Efeu - Die Kulturrundschau

Die Luftschlangen in den vollgepackten Ballsälen

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18.01.2023. Die New York Times berichtet detailliert von den Verhandlungen über eine Rückgabe des Parthenon-Frieses. Als exzessiven Rausch zelebriert Damien Chazelle mit "Babylon" die letzten Tage des Stummfilmkinos in Hollywood, der Tagesspiegel, FAZ und SZ erleben, wie Kinomagie aus Schweiß, Blut und Drogen gemacht wird. Die FR begibt sich mit Mischa Kuball ins Nolde-Labor. ZeitOnline lauscht bewegt der Melancholie auf Ryuichi Sakamotos neuem Album "12".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.01.2023 finden Sie hier

Film

Schweiß, Blut, Drogen: Mehr braucht es nicht für Kinomagie, sagt "Babylon" von Damien Chazelle

Damien Chazelles Ensemblefilm "Babylon" feiert die letzten Tage des Stummfilmkinos in Hollywood als exzessiven Rausch zwischen Partys, Sex und Dreharbeiten - und das bittere Erwachen im Tonfilmkino danach als langen, tragischen Kater. Eine ganze Gruppe versprengter Wahnsinniger will in diesem Sud den großen Sprung zum Star schaffen. "Kinomagie wird aus Schweiß, Blut und Drogen gemacht", nimmt Gunda Bartels vom Tagesspiegel aus dieser Tour de Körpersaft-Force von einem Film als Erkenntnis mit: "Von der unerhört freizügigen Eingangsparty an, die die regellose, nackte Dekadenz inklusive Natursekt und Drogentoter zelebriert, regieren in der kalifornischen Wüstenstadt L.A. die Überzeichnung, das Pathos, die Farce. Alles ist 'bigger than life', auch die Armut und der Absturz." Denn "mit Schauder und Faszination zeigt Chazelle die totale schöpferische - also auch: unmoralische, kriminelle - Anarchie der frühen Filmproduktionen, ihr zerstörerisches, selbstzerstörerisches Potenzial", schreibt Fritz Göttler in der SZ. "Die Luftschlangen in den vollgepackten Ballsälen sind ein Netz, das die Tanzenden, Völlenden, Kotzenden festhält. Die Arbeit, die hier in die (stummen) Filme gesteckt wird, wird schnell manisch."

"So viel inbrünstige Sehnsucht nach dem alten Hollywood gab es lange nicht mehr im Kino", schreibt Andreas Kilb in der FAZ. "Am Ende schickt Chazelle seinen Helden ... in Stanley Donens 'Singin' in the Rain'. Während Gene Kelly auf der Leinwand tanzt, sieht der gerührte Manny vor seinem inneren Auge das Kino der Zukunft: Filmbilder von Bergman bis Godard, von Kubrick bis Scorsese. Die bittere Pointe der Szene liegt darin, dass diese Zukunft unsere Vergangenheit ist. Vielleicht, scheint 'Babylon' sagen zu wollen, ist die Party ja wirklich vorbei." Perlentaucherin Katrin Doerksen hat sich dennoch gerne "dieser gigantischen dreistündigen Verdauungsmaschine" ausgesetzt, "die sich die Filmgeschichte erst einverleiben und sie dann wieder ausspucken muss, bevor die umfassende Bewusstwerdung einsetzen kann und in der Reaktion kulminiert, für die der Kinosessel gemacht ist: eine Träne und ein Lächeln, gleichzeitig." Michael Meyns bleibt in der taz skeptisch: "Kann das Kino wirklich gerettet werden, indem seine Vergangenheit beschworen wird?"

Weitere Artikel: In einem ZeitOnline-Essay kritisiert Julian Dörr die großen Blockbuster-Franchises dafür, in ihren fantastisch-überbordenden Welt doch nichts anderes als gähnende Leere zu zeigen. Fabian Tietke empfiehlt im Tagesspiegel die Werkschau Jonas Mekas im Berliner Kino Arsenal. Die WamS hat Hanns-Georg Rodeks Porträt des Schauspielers Kida Ramadan online nachgereicht. Valerie Direk und Olga Kronsteiner berichten im Standard von Auseinandersetzungen in der österreichischen Filmszene um den Umgang mit dem Fall Florian Teichtmeister, nachdem herausgekommen ist, dass der wegen Besitzes pädosexuellen Materials angeklagte Schauspieler bei einem Dreh Minderjährige heimlich fotografiert hat. David Steinitz kann in der SZ nur mit dem Kopf darüber schütteln, dass Kevin Spacey vom Filmmuseum in Turin für sein Lebenswerk geehrt wurde. In der FAZ gratuliert Claudius Seidl dem Regisseur John Boorman zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden die Netflix-Serie "Das lügenhafte Leben der Erwachsenen" nach dem gleichnamigen Roman von Elena Ferrante (SZ), die Serie "The Last of Us" (ZeitOnline), die indische Netflix-Serie "Trial By Fire" (Dlf Kultur) und die Berliner Ausstellung zu "100 Jahre Nosferatu" (SZ).
Archiv: Film

Kunst

Der Parthenon-Fries. Foto: British Museum

In der New York Times hat Alex Marshall ziemlich viel über die Verhandlungen zwischen Griechenland und Grobritannien über die Rückgabe des Parthenon-Frieses in Erfahrung gebracht, die nur noch halbherzig "als Gerüchte" dementiert werden. Marshalls Quellen zufolge verhandelt Premierminister Kyriakos Mitsotakis seit November 2021 mit George Osborne, dem früheren Finanzminister und Vorstand des British Museum: "Mitsotakis wollte eine Vereinbarung, dass die Tafeln für mindestens zwanzig Jahre in Griechenland bleiben. Dort würden sie mit anderen Teilen des Frieses, die bereits im Akropolis-Museum in Athen ausgestellt sind, wieder zusammengeführt werden. Angeblich hoffte Mitsotakis, dass nach zwanzig Jahren das Abkommen verlängert würde und der Fries in Athen bleiben könnte. Die griechische Seite hoffe, zu einem späteren Zeitpunkt über die Rückgabe der übrigen Skulpturen zu verhandeln, fügte die Person mit Kenntnis der Lage hinzu. Im Gegenzug würden die griechischen Museen dem Britischen Museum eine wechselnde Auswahl an unschätzbaren Artefakten zur Verfügung stellen, von denen einige Griechenland nie verlassen haben, fügte die Person hinzu. Das Britische Museum möchte dieser Quelle zufolge einen anderen Deal. Bisher hat Osborne vorgeschlagen, einen kleineren Teil des Frieses sowie Schnitzereien von Göttern und Zentauren als kurzfristige Leihgabe zurückzugeben, sagte die Person. Das Museum könnte bis zu einem Drittel der Parthenon-Artefakte in seiner Sammlung anbieten, fügte die Person hinzu."

Die Documenta hat auch an der Etablierung von Emil Noldes Legende als unbelastetem Maler mitgewirkt. Jetzt fragt das documenta archiv mit der Ausstellung "nolde/kritik/documenta" des Konzeptkünstlers Mischa Kuball, wie man Nolde mit dem Wissen um seine kaschierte NS-Begeisterung noch ausstellen kann. In der FR sieht Lisa Berins "forensische Neugier" am Werk: "Es ist eine Art Nolde-Labor geworden, eine Rauminstallation, die sich im Erdgeschoss des Fridericianums über drei Räume streckt: Kuball, der schon 2020/21 in der Draiflessen Collection in Mettingen zu dem Thema ausgestellt hat, experimentiert radikal. Er entzieht den farbstarken Nolde-Bildern ihre Wirkkraft, nimmt ihnen ihre Lebendigkeit, indem er sie als schwarz-weiße Kopien aufhängt. Er stellt Farbfilter aus dichroitischem Glas zwischen die Gemälde und die Betrachtenden, er durchleuchtet Noldes ethnografische Sammlung mit CT-Strahlen, auf der Suche nach einer tieferen Bedeutung."

Weiteres: Im Tagesspiegel berichtet Pascal Bartosz vom Prozess um den Dresdener Juwelendiebstahl, in dem die Angeklagten - Mitglieder der berühmten Berliner Remmo-Familie - geständig sind: "Wie kam der Neuköllner Clan auf Dresden? Nach einer Klassenfahrt ins Grüne Gewölbe sei einer der Männer so begeistert von den ausgestellten Diamanten gewesen, dass er die anderen 'angesteckt' habe." In der FAZ huldigt Eberhard Rathgeb den Wächtern der Vatikanischen Museen.

Besprochen werden die Ausstellung "Farbe in Schwarz-Weiß" über die frühe Reproduktionsfotografie in Wiens Kunsthistorischem Museum (taz), die Schau "Die Letzten ihrer Art" über verschwindende Berufe in der Bundeskunsthalle (FAZ), eine Schau des amerikanischen Sammlers Archer Huntington in der Royal Academy in Londin (Guardian).
Archiv: Kunst

Literatur

Auf der Geisteswissenschaften-Seite der FAZ deutet Eva von Contzen Ali Smiths Roman "Companion Piece": Für sie "ein Roman für unsere Zeit, der das Schweben im Nirgendwo zwischen B. C. (before Covid) erfasst und auf ein A. C. (after Covid) hoffen lässt". Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Auch Roman Bucheli von der NZZ verfolgt (wie vor ihm schon Kollegen anderer Zeitungen) auf Twitter, wie der Schriftsteller Hanif Kureishi von seinem Krankenhausaufenthalt nach einem schweren Unfall erzählt. Die Welt dokumentiert Elmar Krekelers Laudatio auf Johannes Groschupf zur Auszeichnung mit dem Deutschen Krimipreis für dessen Roman "Die Stunde der Hyänen".

Besprochen werden unter anderem Bret Easton Ellis' "The Shards" (Standard), Marilynne Robinsons "Jack" (FR), Peter Stamms "In einer dunkelblauen Stunde" (SZ) und Hendrik Otrembas "Benito" (FAZ).
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Bühne

Der Standard berichtet weiter ausführlich über die Affäre um den Burg-und Filmschauspieler Florian Teichtmeister, der wegen des Besitzes von Kinderpornografie angeklagt ist. Besprochen werden Offenbachs Operette "La Périchole" im Museumsquartier (Standard) und Nico Muhlys Oper "Marnie" am Theater Freiburg (NMZ).
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Musik

"12", das neue Album von Ryuichi Sakamoto, kann man kaum hören, ohne dabei an die erneuten Krebserkrankung des großen japanischen Elektro- und Ambientkünstlers zu denken, schreibt Albert Koch auf ZeitOnline. Die hier zu hörenden Stimmungen "sind Ausdruck seines Innenlebens, des emotionalen Auf und Ab, das er während der verschiedenen Phasen seiner Krankheit durchlebt hat: das beklemmende Dröhnen der Ambienttracks, das zögerliche Vorantasten auf dem Klavier, die Melancholie der reinen Pianostücke, die verspielteren Kompositionen als Ausdruck von Hoffnung. Manchmal ist das Atmen des Musikers zu hören und die Resonanz der Fußpedale des Klaviers. Diese Nebengeräusche können als weitere Ambienteffekte gedeutet werden, aber auch als Erinnerung an eine eigentlich selbstverständliche Sache: Musik entsteht nicht im luftleeren Raum, sondern in der sogenannten echten Welt, und sie wird meistens von Menschen gemacht."



Jens Uthoff porträtiert in der taz Huma Rahimi und Ahmad Sarmast vom afghanischen Musikinstitut Anim, dessen Mitglieder allesamt ins Ausland gerettet werden konnten. Die beiden "setzen nun auf den Neubeginn in Portugal, der Wiederaufbau im Exil ist für beide ihr kleiner persönlicher Triumph über die Taliban. 'Ich arbeite jetzt noch intensiver an meiner Musik, um den Taliban und den Menschen in Afghanistan zu beweisen, dass es nicht gelingen wird, Frauen aus der Kultur zu verdrängen und von der Bildung abzuhalten', sagt Rahimi. Auch innerhalb Afghanistans findet dieser Kampf statt. Dort verwehren die Taliban Frauen den Zugang zu Universitäten, Mutige demonstrierten im Dezember in Kabul dagegen. ... Sarmast nennt die Taliban-Diktatur - sehr bewusst - einen 'cultural genocide'."

Außerdem: Sonja Zekri porträtiert für die SZ die ukrainische Rockabilly-Band Wise Guyz. Besprochen werden ein Auftritt von Lucinda Williams in Hamburg (FAZ), ein Schubert-Abend mit dem Bariton Thomas Hampson und dem Pianisten Wolfram Rieger (Tsp),
Archiv: Musik