Efeu - Die Kulturrundschau

Knickfittich, Flatterpelz, Zagelschratt

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11.09.2021. In der Welt huldigt Sibylle Lewitscharoff den diabolischen Finessen deutscher Dante-Übersetzungen. Die Nachtkritik erlebt bei Christopher Rüping in Bochum einen Dante der Lässigkeit und Freiheit. Die FAZ blickt auf die Zäsur zurück, die der 11. September auch für die amerikanische Literatur bedeutete. Die taz erschauert in Venedig in Jan Matuszyńskis Film "Leave No Traces" über die Willkür polnischer Staatsgewalt. Die FAZ versinkt in den abstrakten Landschaften Georgia O'Keeffes.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.09.2021 finden Sie hier

Bühne

Proben das Leben nach Dante: Anne Rietmeijer und Damian Rebgetz. Foto: Jörg Brüggemann / Bochumer Schauspielhaus

Viel Kunst, viel Anstrengung, aber auch Tiefe und Leichtigkeit erlebt Nachtkritiker Sascha Westphal bei Christopher Rüpings Inszenierung "Das neue Leben" am Bochumer Schauspielhaus. Frei "nach Dante, Meat Loaf und Britney Spears" kreist das Stück um die Liebe zu Beatrice, um den Tod und die Kunst: "Anna Drexler scheitert daran, die Bedeutung, die Beatrices Gruß für Dante hat, in Worte zu fassen, und gerät dabei mehr und mehr außer sich. Eine wahre Glanznummer aus gespielter Verzweiflung und echter Unsicherheit, oder auch echter Verzweiflung und gespielter Unsicherheit, die in ihrer Hibbeligkeit deutliche Erinnerungen an Maja Beckmanns Spiel weckt. Und Anne Rietmeijer darf, nachdem sie zunächst in einer wunderbaren offenen, die Liebe jenseits aller binären Vorstellungen feiernden Kussszene mit William Cooper und Damian Rebgetz die körperliche Seite der Sehnsucht und des Verlangens gekostet hat, aus dieser Ménage-à-trois aussteigen und die unerfüllte Liebe als Quelle künstlerischer Inspiration preisen. All das verströmt eine Lässigkeit und Freiheit, die Rüpings Inszenierung in diesen ersten 80 Minuten eine ganz eigene Leichtigkeit verleiht. Aber so spielerisch, so kindlich kann es nicht bleiben. Das Unvermeidliche muss geschehen."

Besprochen werden Johan Simons' Inszenierung von Shakespeares "Richard II" am Wiener Burgtheater (und vor einem besorgniserregend schütter" besetzten Parkett, wie Margarete Affenzeller im Standard bemerkt, die vielen Premieren übersteigen offenbar die Nachfrage des Publikums, FAZ), Wu Tsangs "Orpheus" am Zürcher Schauspielhaus (Nachtkritik), Edward Taylors "Ein mörderischer Unfall" im Frankfurter Rémond-Theater (FR) und eine "Medea" im Theater in der Josefstadt (Standard).
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Kunst

Georgia O'Keeffe: "Red, Yellow and Black Streak", 1924. Bild: Centre Pompidou

In der FAZ rät Bettina Wohlfahrt dringend zu einem Besuch der Georgia-O'Keeffe-Ausstellung im Pariser Centre Pompidou, denn in Europa gebe es skandalös wenige Bilder dieser großen amerikanischen Malerin: "Dass ihre Malerei die Darstellung gegebenenfalls zur Auflösung treibt oder auf elementare Linien und Formen reduziert, bleibt für O'Keeffe ein Ausdrucksmittel, kein programmatisches Ziel. Selbst wenn Gemälde den Namen 'Abstraction' tragen, wurzeln sie doch in einer spürbar sinnlichen Erfahrung des Realen. O'Keeffe ist eine Pionierin der amerikanischen Moderne, indem sie die in ihren jungen Jahren durchweg europäischen Vorbilder der Avantgarden aufnimmt und verarbeitet, ihre Malerei jedoch zutiefst mit ihrem inneren Seinsgefühl, das heißt auch: mit einer amerikanischen Identität prägt."

Weiteres: Im Tagesspiegel meldet Nicola Kuhn, dass Klaus Biesenbach Direktor der Neuen Nationalgalerie und des Museums des 20. Jahrhunderts in Berlin wird, das Kuratorenduo Sam Bardaouil & Till Fellrath übernimmt die Leitung des Hamburger Bahnhofs. Als journalistisches Dokument taugt Thomas Höpkers berühmt-berüchtigtes Bild vom 11. September nicht, stellt Freddy Langer ebenfalls in der FAZ fest: "Vielleicht ist es gar nicht anders zu ertragen denn als Kunstwerk." Peter Richter feiert in der SZ die Vermeer-Ausstellung in der Dresdner Gemäldegalerie, die sich dem restaurierten Gemälde "Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster" verschreibt: "Der große Vermeer zeigt sich hier auf einmal als ein klitzekleines bisschen weniger subtil, als immer alle dachten. Gott sei Dank - muss man aber dazusagen. Denn sonst wären der Trickreichtum und die abgründige Schönheit seiner Malerei auch kaum auszuhalten."

Besprochen wird die Ausstellung "Liebe, Kriege, Festlichkeiten" zu narrativer Kunst aus Japan" im Museum Rietberg in Zürich (NZZ).
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Film

Spielt in den 80ern in Polen, ist aber relevant für die Gegenwart: "Leave no Traces"

Wer nimmt den Goldenen Löwen vom Filmfest Venedig mit nach Hause? Favoriten gibt es tatsächlich viele, schreibt Tim Caspar Boehme in der taz. Im allgemeinen wurde die Filmkunst in diesem Jahr nicht neu erfunden, aber auf erfreulich hohem Niveau gehalten - und "eine wunderbar muffige Atmosphäre" gibt es in Jan P. Matuszyńskis polnischem Solidarnosc- und Polizeigewaltdrama "Leave No Traces" auch auszukosten: "Matuszyński führt den polnischen Staatsapparat in seinem systematischen Bemühen, die Angelegenheit zu vertuschen, mit gnadenloser Gründlichkeit vor. Wie er einschüchtert, Familien zerrüttet, die Justiz gängelt. Überzeugt auch als indirekte Kritik an der Justizreform der aktuellen PiS-Regierung." Auch Susan Vahabzadeh in der SZ war begeistert: "Kaum ein Film bei diesem Festival hatte so viel Relevanz für die Gegenwart."

Dass es in diesem Film keine Folterszenen gibt, wie in zahlreichen anderen Filmen dieses Jahrgangs, dankt ein von den Foltereien ziemlich gemarterter Hanns-Georg Rodek dem Film in der Welt sehr. Er zeigt zwar "Ansätze einer unabhängigen Justiz, und man darf unterstellen, dass dieser Film nicht umsonst jetzt entstanden ist, da die PiS-Regierung schon ziemlich weit damit gekommen ist, diese Unabhängigkeit wieder abzuschaffen."

FAZ-Kritiker Dietmar Dath nimmt das mit Preisvergabe einfach schon mal in die eigene Hand, während sich Andreas Busche im Tagesspiegel noch durch Ridley Scotts neuen Mittelalterreißer "The Last Duel" beißt.

Weitere Artikel: Valerie Eiseler wirft für die FR einen Blick darauf, wie das Superheldenkino 9/11 verarbeitet. Die Agenturen melden, dass der österreichische Experimentalfilmemacher Ferry Radax gestorben ist. Und: So verabschieden sich wirklich nur die Franzosen von ihren Filmstars - ein zu Tränen rührendes Facebook-Video von Jean-Paul Belmondos Trauerfeier, ein Staatsakt mit Ennio Morricone.

Besprochen werden Denis Villeneuves "Dune" (ZeitOnline), Tom McCarthys Thriller "Stillwater" mit Matt Damon als Amerikaner in Marseille (FAZ), Václav Marhouls "The Painted Bird" (SZ, mehr dazu hier), die auf Apple+ gezeigte Dokumentation "9/11 - Im Krisenstab des US-Präsidenten" (Tagesspiegel), Johannes Nabers BND-Satire "Curveball" (SZ), die Netflix-Doku "Bob Ross" über das Geschäft mit dem beliebten TV-Kunstlehrer (SZ) und die auf Sky gezeigte Miniserie "Szenen einer Ehe" mit Jessica Chastain und Oscar Isaac (ZeitOnline).
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Literatur

Verena Lueken blickt in der FAZ darauf, wie sich insbesondere die amerikanische Literatur an der Zäsur und dem Trauma abarbeitet, das 9/11 darstellt - eine literarische Krise, denn "eine einigende, gültige Erzählung, die das leistete, war nicht zu haben. Einige New Yorker Schriftsteller ringen damit bis heute. Paul Auster etwa, dessen Werk sich deutlich spaltet in die Zeit vor und nach dem 11. September und dessen Sätze damals, disruptiv zum Teil oder ihrerseits in Wiederholungen gefangen, davon zeugen, dass eigentlich die Wörter fehlten, und die Monstrosität des Ereignisses tradierte Formen des Denkens und Sprechens außer Kraft gesetzt hatte." Auch "dass die Motive typischer amerikanischer Erzählungen - Mobilität und Selbstbestimmung, Freiheit und Selbstverwirklichung - nicht hilfreich waren in dieser Zeit, das war allen klar."

Vor 700 Jahren starb Dante. In der Literarischen Welt freut sich Sibylle Lewitscharoff über die Spielfreude, mit der deutsche Übersetzungen bei der "Commedia" insbesondere bei den Teufelsnamen ans Werk gehen, die sie sich alle rausgeschrieben hat. Ein kurzer, wirklich nur ein kurzer Auszug daraus: "Sausfleder, Sauborst, Sträubebart, Brandelzorn ... Reckelschnauzer, Trittenzott, Fletschkoller ... Knickfittich, Flatterpelz, Zagelschratt ... Speikatz, Sausefeck, Strubbelkopp, Schurkenkraller ... In der Originalsprache klingen die Namen vergleichsweise fad, das Deutsche hat hier den Vorzug, neue Wörter durch Zusammensetzung von Substantiven und Adjektiven erfinden zu können."

Iso Carmartin verneigt sich in der NZZ vor Giovanni Boccaccio, der einen beträchtlichen Anteil daran hatte, dass uns Dantes "Commedia" erhalten geblieben ist. Für die Literarische Welt spricht Marc Reichwein mit der Dante-Expertin Franziska Meier, die gerade eine Dante-Biografie vorgelegt hat und außerdem hofft, dass künftige Dante-Lesegenerationen nicht den ethischen Maßstab der Gegenwart an die "Commedia" anlegen. Außerdem denkt der Schriftsteller Tommaso Soldini in der NZZ über das Geheimnis der "Commedia" nach. Dlf Kultur widmet seine aktuelle "Lange Nacht" Dantes Werk.

Weitere Artikel: Julia Hubernagel berichtet in der taz von ihrem Treffen mit der Schriftstellerin Dilek Güngor. Tazler Dirk Knipphals hatte beim Sommerfest des Literarischen Colloquiums Berlin nur Augen für die Schriftstellerin Helga Schubert. Arno Widmann (FR) und Nicolas Freund (SZ) schreiben über den polnischen Science-Fiction-Autor Stanisław Lem, der morgen vor 100 Jahren geboren wurde (mehr dazu bereits hier). Und die Literarische Welt - heute erstmals als Beilage zur WamS, der sie künftig einmal monatlich beiliegen wird - hörte sich im Literaturbetrieb um, inwiefern Schriftsteller den Herausforderungen der Gegenwart begegnen.

Besprochen werden unter anderem Maxim Billers "Der falsche Gruß" (taz), Baptiste Bouthiers und Héloïse Chochois' Comic "9/11. Ein Tag, der die Welt veränderte" (Tagesspiegel), Katharina Volckmers "Der Termin" (Freitag), Sasha Marianna Salzmanns "Im Menschen muss alles herrlich sein" (FR), Matt Haigs "Evie und die Macht der Tiere" (Tagesspiegel), Sven Regeners "Glitterschnitter" (taz), Felicitas Hoppes "Die Nibelungen" (Literarische Welt) und C Pam Zhangs "Wie viel von diesen Hügeln ist Gold" (FAZ).
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Architektur

In der FR pocht der Architekturtheoretiker Robert Kaltenbrunner auf den urbanen Freiraum, an dem das Verhältis von Individuum und Gesellschaft ausgehandelt werde: "Der öffentliche Raum war nie begehrter als während der Pandemie, die Menschen wollen sich treffen und austauschen, das Cocooning ist ja eher eine Zwangshandlung. Zugleich warfen die entsprechenden Sicherheitsvorschriften (z.B. social distancing) ein grelles Schlaglicht auf das Miteinander in der Stadt. Und so, wie das Verhältnis von Nähe und Distanz in der Krise neu ausgehandelt wurde, so wäre es - wie umgekehrt auch die Individualität - als ein dialektisches System zwischen Abgrenzung und Zugehörigkeit zu denken. Konsequenterweise müsste diese Erkenntnis in einen Städtebau einmünden, die anderen Parametern folgen: Nämlich in der Beachtung und behutsamen Gestaltung der Grenzen."
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Musik

Vor wenigen Tagen wurde Rebecca Saunders' neue Komposition "to an utterance" von Nicolas Hodges und dem Lucerne Festival Orchestra unter Enno Poppe in Luzern uraufgeführt, jetzt spielten sie sie auch beim Musikfest Berlin. In der Arbeit zeichnet sich "ein Drama des fragmentierten Hin- und Hergeworfenseins zwischen immer neuen und immer anders vergeblichen Ansätzen" ab, schreibt Gerald Felber in der FAZ. Außerdem hat die FAZ Jan Wieles Gespräch mit Country Joe McDonald online nachgereicht, der darauf zurückblickt, wie er einst Protestsongs gegen den Vietnamkrieg gesungen hat. Auch das Gespräch mit Drangsal wurde von der FAZ online nachgereicht. Und Axel Weidemann unterhält sich für die FAZ mit der Videospielekomponistin Yoko Shimomura, deren neueste Arbeit für das Videospiel "Merregnon: Land of Silence" vom Royal Stockholm Philharmonic Orchestra eingespielt wurde und zwar hier in voller Länge und hier ein Ausschnitt:



Besprochen werden das neue Album "His Last Letter" von Geoff Muldaur (taz) und Elisabeth Coudouxs Album "Earis" (FR).
Archiv: Musik