Efeu - Die Kulturrundschau

Wir hatten Hunger, das war unsere Droge

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08.03.2023. David Chipperfield bekommt den Pritzker-Preis: Guardian und SZ sehen darin auch ein Zeichen gegen Überkonsum und Überdesign. Die NZZ verfolgt in der jüngeren japanischen Literatur den Kampf um das eigene Selbst. Der Standard erlebt in Bregenz, wie Valie Export die Stalinorgeln Antikriegslieder pfeifen lässt. Die SZ fragt, was jetzt mit dem Werk von Marco Goecke geschehen soll. In der Welt überlegt Ari Folman, warum auch ein schlechter Holocaust-Film wichtig sein kann.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.03.2023 finden Sie hier

Architektur

Amorepacific Headquarters in Seoul. Foto: Noshe / Pritzker Prize

David Chipperfield erhält in diesem Jahr den Pritzker-Preis, die höchste Auszeichnung in der Baukunst. In Britannien kennt man ihn wenn, dann als den deutschen Architekten, schreibt Oliver Wainwrigth im Guardian: "'In den achtziger Jahren hatte man als junger Architekt in England keine Chance', sagt er. 'Margaret Thatcher und Prinz Charles waren die Zwillingstürme der Negativität gegenüber der Architektur. Ich habe meine ersten drei Gebäude in Japan gebaut, gefolgt von Wettbewerben in Italien und Deutschland. Um ehrlich zu sein, das hat sich nicht wirklich geändert. Seitdem bin ich ständig auf Achse.' Während in den letzten Jahrzehnten prominente Stararchitekten um die Welt gereist sind und mit immer neuartigeren Formen und verdrehter baulicher Akrobatik wetteiferten, war Chipperfield eine Stimme der Nüchternheit. Während andere Architekten auf effektvolle Ikonen setzen, verfolgte er eine strenge Form des Modernismus von geradezu feierlicher Ernsthaftigkeit. Wie es in der Pritzker-Auszeichnung heißt, zeichnen sich seine Gebäude 'stets durch Eleganz, Zurückhaltung, einen Sinn für Dauerhaftigkeit und raffinierte Details aus', und weiter: 'In einer Ära der exzessiven Kommerzialisierung, des Überdesigns und der Übertreibung gelingt es ihm immer, ein Gleichgewicht herzustellen.'"

In der SZ weist Gerhard Matzig allerdings darauf hin, dass Chipperfields Name zwar für einfühlsame Kulturbauten stehe, der Mann aber durchaus auch absurd luxuriöse Hotelanlagen am Gardasee baut. Dennoch: "Filigrane Schichtungen, wie Texturen wirkende Fassaden: Höchstens daran lässt sich Chipperfield-Architektur erkennen. Er baut nicht modisch. Das aber macht seine Häuser nachhaltig. Sie sind nicht beliebig, sie sind klare Setzungen: gebaut, um zu bleiben."
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Film

Im Welt-Interview spricht Ari Folman über seinen neuen Animationsfilm "Wo ist Anne Frank", noch mehr aber über die aktuelle Lage in Israel und den BDS-Antisemitismus, der für ihn allerdings nicht gegeben zu sein scheint. Auch um die filmische Darstellung des Holocaust geht es in dem Gespräch: Empfehlen kann er "Der Pianist", denn "der ist mit den persönlichen Erfahrungen von Roman Polanksi verknüpft. Danach kommt Claude Lanzmanns 'Shoa', die beste Dokumentation aller Zeiten. Ich war auch sehr schockiert von 'Son of Saul'. Ich hatte László Nemes nicht zugetraut, dass er die Geschichte eines Sonderkommandos in den Gaskammern erzählen konnte." Spielbergs "Schindlers Liste" hingegen taugt ihm auf sehr ambivalente Weise nicht: "Ich hasse ihn. Jedenfalls aus künstlerischer Perspektive. Ich weiß gar nicht, wo ich da anfangen soll, bei den Zeitlupeneinstellungen, der Darstellung der Lager - aber ich will nicht bestreiten, dass das einer der wichtigsten Filme ist, die je gedreht wurden. Denn er hat den Holocaust einem Publikum vermittelt, das sich ansonsten nie dafür interessiert hätte."

Weitere Artikel: Die bislang im offiziellen Auswahlkomitee der Berlinale tätige Filmkritikerin Barbara Wurm wird künftig als Nachfolgerin von Cristina Nord das Forum leiten, meldet der Tagesspiegel. Für epdFilm porträtiert Thomas Abeltshauer die Kostümbildnerin Bina Daigeler, die Cate Blanchetts Look in "Tár" (unsere Kritik) gestaltet hat. Übrigens Blanchett: Andreas Kilb hofft in der FAZ sehr, dass die Schauspielerin am 12. März ihre dritten Oscar erhält. Das Kino wendet sich derzeit mit Vorliebe der Vergangenheit zu, beobachtet Tim Lindemann in epdFilm. Jörg Taszman empfiehlt im Filmdienst die Retrospektive Julien Duviver im Berliner Kino Arsenal.

Besprochen werden Steven Spielbergs "Die Fabelmans" (SZ, FAZ, mehr dazu hier), der die gleichnamige Serie abschließende Netflix-Spielfilm "Luther" mit Idris Elba (NZZ), die BBC-Serie "The Gold" (taz), die Amazon-Serie "Daisy and the Six" (Presse) und die ZDF-Serie "Der Schwarm" (FR).
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Bühne

Für die meisten Theater kommt eine Arbeit mit dem Choreografen Marco Goecke nach der Hundekot-Attacke nicht mehr in Frage. Aber was passiert mit seinem Werk, fragen Christiane Lutz und Dorion Weickmann in der SZ: "Auf so jemanden künstlerisch zu verzichten, kann schmerzhaft und unter Umständen teuer sein. Und schade fürs Publikum. Goeckes Kunst wegzuschließen, käme einer Selbstamputation des Balletts gleich. Auch nach München wird Marco Goecke wohl erst mal nicht kommen, auch dort wird die Einstudierung seines Stücks jetzt von jemand anderem durchgeführt. Auch dort ist das gängige Praxis - doch meint man fast das Aufatmen der Beteiligten zu hören bei diesem Satz. Wirklich zu tun haben will gerade niemand so recht etwas mit der Person Marco Goecke, mit seiner Kunst hingegen schon." Wie der Tagesspiegel meldet, hält die Intendanz des Berliner Staatsballetts weiter an der Premiere von Goeckes Stück "Petruschka" fest.

Weiteres: Paul Jandl bedauert in der NZZ mit der Insolvenz der Münchner Lach- und Schießgesellschaft das Ende des Kabaretts: "Weil selbst der politische Gegner die Bühne irgendwann heftig umarmt hat, ist sie einen langsamen Erstickungstod gestorben." FR und die nachtkritik melden, dass mit dem Fritz-Rémond-Theater das älteste und größte private Theater Frankfurts Ende Mai schließt.

Besprochen werden Christopher Rüpings Inszenierung von Sarah Kanes "Gier" (FAZ), Prokofjews Tolstoi-Oper "Krieg und Frieden" an der Bayerischen Staatsoper (NZZ)
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Literatur

Michael Streitberg arbeitet sich für die NZZ durch einen halben Regalmeter jüngerer japanischer Literatur insbesondere der Schriftstellerinnen Sayaka Murata, Mieko Kawakami und Yukiko Motoya und identifiziert dabei einen Motivkomplex, der ihm immer wieder begegnet, auch wenn "diese Autorinnen stilistisch und erzählerisch jeweils ganz eigene Wege" gehen. Es geht um "das Zerbrechen des Einzelnen an repressiven Strukturen, die Beobachtung einer Gesellschaft von ihren Rändern aus, den Kampf um das eigene Selbst. ... Im Falle Japans lastet (nicht nur) auf jungen Menschen nach wie vor ein starker Druck, sich in starre und als sakrosankt betrachtete Konzepte einzufügen. Man erwartet von ihnen, nach dem Ende der Ausbildung zum Shakaijin zu werden, also zum 'vollwertigen' Mitglied der Gesellschaft". ... Sowohl in Kawakamis als auch in Muratas Werken gibt es Protagonisten, die sich befreien können, und solche, die der Selbstzerstörung anheimfallen. Manchmal erscheinen die beschriebenen Verhältnisse so erdrückend, dass etwa am Ende von Muratas 'Seidenraupenzimmer' nur noch vollständige Realitätsverweigerung und Kannibalismus bleiben." Und "während Kawakami dem Realismus verpflichtet bleibt und Murata häufiger das Groteske und Surreale berührt, bedient sich Motoya ganz unbekümmert übernatürlicher und märchenhafter Motive."

Weitere Artikel: Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Anlässlich des Feuilleton-Bebens, das Rainald Goetz' Comeback in der Öffentlichkeit ausgelöst hat (hier ein Video seines Vortrags, mehr dazu in unseren Pressenschauen), wirft Hanna Engelmeier auf den "Geisteswissenschaften"-Seiten der FAZ einen Blick auf das Liebesverhältnis zwischen dem Schriftsteller, der Literaturkritik und den Literaturwissenschaft. Tilman Krause (Welt) und Hilmar Klute (SZ) erinnern an Walter Jens, der heute vor 100 Jahren geboren wurde. Richard Kämmerlings schreibt in der Welt über Elias Canettis problematisches Verhältnis zur Nahrungsaufnahme. In den "Actionszenen der Weltliteratur" erzählt Marc Reichwein von Antoine de Saint-Exupérys zahlreichen Flugzeugabstürzen. Bei einer annähernd ausverkauften Abendveranstaltung in der Dresdner Frauenkirche kritisierte der landauf, landab rezensierte und in einer großen 3Sat-Doku porträtierte Suhrkamp-Autor Uwe Tellkamp, dass er zu wenig gehört werde, berichtet David Begrich im Freitag.

Besprochen werden unter anderem Mokumokurens Manga "Der Sommer, in dem Hikaru starb" (Tsp), Milena Michiko Flašars "Oben Erde, unten Himmel" (FR), Birgit Birnbachers "Wovon wir leben" (SZ) und Tsitsi Dangarembgas Essayband "Schwarz und Frau" (FAZ).
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Kunst

Valie Export: Oh Lord, Don't Let Them Drop That Atomic Bomb on Me, 2023. Foto: Markus Tretter / Kunsthaus Bregenz

Die österreichische Künstlerin Valie Export, Pionierin der feministischen Performance, gehörte zu den ersten Unterzeichnerinnen von Alice Schwarzers und Sarah Wagenknechts "Manifest für den Frieden", inzwischen hat sie sich leicht davon distanziert. Irgendwie beeindruckt ist Standard-Kritikerin Ivona Jelcic dennoch von Exports Antikriegsinstallation im Kunsthaus Bregenz: "Erstaunlich, welch martialische Wirkung vor allem die verzinkten Pfeifen einer Kirchenorgel entwickeln können: Wie Stalaktiten hängen sie kopfüber von der Decke, stehen als Raketenbündel im Raum oder wurden zur sogenannten Stalinorgel arrangiert. Diesen Namen erhielt ein im Zweiten Weltkrieg eingesetzter sowjetischer Mehrfachraketenwerfer wegen des pfeifenden Geräuschs, das beim Abschuss verursacht wurde. In Bregenz kommt einem gänzlich anderes zu Ohren, nämlich Charles Mingus' auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges entstandener Jazz-Protestsong Oh Lord, 'Don't Let Them Drop that Atomic Bomb on Me'."

Monopol stellt ein älteres, aber sehr schönes Interview mit der kürzlich verstorbenen Künstlerin Mary Bauermeister online, deren Kölner Atelier die Keimzelle der Fluxus-Bewegung mit Nam June Paik, John Cage, Merce Cunningham wurde: "Sexualität war bei uns kein Thema. Wir waren sehr asketisch, auch was Drogen angeht. Bis auf Alkohol. Uns hat nicht der Exzess des Konsums interessiert, sondern der Exzess des Denkens. Der Austausch war uns genug Ekstase. Außerdem war dafür kein Geld da. Wir hatten Hunger, das war unsere bewusstseinserweiternde Droge. Wegen Paik kam einmal die Polizei, das lag aber nur daran, dass die Nachbarn den Krach nicht einordnen konnten. Er hätte keiner Fliege was zuleide tun können. "
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Musik

Fever Rays neues Album "Radical Romantics" handelt vom Rückzug in die Häuslichkeit, schreibt Daniel Gerhardt auf ZeitOnline. Das hat konkrete Hintergründe: Seit in Schweden eines von der extremen Rechten unterstütztes, konservatives Bündnis regiert, verschlechtert sich die Lage queerer Menschen im Land. "Wo andere Alben einfach losgehen, creept 'Radical Romantics' um sein Publikum herum wie eine unliebsame Discobekanntschaft. What They Call Us heißt der Song, in dem die Stimmung brodelt und Synthesizer herumschleichen, während Dreijer von den Zimtschnecken im Ofen und den Fluchtgedanken im Kopf eines Menschen singt, der sich seine Komfortzone nicht länger mit Hefeteilchen und Umarmungen der Liebsten bewahren kann. Was die Musik anzukündigen scheint, bestätigt der verfremdete, von allen vermeintlichen Gendermerkmalen und Anflügen guter Laune befreite Fever-Ray-Gesang. Das eigene Haus, der blöde Ofen darin und selbst die Zimtschnecken darin: Alles scheint unter den Bedrohungen der Außenwelt zu ächzen."



Außerdem: In seiner Standard-Glosse ärgert sich Karl Fluch darüber, dass das ZDF aus Udo Jürgens' "Aber bitte mit Sahne" einen rassistischen Begriff gestrichen hat - und damit aber auch die antirassistische Botschaft des Stücks verschleiert habe. Besprochen werden ein Künstler-Ratgeber des Produzenten Rick Rubin (NZZ), Brad Mehldaus Beatles-Jazzalbum "Your Mother Should Know" (Standard, mehr dazu hier), Fjørts Album "Nichts" (Jungle World), das Album "STRG + X" des Simon Lucaciu Trios (FR), ein Konzert des Cellisten Renaud Capuçon und Pianisten Rudolf Buchbinder (Presse), Klaus Doldingers Autobiografie (FAZ) und neue Popveröffentlichungen, darunter Slowthais Album "Ugly" (Standard).

Archiv: Musik
Stichwörter: Fever Ray, Homophobie, Queer, Beatles