Efeu - Die Kulturrundschau

Das Fremde als Geburtshelfer

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.04.2023. Der ukrainische Schriftsteller Artem Chapeye erklärt in der FAZ, warum er sich freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet hat. Im Perlentaucher schreibt Angela Schader ein "Vorwort" zu C. A. Davids' Roman "Hoffnung & Revolution". Die NZZ überlegt anlässlich einer Ausstellung über Europa und die islamischen Künste: Wo schlägt die Wertschätzung für eine Kunst in Ausbeutung um? Die SZ würdigt das "irre Gespür" der verstorbenen Modedesignerin Mary Quant. Die Filmkritiker begutachten das Programm für Cannes. Und das Van Magazin unterhält sich mit der Musik-Mäzenin Nicole Bru.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.04.2023 finden Sie hier

Literatur

Der ukrainische Schriftsteller Artem Chapeye erklärt in einem Essay in der FAZ, warum er sich freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet hat: Als er zu Beginn des Krieges mit seinen Kindern vor den russischen Truppen floh, beobachtete er, wie andere Männer einberufen wurden. Da wurde ihm "klar, dass die 'einfachen' Leute wieder die Hauptlast würden tragen müssen. Bauern, Busfahrer, Bauarbeiter, Wachleute im Supermarkt." Andere Leute wie er hingegen "würden Mittel und Wege finden, dem Krieg zu entgehen". Von diesen einfachen Leuten "können die meisten ihre Geschichten nicht erzählen. Die pazifistischen Schriftsteller, die 'erfolgreichen Leute in der Armee', Hipster und Intellektuellen ziehen natürlich das Interesse anderer Pazifisten, Hipster und Linken auf sich - aber sie beziehungsweise wir sind nur eine verschwindend kleine Zahl unter den Soldaten. Die absolute Mehrheit der 'einfachen' Menschen bleibt wie immer unsichtbar und der eigenen Stimme beraubt." Doch "man muss unbedingt von den einfachen, unsichtbaren Menschen erzählen, die die Zukunft der Welt auf ihren Schultern tragen, so zumindest empfinde ich es. Ich weiß nicht, ob sie durchhalten, aber von ihnen hängt ab, dass die Welt kein noch finsterer Ort wird, an dem bestimmte Menschen plötzlich wieder glauben, andere ungestraft überfallen zu können."

Im Perlentaucher schreibt Angela Schader ein "Vorwort" zu C. A. Davids' Roman "Hoffnung & Revolution", der einer fiktiven weiblichen Hauptfigur, Südafrikanerin wie die Autorin selbst, den afroamerikanischen Schriftsteller Langston Hughes und einen ebenfalls nach realem Vorbild modellierten chinesischen Journalisten zur Seite stellt. Letzterer wandelt sich vom bedingungslosen Parteigänger der Kommunisten zum Oppositionellen. Ersterer verlor seine Sympathien für den Kommunismus auch auf einer Reise durch die Sowjetunion 1931/32 nicht, wie man in seinen Briefen nachlesen kann: "Hughes ist es auch, der eine Brücke zwischen der Südafrikanerin Beth und ihrem chinesischen Nachbarn schlägt: Beim ersten Besuch in ihrer Wohnung greift Zhao spontan nach dem Buch, in dem jene Briefe versammelt sind. Da ist Beth erst wenige Wochen in Schanghai. Sie hat kurzfristig einen Konsulatsposten dort angenommen, um aus ihrer zerbrechenden Ehe zu flüchten, denn bei den Auseinandersetzungen über unterschiedliche Wertvorstellungen, die das Paar auseinandertreiben, steht sie auf ungleich dünnerem Boden als ihr Mann. Dieser ist ein Anwalt, hinter dessen Brillanz und Witz sich ein unbeugsames Rechtsempfinden verbirgt, das 'weder vermeintliche Schwächen noch moralische Schwankungen' duldet. Beth dagegen setzt auf Unauffälligkeit, auf 'stillen Fleiß' und Toleranz - auch gegenüber der Korruption, die sich im Post-Apartheid-Staat auszubreiten beginnt, bis sie sich "wie eine Fettschicht über unsere Ministerien und offenbar über alles in diesem Land" legt. Diese moralische Flexibilität ist nicht ihrer Arbeit im diplomatischen Dienst geschuldet, sondern Selbstschutz. Denn Beth trägt eine Gewissenslast, mit der sie nie wirklich ins Reine gekommen ist."

Außerdem: In der Zeit erzählt David Hugendick von seiner Begegnung mit John Irving. Für das SZ-Magazin hat Lars Reichardt mit dem Schriftsteller gesprochen, der mit "Der letzte Sessellift" Ende des Monats seinen neuen Roman veröffentlicht. Besprochen werden unter anderem Kim Koplins Thriller "Die Guten und die Toten" (Freitag), Kenneth Fearings erstmals auf Deutsch vorliegender Noir-Klassiker "Die große Uhr" aus dem Jahr 1946 (SZ), der von Sebastian Köthe herausgegebene Band "Gedichte aus Guantánamo" (Tsp), Monika Neuns "Und dann verschwinden" (NZZ) sowie Marc Eacersalls und Sylvain Vallées Roadcomic "Antananarivo" (Tsp).
Archiv: Literatur

Kunst

Paul Klee, Fenster und Palmen, 1914, 59, Kunsthaus Zürich, Grafische Sammlung 1930


Offenbarungscharakter hatte eine Tunesienreise für Paul Klee, lernt NZZ-Kritiker Philipp Meier in der Ausstellung "Re-Orientations. Europa und die islamischen Künste" im Kunsthaus Zürich. Für den Künstler, der sich zuvor als Grafiker begriffen hatte, wirkte "das Fremde als Geburtshelfer der Avantgarde", das die Transformation hin zum Maler von geometrisch-abstrakten Bildern ermöglicht, die den Orient auch als Projektionsfläche romantischer Fantasien nutzen, wie sich aus postkolonialer Perspektive kritisieren ließe. Eine Kritik, die auch auf andere ausgestellte Künstler wie Ingres oder Gérôme übertragen werden könnte, überlegt Meier: Deren Malerei "vereint die Wertschätzung für islamische Künste und die künstlerische Auseinandersetzung mit diesen. Diese Bewunderung war allerdings häufig auch oberflächlich und fand oft außerhalb jeglicher Kontextualisierung statt. Aus heutiger Sicht könnte man wohl in vielen Fällen von kultureller Aneignung sprechen. Die Schau im Kunsthaus ist dennoch eine Feier europäischer Islamophilie in der bildenden wie angewandten Kunst." Besonders freut sich der Kritiker darüber, dass es mit Henriette Brown auch eine weibliche Perspektive auf das Thema gibt, die er "weit nuancierter als die kitschverdächtigen Visionen" ihrer männlichen Kollegen findet.

Sherry Levine, Meltdown, 1989. Foto: Moma, New York


"Schon wieder Piet Mondrian?", fragt sich Bettina Brosowsky in der taz angesichts einer weiteren Ausstellung zu dem Niederländer im Kunstmuseum Wolfsburg. Aber dann hat's ihr doch gefallen. Denn anders als der Name 'Re-Inventing Piet' verspricht, werde zwar das mondriansche Rad nicht neu erfunden, aber die Wirkung seiner neoplastizistischen Kunst auf die Populärkultur bis heute nachgezeichnet: "Ihn interessierte die Überwindung der Illusionskunst Malerei. Sie soll kein Abbild mehr liefern, nicht eine dreidimensionale Realität in die zweidimensionale Fläche überführen. Die Malerei wird autonom, konkret, findet ihre eigenen Gesetze. Für Mondrian bedeutete dies die Selbstbeschränkung auf die Grundkoordinaten der Welt, den rechten Winkel." Ganze Genealogien von Künstlern haben darauf Bezug genommen, so Brosowsky: "Eines der aktuellsten unter den rund 150 in Wolfsburg gezeigten Artefakten ist von Kathryn Sowinski. Ihre kleine Zeichnung ist eine Reprise von Sherrie Levines Druckgrafiken, mit denen sich Levine ihrerseits in den 1980er Jahren Mondrians bekannte Kompositionen aneignete. Sowinskis Titel: 'After Sherrie Levine, After Piet Mondrian II'."

Weiteres: Hat ein Künstler das Recht, seine Werke auf ewig ausgestellt zu sehen, fragt sich Marlene Grunert in der FAZ angesichts eines Streits um ein Wandgemälde in der Vermont Law and Graduate School, das abgehängt werden soll, weil es rassistische Stereotype zeigt, die es kritisiert. Von der Urheberrechtsfrage mal abgesehen, erinnert sie daran, "dass Thematisierung nicht Affirmation bedeutet". Alexandra Wach (Monopol) lässt sich in der Prager Kunsthalle mit den Fotografien von Peter Hujar und Nan Goldin in 'Bohemia. History of an idea. 1950-2000' auf Überlegungen zum wilden ärmlichen und doch freizügigen Leben der Bohème ein, deren Ära für sie trotz Digitalisierung und Cyberspaces längst noch nicht beendet ist. Besprochen wird Fabrice Hyberts Ausstellung "La Vallée" in der Pariser Fondation Cartier (Tsp).
Archiv: Kunst

Bühne

Olivia Giovetti hat für das Van Magazin ein Ranking der "besonders befriedigenden Bühnen-Tode" erstellt. Die Autorentheatertage in Berlin werden weitergeführt, obwohl ihr Gründer Ulrich Khuon als Intendant des Deutschen Theaters zum Sommer aufhört, atmet die Berliner Zeitung auf. Besprochen wird Trajal Harrells Choreografie "The Romeo" in Zürich (monopol).
Archiv: Bühne

Design

Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an

Ein Beitrag geteilt von Mary Quant (@maryquant_europe)


Die Modedesignerin Mary Quant ist im gesegneten Alter von 93 Jahren gestorben. Generationen junger Frauen verdanken auch Quant mit dem Minirock den modischen Ausdruck ihrer rebellischen Unangepasstheit, schreibt Kathleen Hildebrand in ihrem SZ-Nachruf. "Wenn heute jeder bei den Worten 'London' und 'Sixties' sofort Bilder von knallbunten Kleidchen und von androgynen jungen Frauen mit Baskenmütze vor sich sieht, wie das Model Twiggy eine war", dann ist das auch Quants Verdienst. Diese hatte einfach "ein irres Gespür für das hatte, was in der Londoner Luft lag. Und bald nicht mehr nur dort: 1965 folgten die Minikleider mit Mondrian-Print von Yves Saint Laurent, die Rocklängen waren schon seit Beginn der Fünfzigerjahre überall immer kürzer geworden. Manchmal braucht es eben Menschen, die ihrem inneren Seismografen vertrauen, damit ein welterschütternder Trend entsteht. ... Quant sagte selbst, dass es nicht sie war, die den Minirock erfand, sondern: 'Es waren die Mädchen in der King's Road'", während sie selbst nur Kleidung anbot, deren Länge die Käuferinnen selbst bestimmen konnten.
Archiv: Design
Stichwörter: Quant, Mary, Mode, Instagram, 1960er

Film

Da kommt was auf uns zu: "Asteroid City" von Wes Anderson läuft ebenfalls in Cannes

Cannes hat seinen Wettbewerb bekannt gegeben - und wenn man die letzten Jahre schon dachte, dass das Filmfestival unmöglich noch mehr große Namen in einen Jahrgang packen kann, setzt es in diesem Jahr sogar noch einen drauf: Daniel Kothenschultes "cinephile Erwartungen" sind jedenfalls "gekitzelt", gesteht der Kritiker in der FR. Die Croisette bleibt auch weiterhin "das globale Zentrum der Filmkunstwelt", staunt Tobias Kniebe in der SZ. Aber was läuft? Neue Filme von unter anderem diesen: "Wenders. McQueen. Kitano. Kaurismäki. Anderson. Kore-eda. Moretti. Bellocchio. Haynes. Loach. Almodovar" und der neue Scorsese läuft außer Konkurrenz - bei diesem "Überfluss", dem sich dann noch Heerscharen Stars von vor der Kamera anschließen, muss sich Welt-Kritiker Hanns-Georg Rodek erst einmal hinsetzen, damit es ihn nicht umwirft. Nur neue Impulse vermisst er: Viele dieser Meister sind - "das bringen Meisterschaft und Bekanntheitsgrad mit sich - bereits in ihren Siebzigern oder Achtzigern. Unter den 19 Wettbewerbsregisseuren gibt es nur zwei Cannes-Neulinge, die Tunesierin Kaouther Ben Hania und die Senegalesin Ramata-Toulaye Sy. Es gibt, um diese Abfragen auch gleich zu erledigen, sechs Frauen im Wettbewerb, einen Film aus dem Iran und keinen aus der Ukraine oder Russland."

Ob es an Iris Knobloch, der neuen Präsidentin des Festivals, liegt, dass das deutsche Kino in Cannes in diesem Jahr zumindest ein klein wenig präsenter ist? Neben Wenders' "Perfect Days" läuft jedenfalls noch ein Dokumentarfilm von Wang Bing über Anselm Kiefer an der Croisette und die Schauspielerin Sandra Hüller tritt in gleich zwei Wettbewerbsfilmen auf, schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel, dem ein frischer Wind allerdings auch ziemlich auffällig fehlt: Zwar sind in diesem Jahr erneut zwei Blockbuster im Programm, doch "möchte man daraus eine neue Politik von Thierry Frémaux ableiten, dann die, dass Hollywood in Cannes, wie schon im Vorjahr mit 'Top Gun' und 'Elvis', nur noch für den Glamour gebraucht wird, während der Autorenfilmer Todd Haynes im Wettbewerb läuft. Und Netflix weiter außen vor bleibt. Ob man so aber 2023 ein Filmfestival modernisiert?"

Außerdem: Torsten Groß (ZeitOnline) und Andreas Busche (Tsp) berichten von Quentin Tarantinos Berliner Lesung aus seinem Buch "Cinema Speculation". In der NZZ gratuliert Andreas Scheiner Netflix - der Streamer hat ja bekanntlich als DVD-Versand begonnen - zum 25-jährigen Bestehen.

Besprochen werden Léa Mysius' "The Five Devils" (Artechock, unsere Kritik), Patricio Guzmáns Dokumentarfilm "Mi país imaginario - Das Land meiner Träume" über politische Aufstände in Chile (Jungle World, taz), Emily Atefs "Irgendwann werden wir uns alles erzählen" (Artechock), Makoto Schinkais Animationsfilm "Suzume" (Artechock, critic.de, mehr dazu hier), Adrian Goigingers "Der Fuchs" (Artechock), Axel Ross Perrys auf Mubi gezeigter "Queen of Earth" (critic.de), Elizabeth Banks' "Cocaine Bear" (ZeitOnline, unsere Kritik), Amina Handkes "Mein Satz", eine Verfilmung des Stücks "Kaspar" ihres Vaters (Standard), Martin Bourboulons Neuauflage von "Die drei Musketiere" (Standard, Presse), die Netflix-Serie "Beef" (Freitag), die ZDFneo-Serie "I don't work here" (taz) und eine Ausstellung in der Kleinen Olympiahalle München über 100 Jahre Disney (Welt).
Archiv: Film

Musik

Arno Lücker spricht für das VAN-Magazin mit der französischen Mäzenatin Nicole Bru, die in Venedig 2006 ein Palazzetto aufgekauft hat, wo seit einer Sanierung Konzerte stattfinden und editorische Grundlagenarbeit geleistet wird, um in Vergessenheit geratene Komponistinnen wieder in Erinnerung zu rufen und deren Arbeit in CD-Ausgaben zugänglich zu machen. Dazu braucht es mitunter viel Muskelschmalz und Hartnäckigkeit: "Das große Problem, das es noch immer gibt, sind die Noten beziehungsweise die Art und Weise, wie die Noten von manchen Werken vieler Komponistinnen überliefert sind. Zum einen sind einige Notenausgaben einfach extrem schwer aufzutreiben - oder sie sind sehr teuer. Die Noten der beiden Violinsonaten von Louis Farrenc (op. 37 und op. 39) kosten 200 Euro! Also will das kaum jemand spielen. Entweder ist die Musik von Komponistinnen gar nicht verlegt oder sie ist schwer zu finden - oder die Ausgaben kosten Wucherpreise. Und ein vierter - vielleicht besonders fataler - Aspekt kommt noch hinzu: Denn viele Ausgaben von Komponistinnen-Werken auf dem Markt sind einfach schlecht. Und wenn Notenausgaben dilettantisch aufbereitet sind, dann wirkt es auf manche Musikerinnen und Musiker so, als wäre das schlechte Musik." Dazu passend widmet sich widmet sich Arno Lücker in seiner VAN-Reihe über Komponistinnen in dieser Woche hier Ethel Smyth und dort Ann Mounsey.

Außerdem: Jan Wiele erzählt in der FAZ von seiner Begegnung mit der Singer-Songwriterin Feist. Wendelin Bitzan umkreist in einem VAN-Essay Leben und Schaffen des russischen Komponisten und Pianisten Aleksandr Nikolajewitsch Skrjabin, der auf Folklore nichts gab und im Schweizer Exil an seiner kosmopolitischen Musik arbeitete. In der FAZ sorgt sich Jan Brachmann um den Fortbestand des Kinder- und Jugendchors Cantus Juvenum Karlsruhe. Julian Weber schreibt in der taz zum Tod des Dubreggaeproduzenten Jah Shaka.

Besprochen werden ein Auftritt des Schlagzeugers Martin Grubinger beim Heidelberger Frühling (Welt), ein Konzert und ein neues Album des Flötisten Emmanuel Pahud (NZZ), das neue Metallica-Album "72 Seasons" (Standard, mehr dazu bereits hier) und die Benefiz-Compilation "Hope for Her Future" zugunsten von Mädchen in Afghanistan (taz). Wir hören rein:

Archiv: Musik