Efeu - Die Kulturrundschau

Mausoleum der Liebe

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22.08.2022. Die Feuilletons feiern Barbara Freys Schnitzler-Inszenierung "Das weite Land" bei der Ruhrtriennale. Die Berliner Zeitung fragt, was eigentlich an den Vorwürfen dran war, die gegen den früheren Volksbühnenchef Klaus Dörr erhoben wurden. Die FAZ lernt mit den Bildern der Fotografin Joanna Piotrowska Kampfsport ohne Gegner. Der Standard bemerkt, wie zögerlich der Literaturbetrieb seine Solidarität mit Salman Rushdie bekundet. Das Zeit-Magazin huldigt dem schlichten schwarzen T-Shirt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.08.2022 finden Sie hier

Bühne

Nach einem taz-Bericht über Machtmissbrauch und sexuelle Übergriffe musste Volksbühnen-Intendant Klaus Dörr im vorigen Jahre zurücktreten. In der Berliner Zeitung berichtet Birgit Walter nun, dass Dörr seinen Prozess gegen die taz gewonnen hat. Viele Vorwürfe gegen ihn konnten nicht belegen werden oder waren aufgebauscht. Unsauber, findet auch Walter den inkriminierten Bericht (unser Resümee): "Wie die 'Skandal-Übergriffe' tatsächlich aussahen, steht in den Gedächtnisprotokollen der sieben Beschwerdeführerinnen, die der Berliner Zeitung vorliegen: 'Hand auf die Schulter' oder 'auf ein Bein legen' etwa, es reichte 'bis zu Handküssen zur Begrüßung'. Die 'sexistischen' Begriffe hießen 'Maus', 'Theatermaus', 'Tante', Machtmissbrauch meinte wohl SMS nach Feierabend. Eine Schauspielerin, 63, unkündbar, will Existenzangst bekommen haben. Die Anwälte des Kultursenators erkannten in den Vorwürfen nicht mal Gründe für eine Abmahnung. Noch dubioser verhält es sich mit dem Upskirting. Als Beleg präsentiert die taz vor Gericht kein Foto, kein Opfer, nicht mal einen Zeugen, der den Vorwurf vom Hörensagen bestätigen würde. Vielmehr verweist der taz-Anwalt darauf, die Behauptung sei nur 'im Passiv' erfolgt."

Barbara Freys Schnitzler-Inszenierung "Das weite land"Foto: Matthias Horn / Ruhrtriennale

Barbara Frey hat bei der Ruhrtriennale in Bochum Arthur Schnitzlers "Das weite Land" inszeniert, in einer Koproduktion mit dem Wiener Burgtheater. Nachtkritiker Andreas Wilink sah bewundernd, wie Frey hier "ein Mausoleum der Liebe" errichtet. In der SZ ist Alexander Menden ganz und gar überwältigt: "Die Erstarrung im Status Quo, das Bemühen um menschliche Annäherung und das Minenfeld aus Aufrichtigkeit und Verschweigen, das die Ehe ist, wurden nie schärfer in Dialoge gefasst als in diesem Drama. Freys kongeniale Produktion zeigt, dass es, indem es sich weigert eindeutige Antworten zu geben, in einer Welt des allgegenwärtig schnellen Urteils zeitgemäßer ist denn je." In der FAZ schwärmt Simon Strauss von der Feinfühligkeit, mit der Frey Schnitzlers Stück auf die Bühne bringt, und dem hervorrragendem Schauspielensemble, allen voran Michael Maertens als Friedrich Hofreiter, dem in die Jahre gekommenen Abenteurer: "Eine harte Wehmut ist über ihn gekommen, nicht sentimental schaut er auf sein auslaufendes Leben, sondern mit jener Mischung aus Spott und Verärgerung, die den erfolgreichen Geschäftsmann auch im Falle einer Verhandlungsniederlage auszeichnet: 'Es ist überhaupt dumm eingerichtet auf der Welt', schimpft er, 'mit vierzig Jahren sollte man jung werden, da hätte man erst etwas davon.'"

In der Welt teilt Stefan Keim diese Begeisterung kaum, er findet die Inszenierung ziemlich trist und fürchtet hier eine neue Generallinie der Ruhrtriennale: "Die Ruhrtriennale war früher ein Ort der Utopien, der kraftvollen Gegenentwürfe. In diesem Jahr suhlt sie sich im Siechen, zeigt mit großer Virtuosität die Hoffnungslosigkeit, gönnt sich höchstens einen kleinen, mühsam erarbeiteten Schimmer, dass es noch so etwas wie Leben geben könnte."

Besprochen werden außerdem die Choreografien beim Tanz im August (taz).
Archiv: Bühne

Literatur

Schriftstellerinnen und Schriftsteller halten sich bemerkenswert bedeckt, was Solidarität mit Salman Rushdie betrifft, beobachtet Michael Wurmitzer vom Standard. Als Khomeini zum Mord an Rushdie aufrief, war dies noch anders. "Die Angst, boykottiert oder angegriffen zu werden, scheint präsenter als früher. Andererseits: Man mag schwerer Solidarität bekunden, wenn man nicht wie etwa Politiker von Sicherheitsleuten umgeben ist." Im Dlf Kultur spricht Deniz Yücel über eine Solidaritätslesung deutschsprachiger Literaten, die gestern am Berliner Ensemble stattgefunden hat.

Ali Sadrzadeh erinnert derweil in der FAZ an die politischen Umstände der Fatwa: Khomeini habe damals den Iran vor allem wieder auf die globalpolitische Tagesordnung setzen wollen. "Es ist eine bleierne Zeit, es herrscht eine allgemeine Enttäuschung über den sinnlosen achtjährigen Krieg, Lebensmittel sind rationiert, die internationale Isolation hat die Wirtschaft ruiniert, hinter vorgehaltener Hand verbreiten viele ihre Beobachtungen, wie täglich Leichen von Hingerichteten in Massengräbern verscharrt werden. ... Der alles beherrschende gottähnliche Führer ist wegen seiner Krankheit aus der Öffentlichkeit verschwunden, und unter den Geistlichen herrscht eine gnadenlose Rivalität, wer Khomeini beerben soll. ... Khomeini hat das Buch Rushdies nie gesehen, geschweige denn gelesen," aber nach der Fatwa sind "die Propagandaexperten der Islamischen Republik am Ziel. Die Welt spricht wieder vom revolutionären Iran. Es kommt zu Straßenprotesten in vielen islamischen Ländern, die ehrwürdige Al Azhar in Kairo, die Regierung in Saudi-Arabien und die Islamische Konferenz melden sich zum Buch zu Wort und verurteilen den Autor."

Im Standard setzt Petra Ganglbauer ihre Essayreihe über prekäres (Über-)Leben im Literaturbetrieb fort. Eine Tendenz, die bereits bei anderen Künsten für Unmut sorgt, bricht sich auch im Literaturbetrieb immer mehr Bahn, beobachtet sie: Altersobergrenzen für Preise und Stipendien, von denen der überwältigende Teil schreibender Menschen deutscher Sprache allerdings schlicht abhängig ist.. "Immer noch fokussieren gewisse Verleger, Kritiker, Rezensenten, Veranstalter die Literatur von Autoren; immer noch liegen Manuskripte unbekannter älterer Frauen in Schubladen. Und immer wieder erzählen mir jüngere Kolleginnen von ihren Erfahrungen mit Kritikern, Juroren, Kuratoren oder Lektoren. Den Erzählungen ist zu entnehmen, dass sich die Entscheidungsträger oftmals nicht alleine auf die literarische Qualität konzentrieren, sondern gezielt auch auf das jugendliche Alter und das äußere Erscheinungsbild. Einige junge Autorinnen wenden eine Selbstinszenierung, welche über das Literarische hinausreicht, ganz bewusst an."

Weitere Artikel: In der FAS berichtet Anna Prizkau von ihrem Treffen mit dem Dichter Ostap Slyvynsky, der im ukrainischen Lwiw an einem "Wörterbuch des Krieges" arbeitet. Der Schriftsteller Sergei Gerasimow setzt hier und dort in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Gespräche mit Lisa Eckhart, die gerade ihren neuen Roman "Boum" promotet, bringen der Standard und die Welt. Julia Encke erzählt in der FAS von ihrem Ausflug zum Thomas-Mann-Haus in Los Angeles. Tilmann Krause von der Welt legt sich mit Patrick Modianos "Sonntage im August" an den Strand.

Besprochen werden unter anderem neue Lyrikbände von Maria Stepanova, Jelena Schwarz und Tomas Venclova (NZZ), der von Katharina Herrmann herausgegebene Sammelband "Dichterinnen & Denkerinnen. Frauen, die trotzdem geschrieben haben" (taz), Giulia Caminitos "Das Wasser des Sees ist niemals süß" (FAS), Luz' Comicadaption von Virginie Despentes' Vernon-Subutex-Romanzyklus (Jungle World), der vierte Sammelband aus Joann Sfars Comicreihe "Die Katze des Rabbiners" (Standard), eine Sammlung der Briefe des Widerstandkämpfers Moritz Margulies (Standard) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Oren Lavies und Anke Kuhls "Konrad Kröterich und die Suche nach der allerschönsten Umarmung" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Gisela Trahms über Ronald M. Schernikaus "uwe sonett":

"das warten wartenlassen kommen doch
das funkeln deiner augen beim zu spät
..."
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Film

Jan Brachmann schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Filmhistoriker Ralf Schenk, der sich seit dem Ende der DDR vor allem als Bewahrer und Aufarbeiter des DEFA-Films einen Namen gemacht hat, unter anderem als Leiter der DEFA-Stiftung von 2012 bis 2020. Er "war ein Mann von leiser Souveränität. Wichtigtun musste er sich nicht, weil wichtig war, was er wusste. Sein Gewicht als Filmhistoriker und Journalist erwuchs aus einer immensen Kenntnis nicht nur der Kinogeschichte, sondern ebenso der Zeitumstände, der Literaturtheorie, auch der Musik." Er "nahm das Erbe der DEFA ernst: die komplex-verschachtelten Erzählungen Günthers, die kühn-modernen Frauenfilme, das politisch subversive Kino für Kinder und Jugendliche." Neben zahlreichen Publikationen zum DDR-Film war er auch "an der Rekonstruktion mehrerer von der SED-Parteiführung aus dem Verkehr gezogener Filme beteiligt". Auch Grusel-Episoden von hinter den Kulissen der DEFA wären ohne seine Arbeit heute vielleicht vergessen, hält Regine Sylvester in der Berliner Zeitung, für die Ralf Schenk viele Jahre schrieb, fest: In seinem Buch "Eine kleine Geschichte der DEFA" finden sich zahlreiche "Stasiberichte, Anschwärzungen von Kollegen, Unterwerfungen. Ohne Ralf Schenks Arbeit wären viele Hintergründe unbekannt."

Weitere Artikel: Nadine Lange resümiert im Tagesspiegel das Filmfestival Sarajevo. Tazler Michael Meyns empfiehlt eine Retrospektive des Streamers La Cinetek zum Kino der Weimarer Republik. Matthias Alexander schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den "Tatort"-Drehbuchautor Felix Huby.

Besprochen werden Stanislaw Muchas Dokumentarfilm "Wettermacher" (FAZ, unsere Kritik hier), der "Game of Thrones"-Ableger "House of Dragons" (ZeitOnline), Fulvio Risuleos "Der ganz große Coup" (FAZ) und die Netflix-Serie "Kleo" (taz).
Archiv: Film

Kunst

Joanna Piotrowska: Sleeping Throat, Bitter Thirst, Ausstellungsansicht, Foto: Raimund Zakowski / Kestner Gesellschaft

In der FAZ freut sich Freddy Langer sehr, dass die Kestner Gesellschaft in Hannover der von ihm offenbar sehr geschätzten Fotokünstlerin Joanna Piotrowska eine Ausstellung widmet: "Genau darum geht es im Werk von Piotrowska: um Selbstverteidigung, um Befreiung, um Schutz, vielleicht auch um Möglichkeiten der Flucht. Aber so deutlich wie mit den Aufnahmen von Menschen, die in Häuschen kauern, die sie sich in ihren Wohnungen aus Decken, Matratzen und Möbelteilen zusammengebastelt haben, formuliert sie es nur selten. Vielmehr lässt sie das meiste in der Schwebe, am offensichtlichsten dort, wo sie Frauen bisweilen sehr unbequeme und fast immer übertrieben umständliche Stellungen aus den Anleitungen eines Handbuchs für Kampfsport nachahmen lässt, die Gegner in ihren Bildern jedoch konsequent fehlen... An der Dramatik ändert es nichts. Die angespannten Muskeln, der Schmerz im Gesicht, der unterdrückte Schrei - diese 'entstellende Heftigkeit', wie Lessing sie nannte, würde nichts von ihrer Wirkung auf den Betrachter verlieren."

Weiteres: Im Tagesspiegel erklärt Nicola Kuhn, dass es zumindest auf Taring Padis im Hallenbad Ost gezeigtem Documenta-Bild "All Mining is Dangerous" keine weitere antisemitische Karikatur zu sehen sei: Bei der inkriminierten Figur handele es sich um eine Figur aus dem indonesischen Puppentheater Wayang: "Sie trage die typische indonesische Kopfbedeckung 'Kopiah', auch 'Songkok' oder 'Peci' genannt, die anders als die Kippa bis zu den Ohren reicht." In seiner Zeit-Kolumne lernt Maxim Biller von seinen alten Kindheitsfreund Michael Bielicky bei Senfbrot und Bier, wie Medienkunst mit Oligarchen funktioniert.

Besprochen wird die Sibylle-Bergemann-Schau in der Berlinischen Galerie (FR).
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Design

Im ZeitMagazin verneigt sich Eser Aktay tief vor dem schlicht schwarzen T-Shirt von H&M, einem echten Allrounder in allen Lebenslagen: "Ich steckte das schwarze T-Shirt in die ausgebleichte Jeans und krempelte die kurzen Ärmel hoch. Schon war ich für andere hip und modern. Trug ich dasselbe Kleidungsstück locker über eine graue Chino in Kombination mit weißen Sneakern, wurde ich als lässig und entspannt wahrgenommen. Und war ich auf einer etwas schickeren Party eingeladen, war es für mich unter Sakko und Anzughose das bessere Hemd. ... Es ließ mich bei Arbeitsessen leger erscheinen, verlieh mir in Bars bei einem Cocktail mit Freundinnen und Freunden eine schlichte Eleganz und gab mir in Clubs beim Tanzen das Gefühl, schön zu sein."
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Stichwörter: H&m, Sneaker

Musik

In der FAS geht Elena Witzeck der Frage nach, warum es gerade die jüngste Generation ist, die es auf die Konzerte von Rock-Opas wie die Stones und ähnliche alte Herren der Zunft zieht: Hier öffnet sich "ein mystisches Tor in die Epoche der Unbefangenen", vermutet sie, "in eine Zeit, in der man seine Wut hinausschrie und wilde Tänze aufführte. ...Mit einem halb sentimentalen, halb ironischen Blick schauen die Jungen auf die verklärte Freiheit der 'Boomer' und ihre Riesenkonzertereignisse, die sie, die jüngsten Konzertgänger dieses Jahres, gerade zum ersten Mal erleben. Wer dann mit 70, 75, 80 noch auf der Bühne steht, strahlt eine Unverwüstbarkeit aus, ein Versprechen, dass es wundersamerweise immer weitergeht, bei aller Abgeklärtheit, bei aller Fragilität der Welt ringsum." Vielleicht gefällt den jungen Leuten aber auch einfach nur die Musik?

Außerdem: Marco Frei resümiert in der NZZ das Davos Festival, das seit 2020 von Marco Amherd geleitet wird. Dem bescheinigt er beste Leistungen. Er "agiert wohltuend spielerisch, auch humorvoll und sinnlich - umso zwingender wirken die Ergebnisse". Dank einer langjährigen, sorgfältigen Pflege lässt sich in Sergej Rachmaninows nach langen Erbstreitigkeiten nun öffentlich zugänglicher (und getragener) Villa im Kanton Luzern zwar sehr gut in die Lebenswelt des Komponisten eintauchen, berichtet Jan Brachmann in der FAZ von seinem Besuch, aber ein Museum werde aus dem Gebäude aus logistischen Gründen wohl nicht - immerhin lassen sich Führungen buchen und Konzerte veranstalten. In der taz porträtiert Jens Uthoff die Berliner Punkband Die Verlierer. In der Berliner Zeitung plaudert Gert Möbius über Rio Reiser, dem zu Ehren gestern der Berliner Heinrichplatz umbenannt wurde. Ljubisa Tošic resümiert im Standard das Jazzfestival Saalfelden, wo auch Pussy Riot auftraten. Claus Löser schreibt auf ZeitOnline einen Nachruf auf die Sängerin und Schauspielerin Eva-Maria Hagen (weitere Nachrufe hier).

Besprochen werden Robert Cremers Buch "Die Geheimsprache des Blues" (Freitag), Auftritte von Deichkind (Tsp), Tocotronic (Tsp), der Büetzer Buebe (NZZ) und von den Toten Hosen (BLZ) sowie ein Konzert der Wiener Philharmoniker unter Daniel Barenboim (Standard),
Archiv: Musik