Efeu - Die Kulturrundschau

Alle Farben echter Not

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22.09.2022. Schockiert, gebannt und musikalisch überwältigt verfolgt die NZZ am Grand Théâtre de Genève das Schicksal von Jacques Halévys "La Juive". Der FR missfällt die falsche Glätte von Francois Ozons Fassbinder-Hommage "Peter von Kant", für die taz beschreibt er hingegen akkurat die hässlichen Auswüchse des Showbusiness. Die SZ kann mit einem Gestus des heimlichen Größenwahns gut leben, wenn er sich so virtuos äußert wie beim Jazzgitarristen Julian Lage. Die Zeit fragt, warum an allen großen deutschen Bahnhöfen weiße Kästen mit Schießschartenfenstern stehen. 
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.09.2022 finden Sie hier

Bühne

Szene aus "La Juive". Foto © Magali Dougados


Eleonore Büning stockt der Atem, wenn in der letzten Szene von Jacques Halévys Oper "La Juive" der Scharfrichter den jüdischen Goldschmied Éléazar und dessen Tochter Rachel zur "Zwangstaufe" in einen Kessel kochenden Wassers wirft, während "der entfesselte Chor-Mob jubelt: 'Quel plaisir!'" Premiere hatte die Oper jetzt am Grand Théâtre de Genève in der Inszenierung von David Alden, der dem von Dirigent Marc Minkowski entfesselten "Rausch der Musik ästhetisch kühl entgegen wirkt", so die hingerissene NZZ-Kritikerin. "Verschiebbare Wände aus Sperrholz bilden hohe, hohle Gassen. Die Chöre schwärmen aus wie schwarze Raben. Unbehaust und kahl auch das Interieur des Goldschmied-Hauses, mit einer symbolisch endlos langen Fluchttreppe. Die Hinrichtung wird überhaupt nicht gezeigt: Prozessionsartig verschwinden die Verurteilten hinter einer Wand, darunter häuft sich weiße Asche. Alle Farben echter Not indes, die des Zweifelns, der Leidenschaft und des Entsetzens tönen aus der großen letzten Arie des Éléazar. Es ist der Höhepunkt dieser Paradepartie, komponiert dereinst für Adolphe Nourrit. Heute könnte sie niemand eindrucksvoller darbieten als der Spezialist John Osborn, mit seinem großartigen Ambitus, seiner klaren, kontrollierten Stimme."

Weitere Artikel: Shakespeares "Macbeth" ist das Theaterstück der Stunde, von Bochum bis Wuppertal, erzählt in der SZ Christine Dössel, die im Ernst daran erinnert, dass auf dem Stück angeblich ein Fluch liegt. Der Schauspieler Bless Amada stellt im Interview mit dem Standard die Kooperation Black Voices vor, die "mehr PoC-Publikum" ins Theater locken will. Ulrich Seidler schreibt in der Berliner Zeitung den Nachruf auf den Intendanten und Regisseur Christoph Schroth.

Besprochen werden Suse Wächters Puppenspiel "Brechts Gespenster" am BE (nachtkritik), Martin G. Bergers Inszenierung von Wagners "Tannhäuser" in Schwerin (nmz), Frank Hilbrichs Inszenierung von Verdis "Don Carlo" in Bremen (nmz), Nis Søgaards Stück "Glamour Montain" in der Schaubude Berlin (taz), Alan Lucien Oyens Choreografie "Cri de Coeur" an der Pariser Oper (FAZ), Andreas Homokis Inszenierung der "Walküre" am Theater Zürich ("virtuos", schwärmt Lotte Thaler in der FAZ, "mehr Wagner geht nicht.") und Florentina Holzingers Stück "Ophelia's Got Talent" an der Berliner Volksbühne ("Wie wäre es wohl, wenn sie eines Tages auf das Schlagzeilenhafte verzichten und ein Drama inszenieren würde, statt ein Füllhorn von Nummern auszuschütten, die alle darauf zielen, Stadtgespräch zu werden", fragt sich ein wenig beeindruckter Peter Kümmel in der Zeit)
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Film

Wer klappert da mit der Tür? "Peter von Kant" von François Ozon

Mit "Peter von Kant" deutet François Ozon Fassbinders Theateradaption "Die bitteren Tränen der Petra von Kant" um: Allerdings geht es hier nicht um eine Modeschöpferin wie noch in der Vorlage, sondern um einen stämmigen Filmemacher, dessen Ähnlichkeit zu dem deutschen Autorenfilmer auf den ersten Blick erkennbar ist - und dann spielt auch noch Hanna Schygulla dessen Mutter. Eine Hommage des französischen Regisseurs an seinen deutschen Kollegen? Fassbinder komme nicht sonderlich gut weg, schreibt Daniel Kothenschulte in der FR: "Nicht dass Ozon das manipulative Genie des kindlichen Tyrannen übertrieben hätte. Aber er hat seine Inszenierung mit etwas überzogen, das Fassbinder verabscheut hätte: falscher Glätte und echter Nostalgie. Da hat ihn Christoph Schlingensief in seinen Huldigungen besser verstanden. Denn Fassbinder bediente sich aus den in Hollywood und bei der Ufa prall gefüllten Arsenalen von Glamour und Pathos. Aber darunter strahlte eine rohe, tief menschliche Unvollkommenheit, die in Ozons Kino selten zu Gast ist. Alle Figuren werden auf ihre Oberflächen hin inszeniert, wie in der Boulevardkomödie hört man mit ihren Auf- und Abtritten förmlich die Türen klappern."

Viel liebevoller empfand Christiane Peitz vom Tagesspiegel Ozons Fassbinder-Darstellung: Der Film "verteufelt ihn nicht, den 1982 mit 37 Jahren viel zu früh Gestorbenen, flüstert Ozons Film gleichsam: Er war doch beides, Monster und zärtlich Liebender, egomanisch und hochsensibel gegenüber den Anderen." Der Film "erzählt von einem melodramatischen Niedergang und tummelt sich im Referenziellen", schreibt Carolin Weidner in der taz. In erster Linie handle er jedoch "von den trüben Wassern und hässlichen Auswüchsen des Showbusiness". Viel Freude hat Weidner dafür an Isabelle Adjanis Auftritt, die hier einen Song anstimmt: "Als koksendes und überdrehtes Starlet schwirrt sie um Peter von Kant, gibt sich als Vertraute und hat doch keine Ahnung, bereitet Amir die Bühne und vernascht ihn wenig später selbst, tut, als würde sie sich mit Geld allein zufriedengeben, während auch das Lechzen nach Ruhm keine kleine Rolle spielt." Robert Wagner vom Perlentaucher sah zwar "ein ganz schön aussehendes, aber saftloses und leeres Biopic".

Weitere Artikel: Nach den dümmlichen Protesten dagegen, dass Disney in seiner kommenden "Arielle"-Realverfilmung eine schwarze Schauspielerin die Titelrolle übernehmen lässt, denkt Dobrila Kontić im Freitag über Potenzial und Grenzen des "Colorblind Casting" nach. In der SZ plaudert Michael Bully Herbig über seinen neuen Film, eine (in der NZZ besprochene) Verfilmung des Relotius-Falles. Andreas Rosenfelder hat für die Welt die Premierenfeier der neuen Staffel "Berlin Babylon" besucht.

Besprochen werden Olivia Wildes "Don't Worry Darling" mit Harry Styles (Perlentaucher, SZ, FR, FAZ, taz), Lars Jessens Verfilmung von Dörte Hansens Roman "Mittagsstunde" (online nachgereicht von der FAZ), die neue "Star Wars"-Serie "Andor" (FAZ, ZeitOnline, mehr dazu bereits hier) und Carolin Schmitz' "Mutter" mit einer Anke Engelke, die kein einziges Wort spricht (FAZ), Außerdem informiert uns die SZ, welche Filme sich diese Woche lohnen und welche nicht.
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Kunst

In der Zeit stellt Hanno Rauterberg das neue Museum im ehemaligen Restaurant "Minsk" vor, das der Milliardär Hasso Plattner Potsdam spendiert: "Das Restaurant von damals ist das erste Museum überhaupt, das sich allein der DDR-Kunst widmet. Und überraschenderweise gelingt es hier tatsächlich, ein Art Geilsdorf-Blick auf das vernachlässigte Erbe zu werfen, unbefangen und fordernd zugleich. ... Seit Jahren kauft Plattner für sein Barbarini-Museum nicht nur fast unerschwingliche Werke von Monet, Cézanne oder Caillebotte, er sammelt auch die viel günstigere DDR-Kunst. Zum Glück aber zeigt er davon nur einen kleinen, klugen Ausschnitt, durch Leihgaben ergänzt. Zum Glück ist das neue Museum keine Bühne, auf der er, der Wessi, den Ossis erklärt, wie toll ihre Maler waren. Es ist nicht die große Geschichte der DDR-Kunst, es sind die vielen kleinen Geschichten des Gegen- und Miteinanders, der Selbst- und Fremdbilder, von denen das Minsk erzählt.

Weiteres: In der taz berichtet Julia Hubernagel von der Lumbung-Konferenz der Documenta, wo der Kunsthistoriker Philippe Pirotte die Kritik an der Documenta kritisierte. In der FAZ schreiben Hans Ulrich Obrist und Daniel Birnbaum zum Tod der Frankfurter Künstlerin Helke Bayrle. Besprochen wird eine Ausstellung mit 50 Künstlerinnen aus der DDR im Berliner Kunstraum Kreuzberg/Bethanien (FAZ).
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Architektur

Warum fährt man heute bei der Einfahrt in jeden größeren deutschen Bahnhof an weißen Kästen mit schwarzen Schießschartenfenstern vorbei? Gute Frage, die Henning Sußebach in der Zeit an Architekten in Düsseldorf, München und Berlin stellt. Die Antworten sind erwartbar: Das spart Zeit und Geld. "All jene Häuser, die ein Außenstehender als monoton empfinde, seien ja nicht nur flexibel, was das Versetzen von Bürowänden angehe, sagt [der Architekt Jürgen] Engel. Sie passten exakt in eine globalisierte Welt, in eine Zeit steten Wandels, in der Firmen heute nicht wissen, wo sie sich morgen niederlassen werden, fusioniert, aufgespalten, neu gruppiert. Was hat wie lange Bestand? Welcher Konzern bekennt sich noch zu einem Ort? Und baut sich dort die zugehörige Zentrale? 'Haben Sie heute Siemens, haben Sie morgen fünf Firmen', so sieht es Engel. Dementsprechend sind die dazugehörigen Niederlassungen gestaltet. Also eher nicht markant, wie anfangs vermutet, sondern vage und konvertibel zu allem und jedem."
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Literatur

Der Schriftsteller Sergei Gerasimow setzt in der NZZ hier und dort sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. In der SZ verrät die Kulturwissenschaftlerin Eva Geulen, was sie derzeit liest, nämlich Henry David Thoreaus "Walden". In der FAZ gratuliert Andreas Platthaus dem Schriftsteller Lutz Rathenow, mit dem der Freitag ein Gespräch über Leben und Werk geführt hat, zum 70. Geburtstag. Auf ZeitOnline verneigt sich Matthias Kalle vor Horror-Schriftsteller Stephen King, der gestern seinen 75. Geburtstag gefeiert hat. Im SWR-Radioessay meditiert Dietmar Dath über King.

Besprochen werden unter anderem Édouard Louis' "Anleitung ein anderer zu werden" (Standard), Aravind Jayans "Teen Couple Have Fun Outdoors" (FR), Jon Fosses "Ich ist ein anderer - Heptalogie III-V" (NZZ), Rafael Chirbes' "Von Zeit zu Zeit, Tagebücher 1984-2005" (SZ) und Ralph Waldo Emersons "Tagebücher" (FAZ).
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Musik

Wenn der Jazzgitarrist Julian Lage zu seinem Instrument greift, beobachtet SZ-Kritiker Andrian Kreye mitunter den "Gestus des heimlichen Größenwahns". Lages neues Album bereitet ihm aber sichtlich Freude: Aufs erste Hinhören offenbart sich "ein perfektes zeitgenössisches Jazzgitarrenalbum. Mit jedem Anhören entdeckt man dann aber immer auch noch neue Ebenen. Modalen Jazz sowieso, aber auch Bebop, Surf, Reggae, Western Swing, sehr frühen Pop. Und weil die beiden Gitarristen über den subtilen Rhythmusteppichen des Schlagzeugers Dave King und des Kontrabassisten Jorge Roeder nichts zitieren, sondern lediglich ihr Vokabular der Formensprachen erweitern, bleibt der Tieftauchgang in die amerikanische Musikgeschichte ein Subtext. Den kann man sich erschließen. Aber man kann es auch sein lassen und trotzdem ein grandioses Album entdecken."



Außerdem: Christina Rietz spricht fürs VAN-Magazin mit dem Dirigenten Achim Zimmermann, der seit 20 Jahren in der Berliner Gedächtniskirche Bach-Kantaten dirigiert, wo diese seit 75 Jahren beständig einen Platz im Programm haben. Arno Lücker widmet sich in seiner VAN-Reihe über Komponistinnen in dieser Woche hier Nadia Boulanger und dort Pauline Oliveros.

Besprochen werden das neue Album von Kraftklub (ZeitOnline) und das neue Album von Makaya McCraven, das laut tazler Peter Margasak "wie ein R&B-Instrumental-Album inszeniert ist, das mit dem Vokabular des Jazz gespickt ist".

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