Efeu - Die Kulturrundschau

Sie hängen dich am Himmel auf

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.09.2022. Am Wochenende geht die Documenta zu Ende. Was bleibt? Vordemokratische Haltungen, die sich als links gerieren und das Autonomiekonzept von Kunst nur noch gelten lassen, um sich Immunität für politische Aussagen zu sichern, resümieren SZ, Welt und Berliner Zeitung. Die FAZ beglückwünscht die Potsdamer zu Hasso Plattners neuem Museum Minsk. Die taz lässt sich im Kino in Michael Krügers geistige Welten einführen. Im Interview mit der NZZ erklärt der Filmregisseur Luca Guadagnino, worum es im Kino nicht geht: Um Bilder. Die taz porträtiert die Londoner Rapperin Enny.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.09.2022 finden Sie hier

Kunst

Am Wochenende geht die Documenta zu Ende. Peter Richter resümiert in der SZ eine Großausstellung, die mit ihrem künstlerischen und ethischen Anspruch krachend gescheitert ist: "Dass hier eher Herkünfte, Biografien, soziale Praktiken und Propagandamaterialien nationaler Befreiungsbewegungen ausgestellt werden, ist im Zug dieser Documenta keineswegs nur als Machtübernahme des Kulturalismus beklagt worden. Es wurde durchaus auch als Ablösung eines als überkommen hingestellten Autonomiekonzepts von Kunst bejubelt. Allerdings: Wenn das mal so übersichtlich wäre. Eher scheint es, dass diese Dinge, indem sie hier nicht nur statt Kunst, sondern vor allem als Kunst ausgestellt werden, von exakt dem Immunitätsstatus partizipieren, der mit dem angeblich überkommenen Beharren auf Autonomie einhergeht. ... Angesichts der ethischen Anspruchshöhe der ganzen Veranstaltung wirkt dieser Widerspruch bestenfalls taktisch, eigentlich aber zynisch."

Dass die Nazis nicht nur die konservative Rechte, sondern auch die Linke in Deutschland geprägt haben, das kann man an dieser Documenta gut studieren, meint Thomas Schmid in der Welt: "Da schließt sich ein Kreis. Die frühe Documenta der 1950er Jahre verpflichtete kunstbeflissene Deutsche auf die nichtgegenständliche Kunst, die eben noch als entartet gegolten hatte. Der Kunsthistoriker, der diese Wende als Mitverantwortlicher für die ersten drei Documenta-Ausstellungen in Kassel prägte, war Werner Haftmann: ein ehemaliger Nazi, der sich an Kriegsverbrechen in Italien beteiligt hatte. Seine Hinwendung zur künstlerischen Moderne kann man als insgeheimen Versuch sehen, Vergangenes ungeschehen zu machen: eine Art avantgardistischen Exorzierens der eigenen Verwicklung. Und nun, fast 70 Jahre später, haben sich die Verantwortlichen der 15. Documenta kategorisch geweigert, die antisemitische Bildersprache, die in ihrer Schau einen Platz hatte, ein Skandalon zu nennen. Ungerührt haben sie, die Freiheit der Kunst missbräuchlich im Munde führend, dem Antisemitismus einen neuen Platz in Deutschland verschafft. Wie man vordemokratische Haltungen, insbesondere die Judenfeindschaft, nicht überwindet, sondern überwintern lässt, haben ihnen etliche Persönlichkeiten vorgemacht, die das Geistes und Verfassungsleben der Bundesrepublik begründet haben."

Auch Harry Nutt registriert in der Berliner Zeitung denkbar ernüchtert, wie empfindlich und diskursfeindlich ausgerechnet die Lumbung-Künstler und die deutschen Verantwortlichen auf die Antisemitismusvorwürfe reagierten. Was bleibt? In der Debatte um das Verhältnis von Antisemitismus und Rassismus scheinen "nicht wenige ... bereit, die Gefahr des Antisemitismus, über die lange gesellschaftlicher Konsens im Sinne eines Nie-wieder herrschte, als Spielmarke mit geringem Wert über den Tresen des Debatten-Kasinos zu schieben. Verschärft werden die Auseinandersetzungen durch eine auffällige Fixierung auf Israel als zu bekämpfenden Dämon. Hinsichtlich der Artikulation eines Bedürfnisses nach kultureller Empfindsamkeit war die Documenta Fifteen ein paradoxes Lehrstück, das leider keine Anleitung mitgeliefert hat, wie ideologische Ketten abzustreifen seien."

Stan Douglas, Von Lenné gestalteter Garten. Halbinsel Meedehorn, Sacrow, 1994/95. Aus der Serie "Potsdamer Schrebergärten". Sammlung Hasso Plattner. © Stan Douglas, Courtesy der Künstler, Victoria Miro und David Zwirner


Claudius Seidl freut sich in der FAZ, dass Hasso Plattner das das 1977 erbaute Potsdamer Terrassenrestaurants "Minsk" vor dem Abriss rettete, indem er es in ein Museum verwandelte - wenn auch zum allergrößten Teil als Neubau: "Zu marode sei nach fast dreißig Jahren der Verwahrlosung die Substanz gewesen, sagen jetzt die Leute vom Museum. Von außen sieht es aus wie das Original: sehr offen, transparent, auf allen Seiten von Terrassen umgeben. Innen hat man die geschwungene Treppe ins Obergeschoss nachgebaut. Und die neue Bar steht da, wo auch die alte stand. Besucher dürfen hier sitzen, essen, trinken und sich an der Aussicht freuen, ohne dass sie ein Ticket kaufen müssten. Fast wie im Sozialismus. Dass das alles jetzt das Privateigentum eines Kapitalisten ist, stört in Potsdam viele. Potsdam hat es aber nicht anders verdient. Das Volk, in Gestalt seiner gewählten Vertreter, hat das Haus erst verfallen lassen. Und als es so aussah, als ob es nicht mehr zu retten wäre, war der Abriss so gut wie beschlossen." Online nachgereicht wurde auch Hanno Rauterbergs Artikel in der Zeit über das "Minsk". Kevin Hanschke empfiehlt außerdem in der FAZ die zwei Ausstellungen, mit denen das Minsk eröffnet: "Wolfgang Mattheuer: Der Nachbar, der will fliegen" und "Stan Douglas: Potsdamer Schrebergärten": "Der recht konventionelle Ansatz wird interessant, weil in den Ausstellungen die Transformation der Landschaft der DDR seit der Wende im Mittelpunkt steht", lobt der Kritiker.

Weiteres: Paul Jandl betrachtet für die NZZ auf einer Berliner Vernissage die Wandlung des Junkie-Musikers Pete Doherty in einen nüchternen Maler. Besprochen werden eine Ausstellung im Schwulen Museum Berlin: "Queering the Crip, Cripping the Queer" über das Schicksal des behinderten Schwulen Hans Heinrich Festersen im Dritten Reich (taz) und die Eröffnungsausstellung im neuen Käthe-Kollwitz-Museum in Berlin (taz).
Archiv: Kunst

Bühne

Wolfgang Sandner berichtet in der FAZ angeregt von der Musikbiennale von Venedig, die die Leiterin Lucia Ronchetti unter das Motto "Out of Stage" gestellt hat, was auch "auch eine versteckte Hommage an Mauricio Kagels kammermusikalisches Theaterstück 'Sur scène' aus dem Jahr 1959 zu sein" scheint. Der lakonische Werktitel wirkt wie das Pendant zu Ronchettis listigem Motto. Kagel hat in seiner Komposition im Grunde schon alle verstiegen künstlichen wie grotesken Aspekte eines neuen Musiktheaters auf die Bühne gebracht, und Lucia Ronchettis Festival hat es vermocht, eine weitere brauchbare Lokalität für dieses Neue zu erschließen: durch Auslagerung. Nicht 'Sur scène', sondern: 'Out of Stage' eben."

Weitere Artikel: Die nachtkritik hat anlässlich des heutigen Weltklimastreiks einige Theaterkünstlerinnen gefragt: Was kann das Theater in der Klimakrise bewirken? In Paris war Marc Zitzmann für die FAZ in einigen Theaterpremieren.

Besprochen werden Suse Wächters Puppenspiel "Brechts Gespenster" am Berliner Ensemble (BlZ, Tsp, SZ), Wagners "Rheingold" in der Inszenierung von Alexandra Szemerédy und Magdolna Pardikta am Staatstheater Saarbrücken (FR), Rimini Protokolls Requiem "All right. Good night." im Frankfurter Mousonturm (FR) und die Uraufführung von Raphaela Bardutzkys Hotel-Schauspiel "Das Los" im "Hanseatischer Hof" in Lübeck (taz).
Archiv: Bühne

Literatur

Still aus "Verabredungen mit einem Dichter - Michael Krüger" (Real Fiction Filmverleih)

Frank Wierkes Langzeit-Doku "Verabredungen mit einem Dichter" über den Schriftsteller und früheren Hanser-Verleger Michael Krüger kommt in die Kinos. "Die Verfilmung lexikalischen Wissens geht Wierkes Film erfreulicherweise ab", schreibt Fabian Tietke in der taz über dieses "gelungene Porträt". Im Mittelpunkt stehen eher "Krügers geistige Welten, die sich als geerdet erweisen. Viel geht es im Film um Bäume, Schafe und Kartoffeln. In seinem Büro im Hanser-Verlag weist Krüger dem Filmemacher auf den Baum vor dem Fenster hin. Im Münchner Wohnhaus erzählt Krüger lieber die Geschichte der Apfelbäume im Garten und die der Nussbäume an der Straße, als über die Ordnung der Bücher in seiner Bibliothek zu sprechen." Auch Tsp-Kritiker Gerrit Bartels folgt diesem "mitunter faszinierenden 90-minütigen Monolog" sehr gern.

Weitere Artikel: In der NZZ setzt der Schriftsteller Sergei Gerassimow sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Besprochen werden unter anderem Javier Marías' "Tomás Nevinson" (SZ), Jan Faktors "Trottel" (FR), Emmanuel Carrères "V13" über den Prozess zum Terroranschlag auf das Bataclan (NZZ), Kurt Steinmanns Neuübersetzung von Euripides' "Medea" (NZZ) und Zerocalcares Comicbiografie "Vergiss meinen Namen" (Tsp).
Archiv: Literatur

Film

Liebe geht durch den Magen: "Bones and All" von Luca Guadagnino

Als Filmprofessor hat der italienische Regisseur Luca Guadagnino zwar keinen allzu großen Grund zum Jubeln, was den Nachwuchs betrifft ("es ist ein Desaster"), verrät er im NZZ-Interview (in dem es ansonsten wegen seines neuen Films, der Kannibalenromanze "Bones and All", vielleicht ein bisschen zu forciert ums Essen geht). Aber dass es mit dem Kino zu Ende geht, glaubt er dennoch nicht, wiewohl er einen Bilderverdruss durchaus wahrnimmt: "Man ist 'blasé', hat keine Lust mehr, weitere Bilder zu sehen. Dabei geht es im Kino gar nicht um Bilder. ... Robert Bresson hat sinngemäß gesagt: Es geht nicht um die Schönheit des Bildes. Es geht darum, dass die Juxtaposition, das Nebeneinander von Bildern ein drittes Bild hervorruft, ein Bild im Kopf. Dieses ist es, welches man sieht. Man sagt mir seit vierzig Jahren, das Kino sei am Sterben. Ich bin 51. Ich war ein Kind, als ich schon hörte, mit dem Kino sei es vorbei. Und doch bin ich hier. Sie sind auch hier. Wir sind Leute, die im und um das Kino arbeiten, wir erfreuen uns daran. Wenn ich es mir recht überlege, bin ich optimistisch."

Weitere Artikel: Für Artechock spricht Dunja Bialas mit der ungarischen Regisseurin Ildikó Enyedi, die vom Filmmuseum München mit einer Retrospektive geehrt wird. Eckhard Haschen resümiert für Artechock das Filmfestival Oldenburg. Außerdem berichtet Artechock in diesem Special von Filmfestival in San Sebastián. Daniel Moersener schreibt in der Jungle World zum Tod von Jean-Luc Godard (weitere Nachrufe hier und dort).

Besprochen werden François Ozons Fassbinder-Auseinandersetzung "Peter von Kant" (ND, Standard, SZ, Welt, mehr dazu bereits hier), Olivia Wildes Dystopie "Don't Worry Darling" (ZeitOnline, Welt, unsere Kritik hier), Lars Jessens Verfilmung von Dörte Hansens Roman "Mittagsstunde" (SZ, Tsp) und die auf Arte gezeigte Serie "Die schwarzen Schmetterlinge" (FAZ).
Archiv: Film

Musik

Victor Efevberha porträtiert in der taz die Londoner Rapperin Enny, die sich mit ihren Tracks lautstark gegen die Gentrifizierung ihres Viertels richtet: "'Zu viele Londoner werden zu leicht obdachlos, für sie gibt es zu wenig Sozialhilfe und Mieterschutz', sagt sie. ... Teure Restaurants und Supermärkte verdrängen die ansässigen karibischen Imbisse. Der neue Wohlstand spült eine wachsende Zahl von Mittelschichtbewohnern und Touristen in den Südosten der britischen Hauptstadt. Im Lied 'Same old' thematisiert Enny Alltagsprobleme schwarzer Briten, gescheiterte Beziehungen, Gentrifizierung und die Auswirkungen des Brexit. Direkt und unmissverständlich: 'Fick dich und deine Gentrifizierung.'"



Zu hören gibt es von William "Billy" Corgans neuem Album "Atum" zwar bis nächstes Jahr erstmal noch nichts, aber dafür spricht der Smashing-Pumpkins-Mastermind in seinem Podcast "Thirty-Three with William Patrick Corgan" in wöchentlichen Episoden über jeden einzelnen der 33 Songs seines von ihm als "Rock-Oper", von seinem Management als "Sci-Fi-Musical" bezeichneten Werks. Grund genug für SZler Jakob Biazza jetzt schon mal nachzufragen, was da auf uns zukommt: Corgan geht es um "eine Zukunftsvision", verrät er. "Im Zentrum steht ein Künstler, der für seine Ansichten ins Exil verbannt wurde, was bedeutet, dass man ihn ins All geschickt hat, wo er in völliger Isolation schwebt. Für die Menschen auf der Erde sehen die Verbannten wiederum aus wie funkelnde Sterne. Es ist also auf seltsame Art schön: Sie canceln dich nicht einfach, sondern hängen dich am Himmel auf. ... Es geht um die Art, wie wir mit unbequemen Stimmen umgehen."

Außerdem: Lars Fleischmann ergründet in der taz, wann und wo eigentlich das (allerdings im wesentlichen auf Nischen begrenzte und mit dem aktuellen Vinylboom nicht vergleichbare) Kassettenrevival in der Musikbranche eingesetzt hat. Im Standard schreibt Karl Fluch einen Nachruf auf den Schlagzeuger Anton Fier.

Besprochen werden der von Markus Müller herausgegebene Band zur Geschichte der Free Music Production (FAZ) und Beth Ortons Comeback-Album "Weater Alive", das "als eines der Meisterwerke des Jahres 2022 in Erinnerung bleiben wird", orakelt André Boße auf ZeitOnline.


Archiv: Musik