch eine Kamera im Gepäck - und schoss in fünf Tagen jene Bilder, die bis heute den Grundstock seines Œuvres bilden: Bilder von sich und Yoko beim Sex, beiläufige Stillleben, Alltagsszenerien, verhuschte Landschaftsaufnahmen: der Anfang eines sogenannten 'Ich-Romans', an dessen Fortschreibung Araki bis heute arbeitet. Was dabei wahr und was erfunden ist, das ist das Ergebnis eines immer wieder neu austarierten Spiels."

Nat Ragini, Aus einer Ragamala-Serie, Andhra Pradesh, Mahbubnagar-Distrikt, Wanparthy, um 1750, Geschenk Horst Metzger, Museum Rietberg

In der NZZ bewundert Maria Becker eine Ausstellung von Miniaturmalerei der Moguln, die das Museum Rietberg zeigt und an der man gut studieren kann, wie Kulturen sich beeinflussen und mischen: "Es sind Gemäldeserien von faszinierendem Detailreichtum, die trotz ihrer Miniaturgröße ein lebendiges Bild indischer Sitten, Mythologien und Geschichte bieten. Zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert gab es eine Blütezeit der Malerei; es existierten Malschulen und Künstlerfamilien, die hohes Ansehen erlangten. Schon damals hatten Europäer diese Kunst gesammelt und im Westen bekannt gemacht. Aus dem Dekkan wiederum sind indische Künstler nach Persien gereist und haben ihre Techniken und Motive verbreitet. Von heute aus könnte man von einer subtilen Verflechtung zweier Hochkulturen sprechen. Beide waren alt und gelehrt, und trotz völlig unterschiedlichen religiösen Haltungen gab es offenbar eine Nähe, die von der Reife herrührt."

Weitere Artikel: Nur die Kunst kann wirklich gut lügen, meint Roman Bucheli in der NZZ. Christine Lemke-Matwey besucht für die Zeit den Maler Philipp Fürhofer in seinem Atelier.

Besprochen werden "House of Meme", eine Ausstellung der Schweizer Künstlerin Pamela Rosenkranz im Kunsthaus Bregenz (FR) und die Ausstellung "Picasso & Les Femmes d'Alger" im Museum Berggruen (FAZ).
Archiv: Kunst

Literatur

In der "Was folgt"-Reihe der SZ schreibt die Schriftstellerin Ruth Herzberg über den Frühling, der ein Herbst ist, wie der Rücken sie im Moment des allgemein impfbedingten Aufatmens schlagartig ans Bett fesselte und wie sich eigentlich alles nur noch ums Wetter dreht, es gebe ja kaum mehr ein anderes Thema, über das man mit Leuten ins Gespräch kommen kann. "Ich habe die doch alle so lange nicht gesehen und es ist so viel passiert, aber gleichzeitig auch so wenig. Wo soll man da anfangen? Wenn man jemanden fragt, ob er / sie 'ES' gut überstanden hätte, dann holen alle ganz tief Luft und nicken und dann sagen sie: 'Naja....' und dann nickt man auch wissend und will es lieber noch nicht so schnell so genau wissen, will es mit dem Anhören der Bekenntnisse nicht überstürzen, will sich das noch aufsparen für Zeiten, in denen die Sonne weniger dringlich lockt und auch erstmal noch nicht so schnell so viel erzählen und den Vibe damit killen und deswegen sagt man ihn dann, den derzeit einzig brauchbaren Satz: 'Schönes Wetter heute.'"

Im Interview mit der Welt spricht der französische Autor Pierre Lemaitre über seine Romantrilogie "Kinder der Katastrophe", die zwischen den beiden Weltkriegen spielt und für die er mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde. Auf die Frage, was dieser Preis in seinem Leben verändert hat, antwortet er: "Alles, Madame. Im Leben eines Franzosen gibt es nur drei überraschende  Ereignisse, die den Verlauf seines Lebens radikal verändern können: Die Liebe auf den ersten Blick, der Herzinfarkt und der Prix Goncourt."

Weitere Artikel: ZeitOnline dokumentiert Elisabeth Ruges Laudatio auf den Autor und Fotografen Johny Pitts, der den Preis für Europäische Verständigung erhält. Max Frischs "Montauk" ist schlecht gealtert, meint Leonard Nadolny nach seiner Wiederlektüre für Tell.

Besprochen werden unter anderem Patricia Holland Moritz' "Kaßbergen" (taz), Stefan Matuscheks "Der gedichtete Himmel" über die Geschichte der Romantik (ZeitOnline), Hinrich Schmidt-Henkels Neuübersetzung von Tarjej Vesaas' "Die Vögel" (Intellectures), Yukiko Motoyas Storyband "Die einsame Bodybuilderin" (FR), Christian Krachts "Eurotrash" (Intellectures), Pankaj Mishras Essayband "Freundliche Fanatiker" (Freitag), Felix Pestemers Comic zur Geschichte des Berliner Gendarmenmarkts (Tagesspiegel), Dulce Maria Cardosos "Die Rückkehr" (SZ) und Michael Görings "Dresden" (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Szene aus Aribert Reimanns Opter "Gespenstersonate" in Lübeck. Foto: Olaf Malzahn


Anlässlich der Aufführung von Aribert Reimanns "Lear" in München (Welt, Zeit) und seiner "Geistersonate" in Lübeck (nmz), denkt Julian Lembke in der neuen musikzeitung über Gender und Stimme in den Opern Reimanns nach. So setzte Reimann als erster Komponist des 20. Jahrhunderts Countertenöre ein: "Bemerkenswert ist, dass alle großen Counter-Partien in Reimanns Bühnenwerken zunächst nur 'Stimme' sind, deren geschlechtliche Zuordnung erst nachträglich stattfindet. Sei es Edgar in 'Lear', der Herold in 'Medea' oder die drei Dienerinnen in 'L'Invisible', ihrer physischen Ankunft gehen ätherisch hinter der Bühne schwebende Linien voraus. Edgar erlebt in der vierten Szene der Oper, die Reimann 1978 zum internationalen Durchbruch verhalf, einen regelrechten Stimmbruch. Während ihm zu Beginn des Werks nur eine kurze, wenig charakteristische Replik zugewiesen ist, entwickelt sich sein Rolle erst als er, vom Bruder verraten und vom Vater verstoßen, teils vorgetäuschtem Wahnsinn verfällt. Im Laufe einer außerhalb des Bühnenraums beginnenden Vokalise muss er die Möglichkeiten seiner neuen Stimme und Persönlichkeit erst ausprobieren."

Weitere Artikel: Jan Brachmann berichtet in der FAZ von den Pfingstfestspielen in Salzburg, in der FR berichtet Judith von Sternburg, beide noch ganz hingerissen von Anna Netrebko und Cecilia Bartoli. In der nachtkritik stellt Christian Rakow ein Pilotprojekt der Bundeskulturstiftung vor, die die Klimabilanz von Kulturinstitutionen untersuchte, und setzt ungeduldig nach: "Wird aus der Erkenntnis- eine Willensbildung folgen? Will man sich in den Produktionsabläufen womöglich auch künstlerisch einschränken, um die ökologische Last zu minimieren? Die globalen Klimafragen dulden keinen Aufschub."

Besprochen werden Marc-André Dalbavies Vertonung von Paul Claudels Drama "Der seidene Schuh" für die Pariser Oper (SZ), der Film "Das Waldhaus" des Theaters Osnabrück, inszeniert von Dominique Schnizer (SZ) und Peter Lichts Inszenierung von Molieres "Tartuffe" am Deutschen Theater (Zeit).
Archiv: Bühne

Design

Kragstuhl von Mart Stam, entworfen 1926
Katrin Bettina Müller hat für die taz im Werkbundarchiv eine Ausstellung über die "frühen jahre" des Instituts für industrielle Gestaltung in der DDR besucht, die sie künstlerisch, aber auch historisch interessant fand: "Die Ausstellung erzählt eine Geschichte über den Kalten Krieg in den Künsten, über Moderne und Design, über Internationalismus und nationales Erbe. In ihrem Mittelpunkt steht Mart Stam, niederländischer Architekt, ehemaliger Bauhaus-Dozent, Kommunist und Entwerfer eines hinterbeinlosen Kragstuhls aus Gasrohren, der Vorläufer des berühmten Freischwingers. ... Heute gilt diese Ästhetik als klassische Moderne. Kulturfunktionären der jungen DDR aber schien ihre Nähe zum International Style, der von ehemaligen Bauhauslehrern und -lehrerinnen in die USA getragen worden war und sich im Exil erfolgreich entwickelte, als äußerst verdächtig."
Archiv: Design

Film

Der Löwe geht zu Amazon: Für 8,5 Milliarden Dollar kauft der Streaminganbieter das Hollywoodstudio MGM und sichert sich damit einen mit vielen namhaften Klassikern durchsetzten Backkatalog von 4000 Filmen, zahlreiche Franchises, darunter "James Bond", und damit nicht zuletzt einen entscheidenden Vorteil gegenüber Netflix, wo man mangels historischer Tiefe im Portfolio mit dem teuren Produzieren von Neuware kaum hinterher kommt, schreibt Hanns-Georg Rodek in der Welt. Vom großen Glanz der MGM ist allerdings im Grunde seit den späten Sechzigern kaum noch etwas geblieben: "Seitdem war MGM nur noch ein Spielball diverser branchenfremder Geldmacher. ... Der Löwe hat seine Schuldigkeit getan, der Löwe kann gehen, im Archiv erwartet ihn ein Gnadenbrot. Seine Firma, oder der kümmerliche Rest von ihr, ist nur noch ein Bauer auf dem Schachbrett der großen Streamer von Amazon über Disney bis Netflix, die uns allen Abos verhökern wollen."

Dass derzeit in Bayern bereits einige Kinos unter erheblichen Auflagen ihren Betrieb wieder eröffnen, wird auf Bundesebene unter Kollegen nicht gern gesehen, berichtet David Steinitz in der SZ: Branchenverbände wie die Gilde deutscher Filmkunsttheater votieren für ein bundesweites Öffnen am 1. Juli, um eine Flickenteppichsituation zu verhindern. "Abgesehen von den unterschiedlichen Sicherheitsvorgaben in den Bundesländern gibt kaum ein Filmverleih Geld aus, um einen Film teuer zu bewerben, der dann nur in Mecklenburg-Vorpommern starten darf. Neue Filme wird es erst geben, wenn alle Kinos in Deutschland wieder spielen dürfen." Um die Lukrativität zu erhöhen fordert der Verband "unter anderem, dass die Besucher am Platz keine FFP2-Maske tragen müssen und Essen und Getränke verzehren dürfen. Außerdem wollen sie mehr Zuschauer in ihre Säle lassen dürfen."

Weitere Artikel: Der Sitcom-Dauerbrenner "Friends" ist zwar schlecht gealtert, aber trotzdem sehenswert, meint Malaika Rivuzumwami in der taz. Besprochen werden Chaitanya Tamhanes "Der Schüler" (taz), Luca Lucchesis Dokumentarfilm "A Black Jesus" (taz, Welt), Carmen Losmanns Dokumentarfilm "Oeconomia" (Standard, unsere Kritik hier), Joe Wrights Netflix-Thriller "The Woman in the Window" (taz, Tagesspiegel) und der Schweizer Kinofilm "Von Fischen und Menschen" der Debütantin Stefanie Klemm (NZZ).
Archiv: Film

Architektur

Entwurf für das House of One von Kuehn Malvezzi


Bernhard Schulz annonciert im Tagesspiegel die Grundsteinlegung des multireligiösen House of One in Berlin: "Der Vorzug des Entwurfs von Kuehn Malvezzi - wie auch anderer Beiträge des Wettbewerbs - besteht darin, architektonisch uneindeutig genug zu sein, um die Majorisierung der beteiligten Religionsgemeinschaften etwa durch zu deutlichen Bezug auf das christliche Kirchbauerbe auszuschließen. Das House of One, so hat es einer der Architekten von Kuehn Malvezzi gesagt, soll ein Haus für 'Menschen ohne einen klaren Glauben sein, die sich zwischen den Religionen beheimatet fühlen'. Die Nicht-Erkennbarkeit, die der zugleich einladenden wie ungewöhnlichen Architektur ihres Entwurfs eigen ist, zielt auf jene Unentschiedenheit, die wohl das Gros der künftigen Besucher kennzeichnen dürfte."

Weiteres: Gerhard Matzig berichtet in der SZ von einem Streit um die Neugestaltung des Brüder-Grimm-Platzes in Kassel. Annette Spiro schreibt in der NZZ den Nachruf auf den brasilianischen Architekten Paulo Mendes da Rocha. Besprochen wird die "Bildungsschock" im Haus der Kulturen der Welt über Architektur, Politik und Lernen in den 1960er und 1970er Jahren (Tsp).
Archiv: Architektur

Musik

Ein sich ziemlich bedeckt haltender Veranstalter wirbt seit Monaten auf Facebook mit Konzerten in intimer Atmosphäre und im kleinen Kreis - unter anderem auch in Berlin. Allerdings wurde bislang vor allem kassiert und quasi nicht geliefert, weshalb sich zahlreiche Kunden lautstark zu Wort melden und bereits Betrug wittern. Arno Lücker hat für VAN nachrecherchiert und ist dabei zunächst auf eine Mauer des Schweigens und ins Leere führende Hotlines gestoßen, auf der Suche nach einem Verantwortlichen, der genauso gut in New York wie in Madrid sitzen könnte. In luftigen Mails vertröstet der Veranstalter die Kundschaft derweil "immer weiter mit Hinweis auf den Lockdown. Mit der 'besten', unstrittigsten, nachvollziehbarsten Begründung unserer Zeit: der Pandemie. So bot man Eintrittskarten für Konzerte im Dezember 2020, im Januar 2021 und so weiter an - für Tage, von denen klar war, dass an ihnen keine Konzerte werden stattfinden können; dazu die entsprechenden Werbe-Postings mit den Triggerworten 'endlich', 'nach dem Lockdown' und 'bald wieder'. Möglicherweise spekulierte man darauf, dass Käufer:innen von Tickets sich so lange hinhalten lassen, bis schließlich der besagte Paypal-Käuferschutz von 180 Tagen - die im Grunde ja als ausreichend erscheinen, um Onlinehandel-Tätigkeiten abzusichern - abgelaufen ist."

Weitere Artikel: Kirsten Reese und Erkki Veltheim sprechen in VAN über ihre Kompositionen, die sich kritisch mit dem kolonialen Erbe des Forschers Ludwig Leichhardt auseinandersetzen (Reeses Klangkunstarbeit steht beim Dlf Kultur zum Nachhören). Für VAN spricht Merle Krafeld mit der Wissenschaftlerin Kathrin Schlemmer darüber, wie der Neustart für Chöre gelingen kann. Hartmut Welscher spricht in VAN mit Christoph Altstaedt über die Abbruchquote im Musikstudium. Rockmusik ist heute tugendhaft geworden, provoziert aber dennoch, glossiert Konstantin Nowotny im Freitag. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen widmet sich Arno Lücker diesmal Maria Malibran. Helmut Mauró schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Komponisten Christóbal Halffter.
Archiv: Musik