Efeu - Die Kulturrundschau

Würde und Wärme

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.02.2022. Der Guardian feiert in der Londoner Tate Modern surrealistische Kunst aus aller Welt. Der Standard bejubelt, dass das New Museum mit Faith Ringgold endlich die Künstlerin anerkennt, die schwarzen Frauen einen Platz in der Bildenden Kunst verschaffte. Als nostalgische Hommage an das Kino und unerwartetes Meisterwerk würdigen die Filmkritiker Kenneth Branaghs Schwarzweißfilm "Belfast" über die Wirren des Nordirlandkonflikts der Sechziger. "Ungarns Korruption hat Shakespeare-Dimensionen", sagt der ungarische Regisseur Andras Dömötör im Standard. Und die Musikkritiker trauern um Mark Lanegan, den "Nick Cave des Grunge".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.02.2022 finden Sie hier

Kunst

Bild: Leonora Carrington Self Portrait ca. 1937-38 Metropolitan Museum of Art (New York, USA) © The estate of the artist, DACS, 2021

In eine Welt Freudscher Traumwelten, Alpträume und Fantasien - und zwar jenseits von Dali oder Magritte - taucht Adrian Searle (Guardian) in der Ausstellung "Surrealism Beyond Borders" in der Londoner Tate Modern, die ihm surrealistische Werke aus aller Welt zeigt: "Auf einem Gemälde des philippinischen Künstlers Hernando R Ocampo fällt der Schatten eines Kruzifixes über einen Stadtplatz, auf dem ein riesiger Frauenkopf gleichzeitig in zwei Richtungen starrt. 1939 gemalt, mischte Ocampo katholische Symbolik mit surrealistischer Fremdartigkeit, während Haitian Hector Hyppolite, ein Vodou-Priester und Maler in dritter Generation (der lange Zeit Hühnerfedern als Pinsel verwendete), eine etwas andere Art von Synkretismus anwendet, zwischen Katholizismus und Vodou-Symbolik in seinen Gemälden. In einem gibt es Messer und Äxte, ein heiliges Herz, Spielkarten und eine Figur, die ein Schwert schwingt."

Bild: Faith Ringgold, Dancing at the Louvre: The French Collection Part I, #1, 1991. The Gund Gallery at Kenyon College, Gambier, Ohio, Gift of David Horvitz '74 and Francie Bishop Good, 2017.5.6. © Faith Ringgold / ARS, NY and DACS, London, courtesy ACA Galleries, New York 2022

Wie keine andere Künstlerin gab Faith Ringgold der "Lebenswelt schwarzer Frauen in der bildenden Kunst Amerikas eine Form und eine Sprache", staunt Sebastian Moll, der für die SZ die große Retrospektive "American People" im New Yorker New Museum besucht hat: "So etwa in einem ihrer berühmten 'Story-Quilts' von 1991, auf dem eine junge schwarze Frau, die auto-fiktionale Willie Marie Simone, dabei zu sehen ist, wie sie mit ihren Kindern durch das Louvre tanzt und vor der Mona Lisa frohlockt. In einer anderen Arbeit wird gezeigt, wie Picasso in seinem Studio eine nackte schwarze Frau malt. In einem dritten Story-Quilt, 'Le Cafe des Artistes', sieht man die Pariser Boheme der Zwanzigerjahre mit Toulouse Lautrec, Gaugin und Van Gogh, aber auch Hemingway und Getrude Stein. Ringgold setzt schwarze Künstler:innen der Harlem Renaissance wie Lois Mailou Jones, Elizabeth Catlett, Romare Bearden und sich selbst dazu und schreibt sie so in jene Geschichte hinein, die sie ausgelassen hatte."

Ida Maly: Patientin im Feldhof in Graz. 1930
Im Standard annonciert Katharina Rustler eine eindringliche Ausstellung im Lentos Museum in Linz zum Werk der österreichischerin Malerin Ida Maly, die 1928 in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen und 1941 in der NS-Tötungsanstalt Schloss Hartheim in Oberösterreich im Alter von 46 Jahren ermordet wurde. Auch in der Psychiatrie malte sie noch: "Fahriger und linearer wurden ihre Zeichnungen, oft sind es Porträts anderer Patientinnen. Immer mehr lösen sich die Formen auf, die Personen zerfallen zu Fragmenten, die Gesichter wachsen zu doppeldeutigen Fratzen, Texte klagen ihre Situation an. Wie düstere Prophezeiungen berichten Malys Bilder von den Gräueln der NS-Euthanasie an Psychiatrieinsassen."

Besprochen werden die Ausstellung "Impressionismus" in der Hamburger Kunsthalle (taz), Rabih Mroues Ausstellung "Under the Carpet" im KW Institute for Contemporary (taz), die Ausstellung "Walk!" in der Frankfurter Schirn (Zeit), die Ausstellungen "Auf Linie" und "Gegen den Strich" über NS-Kunstdenkmäler im Wien Museum (Standard), die Gabriele-Münter-Ausstellung "Pionierin der Moderne" im Zentrum Paul Klee in Bern (NZZ) und die Hannah-Höch-Ausstellung im Berliner Bröhan Museum (Tagesspiegel).
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Literatur

Besprochen werden unter anderem Fatma Aydemirs "Dschinns" (Freitag), Senthuran Varatharajahs "Rot (Hunger)" (SZ), die nunmehr abgeschlossene Gesamtausgabe der Werke von Hugo von Hoffmannsthal (SZ), Stine Pilgaards "Meter pro Sekunde" (SZ), Bettina Flitners "Meine Schwester" (Welt) und Nino Haratischwilis "Das mangelnde Licht" (FAZ). Mehr um 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Film

Gute Laune im Nordirlandkonflikt: Kenneth Branaghs "Belfast"

Ein Neunjähriger in den Wirren des Nordirlandkonflikts der Sechziger: Mit seinem Schwarzweißfilm "Belfast" legt Kenneth Branagh, der sich zuletzt eher auf gemütliche Agatha-Christie-Knobeleien und Disney-Blockbuster verlegt hatte, endlich wieder einmal Filmkunst- und Oscar-Ambitionen an den Tag, schreibt Perlentaucherin Thekla Danneberg. Der Film ist autobiografisch grundiert, aber "eher Hommage an das Kino und die Kindheit, mal elegisch, mal sentimental, immer nostalgisch. ... Die Plünderung eines Supermarkts geht über in die Duell-Szene aus 'Zwölf Uhr mittags', Familienglück gibt's am Sonntagnachmittag zu 'Chitty Chitty Bang Bang' und schließlich gönnt Branagh Buddys Eltern - bei der Beerdigung des Großvaters - einen Bombast-Auftritt zu 'Everlasting Love'. Nichts gegen Spaß auf der Beerdigung, aber die gute Laune, die Kenneth Branagh hier seinem Film aufdrückt, widerlegt seine eigene Geschichte." Marion Löhndorf in der NZZ wiederum schreibt, dass Branagh mit diesem Film "ein unerwartetes Meisterwerk" gelungen ist, "das daran erinnert, dass er vor dreißig Jahren einmal als Genie gehandelt wurde". In der taz führt Ralf Sotschek durch den Film, erläutert historische Hintergründe und verweist auf Interviews mit dem Filmmacher, mit dem heute auch ein Gespräch in der Welt zu finden ist.

Seit vielen Jahren fordert der Kameramann Jost Vacano in einem Rechtsstreit von der Bavaria und Eurovideo eine höhere Tantiemenbeteiligung am Klassiker "Das Boot". Kamen nun die Meldungen (etwa hier noch gestern Abend in der FAZ), dass die Sache nun durch die Summe von einer halben Million Euro außergerichtlich beigelegt worden sei, zu früh? Der Kläger behaupte jedenfalls, in nichts dergleichen eingewilligt zu haben, berichtet Tobias Kniebe in der SZ. "'Wir rätseln noch immer', sagt Anwalt Nikolaus Reber." Nun "müsse das Gericht entscheiden, ob das Schreiben etwa als Anerkenntnis der Beklagten zu werten sei. ... Von dem frohgemut verkündeten Ende der 'gerichtlichen Auseinandersetzung' kann jedenfalls keine Rede sein." Bei den Angeklagen "könnte der Wunsch erkennbar sein, ein rechtskräftiges Urteil auf jeden Fall zu vermeiden. Beide Unternehmen fürchten, einen Präzedenzfall für Nachhonorierungen zu schaffen."

Im SZ-Interview plaudert Pedro Almodóvar nur am Rande über seinen neuen Film "Parallele Mütter", eine Auseinandersetzung mit der historischen Erfahrung der Franco-Diktatur, aber umso mehr aus dem Nähkästchen. Zum Beispiel, wie er als junger Mann mal Patricia Highsmith traf, die er bekniete, doch bitte "Das Zittern des Fälschers" verfilmen zu dürfen, woraus letzten Endes nichts wurde. "Sie war es gewohnt, dass die berühmtesten Filmemacher der Welt hinter ihren Büchern her waren - aber ausgerechnet nach diesem Roman hatte sie noch nie jemand gefragt." Und "sie hat geschimpft wie ein Rohrspatz! Wim Wenders ging ihr besonders auf die Nerven. Auch Claude Chabrol. Selbst an Alfred Hitchcock ließ sie kein gutes Haar. Da musste ich ganz schön schlucken. Ich wollte ihr Buch - und sie redet über all diese großen Namen, als seien sie die letzten Idioten."

Außerdem: Für die Jungle World wirft Friedemann Melcher einen Blick nach Paris, wo dem 2019 besetzten, kollektiv betriebenen Kino "La Clef" die Räumung droht. Besprochen werden das Sportdrama "King Richard" mit Will Smith (ZeitOnline, NZZ, FR, taz), Martín Farinas Dokumentarfilm "El Fulgor" über Gauchos und Karnevalstänze in Argentinien (Perlentaucher, epdFilm), "Swan Song" mit Udo Kier (NZZ), Kaouther Ben Hanias "Der Mann, der seine Haut verkaufte" (taz), und Christian Schäfers "Trübe Wolken" (SZ). Außerdem erklären uns die Kritikerinnen und Kritiker, welche Filme sich diese Woche lohnen.
Archiv: Film

Bühne

Im Standard-Gespräch mit Margarete Affenzeller erklärt der ungarische Theaterregisseur András Dömötör, der das Land verlassen hat und im Wiener Burgtheater derzeit Thomas Melles Stück "Ode" inszeniert, weshalb er nicht glaubt, dass die ungarische Opposition bei den Parlamentswahlen eine Chance hat: "Orbáns Narrativ ist sehr klar: Ich beschütze euch, ich bin hier, ihr könnt mir vertrauen. Da ist dann die Korruption völlig egal, die ist in Ungarn nämlich noch viel ärger als der Fall Strache. Ungarns Korruption hat Shakespeare-Dimensionen. Alle wissen Bescheid, aber trotzdem sind die Politiker noch da, weil sie alles kontrollieren und weil die Menschen glauben, dass es besser wird. Der Regierungschef ist überall präsent. Die Manipulation kostet Unsummen. Viele sind manipuliert, viele haben ökonomische Interessen am System, viele schweigen auch aus Angst um ihre berufliche Sicherheit."

In der Berliner Zeitung (leider inzwischen hinter Paywall) macht Birgit Walter ihrer Wut über den "Gender-, Sensibilisierungs- und Antidiskriminierungswahn" an deutschen Theatern Luft. Vor allem der Fall Klaus Dörr, der die Volksbühne vergangenes Jahr nach MeToo-Vorwürfen verlassen musste (Unsere Resümees), lässt ihr keine Ruhe: Im Zentrum der Vorwürfe stand Sarah Waterfeld, die mit ihrem Kollektiv 'Staub zu Glitzer' unter Dercon die Volksbühne besetzte, bis die Polizei das Haus räumte, Dörr lehnte ihr Projekt an der Volksbühne ebenfalls ab. "War es ein Racheplan, was nun folgte? Waterfeld rühmt sich heute, acht Monate lang für Dörrs Sturz und das Ende der 'patriarchalen Tyrannei' gekämpft zu haben. Erzählt auf Instagram, wie sie die Frauen zu der Beschwerde gebracht und die Presse mobilisiert hat, 'Überredungskunst' einsetzen musste. Denn die Frauen wollten partout keine Namen nennen, nicht vor die Kamera, weshalb die Fernsehkollegin absprang. Zuletzt habe Waterfeld, erzählt sie, die taz aktiviert, die dann die läppischen Vorwürfe skandalisierte. Am Tag von Dörrs Rücktritt habe sie eine halbe Stunde lang geweint - vor Glück. Enttäuscht nur, weil die taz ihre, Waterfelds, monatelange Recherchearbeit einfach unerwähnt ließ. Solche Kräfte bestimmen, was an der Spitze eines Berliner Staatstheaters passiert? Nicht der Kultursenator?"

Besprochen werden Evgeny Titovs Inszenierung von Strindbergs "Der Vater" am Staatstheater Wiesbaden (FR), Peter Carps Inszenierung von Simon Stephens' "Am Ende Licht" am Theater Freiburg (nachtkritik) und Christians Weise Inszenierung der "Queen Lear" am Berliner Gorki-Theater (Zeit, Welt, FAZ).
Archiv: Bühne

Musik

Trauer um den Sänger Mark Lanegan, der erst mit seiner Band Screaming Trees und später auch solo im Indie-Rock reüssierte. Er war "eine Art Nick Cave des Grunge", schreibt der SZ-Kritiker Jens-Christian Rabe mit Lanegans rauher Stimme im Ohr, von der "ein ganz eigener, kaputter Zauber" ausgeht, vor allem " wenn sie nicht laut und viril erscheinen will, sondern leise und zart". Auch Ueli Bernays ist dieser Stimme erlegen: "Das Scheitern lag immer im Tonfall seiner Musik, im Timbre seiner Stimme aber behaupteten sich Würde und Wärme", seufzt er in der NZZ. "Sein schwerer Bariton blieb gleichsam in der Spur der gesprochenen Sprache. Die Worte rissen bisweilen ab, die Stimme tönte oft rauchig und kratzig, um dann in einem weinerlichen Vibrato auszuschwingen. Auf Virtuosität verzichtete Lanegan ebenso wie auf dynamische Extreme. Statt zu brüllen oder zu heulen, kultivierte er seine Lakonie, eine Mischung aus Desillusionierung, Zynismus und Melancholie." Einen weiteren Nachruf schreibt Gerrit Bartels im Tagesspiegel.



Völlig umgehauen berichtet Standard-Kritiker Daniel Ender von einem Wiener Bach-Abend mit dem Pianisten Francesco Piemontesi: Dieser bot "mit seiner kernig-durchartikulierten Spielweise, 'cembalistischer' agogischer Freiheit und beherzten Verzierungen eine der überzeugendsten pianistischen Bach-Interpretationen seit Jahrzehnten." Im großen Zeit-Gespräch mit Christoph Dallach plaudert Johnny Marr, einst bei The Smiths, über Billie Eilish, Boheme und Drogen.

Außerdem: Harry Nutt (FR) und Edo Reents (FAZ) schreiben zum Tod des Procol-Harum-Sängers Gary Brooker. Besprochen werden ein Konzert der Wiener Philharmoniker und Valery Gergiev (FR), eine Netflix-Doku über Kanye West (FAZ), das neue Casper-Album (taz) und eine Aufnahme des von Yannick Nézet-Séguin dirigierten Philadelphia Orchestras mit Arbeiten von Florence Price ("fulminant", meint Ljubiša Tošic im Standard).
Archiv: Musik