Efeu - Die Kulturrundschau

Vom Schläfrigen zur Explosion

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07.09.2021. Die Feuilletons trauern um Jean-Paul Belmondo, den großen Athleten des französischen Kinos, der die gefährliche Schönheit zum Lebensprizip machte: La vie Bébel. Die SZ lässt sich vom malischen Künstler Famakan Magassa verraten, wie die Koredugaw soziale Konflikte lösen. Die NZZ freut sich über den Wahnsinn, der in Mauricio Kagels "Staatstheater" regiert. Und Dezeen begutachtet eine erstklassige Immobilie in der amerikanischen Wüste.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.09.2021 finden Sie hier

Film

Abschied von einer Kinolegende: Fast alle Zeitungen zeigen heute Jean-Paul Belmondo auf der Seite Eins. Besonders schön natürlich in Frankreich: Libération, die sich von "Bébel" verabschiedet.

"Schöne Frauen, schnelle Autos, elegante Anzüge, exotische Länder, Glück, Glanz, Reichtum und Ruhm" - Belmondo war noch ein echter toller Hecht, seufzt Andreas Kilb in der FAZ. "Überall und jederzeit hätte ein Kerl wie Jean-Paul Belmondo seinen Weg zum Leinwandruhm geschafft", schwärmt Georg Seeßlen auf ZeitOnline: "Diese Mischung aus Vitalität und Eleganz, das Gesicht, das man mit größter Zärtlichkeit eine 'Fresse' nennt, diese melancholische Ironie, vom Schläfrigen zur Explosion in Nullkommanichts (und noch schneller zurück), dieser revolutionäre Fatalismus, die Straßenfrechheit, die einen philosophischen Höhenflug nie ausschloss, diese Bewegungsmelodie, die ein Film-Bild umso unangestrengter füllt, je mehr dieser Film noir sein will. ... Aber nur und nirgends außer im französischen Film der Sechzigerjahre hätte ein Kerl wie Jean-Paul Belmondo so sehr zum Zentrum, zum Schlüssel für alle Probleme von Politik, Sexualität und Ästhetik werden können."



Godard hatte ihn für "Außer Atem" einst von der Straße weg engagiert, erinnern sich Fritz Göttler und Tobias Kniebe in der SZ: Da haben sich zwei "auf schicksalhafte Weise gefunden. ... Diese paradoxe Mischung aus brüskem Arschlochgehabe und einer darunterliegenden, meist versteckten Sensibilität, die Belmondo auszeichnet, passt perfekt zum rebellischen Gestus in den frühen Filmen Godards. Da ist echte Gefährlichkeit und echte Herzlosigkeit in dieser Figur, genauso aber ein Schmerz in den Augen." Doch "die schönste Mischung zwischen dem Schauspieler, der er in seinen besten Momenten sein konnte, und der physischen Präsenz des Kinoathleten, der er in so vielen Filmen dann wurde, kann man immer noch bei François Truffaut bewundern." Göttler und Kniebe spielen auf "Das Geheimnis der falschen Braut" an, hier eine Szene daraus:



Auf den Kinoathleten kommt Michael Kleeberg in der Welt zu sprechen: "Außer Atem" in allen Ehren, aber der Belmondo der Siebziger und Achtziger, der in reißerischen Thrillern alle Stunts selbst gegeben hat, kommt ebenso in den Sinn, dieses "Bild des muskelbepackten, grinsenden Machos, wie er an einer Strickleiter aus einem Helikopter hängend, über eine Stadt hinwegfliegt, ein Mann, dem nichts unmöglich ist, außer zu sterben." Vielleicht ist Belmondos Ikonenstatus in der Nouvelle Vague "nichts als ein großes Missverständnis, wenn auch ein produktives. Denn eigentlich sind der bewusst antiintellektuelle Belmondo, der jegliches l'art pour l'art verachtete, und Godard Antipoden." Wünschen wir Belmondo, dass er fröhlich grinsend gen Himmel auffährt - an einer Strickleiter und in rot gepunkteter Unterhose:



Weitere Nachrufe schreiben Urs Bühler (NZZ), Peter Claus (Dlf Kultur) und Bert Rebhandl (Standard). ZeitOnline bringt eine Fotostrecke. Arte verabschiedet sich mit einer tollen Videowürdigung.

Und ein Update vom Filmfestival in Venedig: Hanns-Georg Rodek bespricht in der Welt Pablo Larraíns "Spencer", ein Biopic über Lady Diana. Tazler Tim Caspas Boehme wird mit Tim Roth und Jimmy Page langsam älter. Und Standard-Kritiker Dominik Kamalzadeh sieht Audrey Diwans "Das Ereignis", eine Adaption des gleichnamigen Romans von Annie Ernaux.

Weitere Artikel: Hanns-Georg Rodek schließt sich in der Welt Gerhard Beckmanns offenem Brief an den WDR-Intendanten Tom Buhrow an, in dem Beckmann fordert, Nina Gladitz' Riefenstahl-Doku nach fast 40 Jahren aus dem Giftschrank endlich wieder freizugeben (unser Resümee): "Es gibt keinen Grund mehr, 'Zeit des Schweigens und der Dunkelheit' weiter unter Verschluss zu halten." Dlf Kultur hat mit Beckmann über seinen offenen Brief gesprochen. Filme und Serien über Dealer strotzen vor Klischees, schreibt Scott Holmquist im Freitag. Außerdem melden die Agenturen, dass der Schauspieler Michael K. Williams (Omar in "The Wire") im Alter von 54 Jahren überraschend tot aufgefunden wurde. Der Schauspieler Lance Reddick spielte in "The Wire" an seiner Seite und erinnert sich auf Twitter in einem Video an seinen Kollegen.

Besprochen werden Christian Schwochows Politdrama "Je suis Karl" (Jungle World), die Aufführung von Max Neufelds restauriertem Stummfilm "Hoffmanns Erzählungen" beim Musikfest Berlin (NMZ) und der neue Marvel-Blockbuster "Shang-Chi" (FAZ).
Archiv: Film

Kunst

Famakan Magassa, Servility, 2021. Albertz Benda Gallery, New York.


Jonathan Fischer porträtiert in der SZ den 24-jährigen malischen Künstler Famakan Magassa, der von einer New Yorker Galerie an die Spitze des globalen Kunstmarktes katapultiert wurde und der zu seinem Thema bei einem einem Kulturfestival in Segou fand: "Er sah Männer in Frauenkleidern und vice versa, Erwachsene, die auf Holzpferdchen ritten oder mit bizarren Brillen und Hüten im Kreis tanzten. Die Koredugaw. Er hatte vorher noch nie von dieser Geheimgesellschaft der Bambara gehört. Noch mehr als das Spektakel faszinierte ihn ihre gesellschaftliche Funktion: 'Sie denken anders als die anderen und machen, was sie wollen. Diese unbegrenzte Freiheit des Ausdrucks hat mich sofort angesprochen.' Dass die Koredugaw alle Konventionen des Alltags aufbrechen, sei nicht Selbstzweck. Nein, sagt Magassa, 'sie gebrauchen den Humor, um soziale Konflikte zu lösen. Ihr Ziel ist das friedliche Miteinander in der Gesellschaft'."

Weiteres: Catrin Lorch berichtet in der SZ, wie Düsseldorf mit einer Ausstellung über den Kunsthändler Max Stern ins Leere läuft: Die Ausstellung setzt ganz auf Versöhnung, während um die Restitution seiner Werke eisern verhandelt wirw. Die Erben und die jüdische Gemeinde blieben der Ausstellung fern.
Archiv: Kunst

Bühne

Mauricio Kagels "Staatstheater". Foto: Ingo Hoehn / Luzerner Theater

Matto regiert! In der SZ reibt sich Egbert Tholl vor Freude die Hände über den freundlichen Irrsinn von Mauricio Kagels einstigem Skandalstück "Staatstheater", das Lydia Steier in Luzern "absolut furchtlos und hochpräzise" inszeniert hat: "Darin gibt es viel Musik, aber sie kommt meist in fragmentierter Gestalt vom Band oder von lärmenden Instrumenten, es gibt Gesang, aber nichts zu verstehen, es wird nichts erzählt, und doch ist 'Staatstheater' in überbordender Fülle die ganze Welt der Oper." Auch Christian Wildhagen zeigt sich in der NZZ empfänglich für Kagels Mission: "Die einzelnen Aktionen, viele kaum eine Minute lang, tragen so rätselvoll-assoziative Titel wie 'Möbius', 'Nachwuchs', 'Mundtrommel' oder 'Onanie'. Was kompliziert klingt, wirkt in der Praxis ungeheuer lebendig, wenn auch kaum mehr wirklich provokativ. Lydia Steier ironisiert zudem mit ihrer phantasievollen Inszenierung die ursprünglich erkennbar antibürgerliche Stoßrichtung des Werkes. Dessen Kritik entzündete sich seinerzeit am restaurativen Repertoire-Traditionalismus der hoch subventionierten (deutschen) Staats- und Stadttheaterbetriebe. Die Sehnsucht des Publikums nach den immergleichen 'schönen' Stücken ist noch heute eine Verlockung für viele Theater, zumal unter finanziellem Druck. Steier weiß dies und führt uns die Absurdität eines sich bloß noch selbst reproduzierenden 'Best of'"-Spielplans als virtuos überdrehte Bilder-Show vor Augen, die freilich ihrerseits ungemein theaterwirksam ist."

Besprochen werden außerdem Frank Castorfs Jelinek-Inszenierung "Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!" am wiedereröffneten Burgtheater (SZ, FAZ), Kate Bushs Klimawandelstück "Kein Weltuntergang" an der Berliner Schaubühne (taz), Jacques Offenbachs Liebesrausch-Oper "Les Contes d'Hoffmann" in Hamburg (FAZ), die "Dreigroschenoper" in den Kammerspielen Wien (Standard) und die Bühnenfassung von Stefanie Sargnagels "Statusmeldungen" in Innsbruck (Standard).
Archiv: Bühne

Architektur

Bjarke Ingels' Telosa mit einem Equitism Tower im Zentrum. Bild: BIG

Tom Ravenscroft stellt bei Dezeen die Stadt vor, die der Milliardär Marc Lore mit Hilfe von Stararchitekt Bjarke Ingels aus der amerikanischen Wüste stampfen möchte: Telosa soll sie heißen und fünf Millionen Menschen Platz bieten: "Lores Idee ist, ein riesiges Stück Land zu kaufen, das er einer Gemeindestiftung spendet, so dass allein der wachsende Wert des Grundstücks die Entwicklung der Stadt und den Wohlstand ihrer Bewohner erhöht."
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Literatur

Thomas Hummitzsch spricht im Freitag mit Eva Menasse über deren neuen Roman "Dunkelblum", für den die Autorin die Nazi-Massaker in den letzten Kriegsmonaten im Burgenland rund um Rechnitz aufgearbeitet hat: "Ich habe die gesamte Landschaft fiktionalisiert, die Menschen, einfach alles. Es ging mir darum, die ganze Zeitachse seither in den Blick zu nehmen. Denn nach so einem Verbrechen geht es ja trotzdem irgendwie weiter. Ich wollte wissen, wie die kleinen Leute nach einem solchen Gewaltausbruch weitergelebt haben - ganz unabhängig davon, ob sie sich selbst schuldig gemacht haben oder nicht. Die heutigen Rechnitzer würden wahrscheinlich viel dafür geben, damit jemand endlich dieses Massengrab findet. Man kann Geschichte wohl nicht bewältigen - ein unglückliches Wort -, aber man muss sie zu irgendeinem menschlichen Abschluss bringen. Und das wäre in diesem Fall das Auffinden des Massengrabs."

Außerdem: Gerrit Wustmann porträtiert für 54books den türkischen Schriftsteller Yavuz Ekinci, der wegen seiner Solidarität mit Kurden, die gegen den IS kämpften, Post von der türkischen Staatsanwaltschaft erhalten hat. Bert Rebhandl (Standard) und Gerrit Bartels (Tagesspiegel) lesen Romane über 9/11. Der Berliner Senat erhöht seine Comicförderung, meldet Lars von Törne im Tagesspiegel.

Besprochen werden unter anderem Anton de Koms wiederentdeckter Bericht "Wir Sklaven von Suriname" von 1934 (Tagesspiegel), eine Ausstellung über Asterix-Vater Albert Uderzo im Musée Maillol in Paris (taz), Caroline Rosales' "Das Leben keiner Frau" (Freitag), Comics über 9/11 (Standard), Georg Kleins "Bruder aller Bilder" (NZZ), Hervé le Telliers "Die Anomalie" (SZ) und Michael Buselmeiers "Elisabeth". Ein Abschied" (FAZ).
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Musik

"Es wird ein herrlicher Herbst werden im Jazz", verspricht Andrian Kreye in der SZ nach dem ersten Reinhören in angekündigte Veröffentlichungen, die er uns in kleinen Notizen schmackhaft macht. Etwa Theo Crokers "BLK2LIFE", das Ende des Monats erscheint: "Der Trompeter will mit seinem neuen Album nicht weniger als die gesamte Geschichte der afroamerikanischen Kultur von ihren afrikanischen Wurzeln bis zur Gegenwart erzählen. Das bleibt trotz der musikalischen und inhaltlichen Spannweite ein in sich geschlossenes Meisterwerk mit sehr viel Respekt vor Soul und Funk." Das klingt ausschnittsweise so:



Weitere Artikel: Michael Jäger erinnert im Freitag daran, wie sich die Beatles ab 1966 von den Bühnen zurückzogen, um am Soundtrack für 1968 zu arbeiten. Nadine Lange gratuliert im Tagesspiegel der Rockmusikerin Chrissie Hynde zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden das neue Album von Kanye West (taz, mehr dazu bereits hier), ein Auftritt von Hans Unstern (Tagesspiegel) und Berliner Ausstellungen über Musik in der Antike (Tagesspiegel).
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